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Wahlbeobachterin über Türkei-Wahl 2023: "Es wird friedlich bleiben"

Interview

Wahlbeobachterin in der Türkei: "Es wird friedlich bleiben"

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    SPD-Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur.
    SPD-Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur. Foto: Selin Jasmin

    Frau Türk-Nachbaur, bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei hat der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan überraschend stark abgeschnitten und liegt nach dem ersten Wahlgang vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu. Wie erklären Sie sich die Stärke Erdogans?

    Vor der Wahl in der Türkei war viel von Mauscheleien die Rede, doch die Stimmabgabe lief wohl korrekt. Präsident Recep Tayyip Erdogan im Wahlokal.
    Vor der Wahl in der Türkei war viel von Mauscheleien die Rede, doch die Stimmabgabe lief wohl korrekt. Präsident Recep Tayyip Erdogan im Wahlokal. Foto: Umit Bektas, dpa

    Derya Türk-Nachbaur: Bevor ich auf die Frage antworte, muss ich meinen Hut als Wahlbeobachterin abnehmen und spreche zu Ihnen als Sozialdemokratin und Mitglied des Bundestages. Die Opposition ist weit hinter den Erwartungen geblieben, die sie sich selbst gesteckt hat. Die hohen Umfragewerte haben vielleicht ein bisschen irritiert und man hat sich vielleicht zu sicher gefühlt. Von daher war die Überraschung bei einigen Oppositionellen sehr groß, dass Erdogan vorne liegt. Festzuhalten ist aber, dass niemand gewonnen hat. Es geht in die zweite Runde.

    Wer von den beiden hat die besseren Karten?

    Türk-Nachbaur: Die Ausgangslage ist natürlich ein bisschen komfortabler für Erdogan. Jetzt geht es darum, dass beide Lager ihre Wählerinnen und Wähler nochmals mobilisieren. Ganz spannend wird, wie sich die Wähler des dritten Kandidaten, Sinan Ogan, verhalten, der in der ersten Runde 5,2 Prozent der Stimmen geholt hat. Das sind zwei Millionen Wählerinnen und Wähler. 

    Ogan ist der Kandidat der Ultranationalisten. Seine Unterstützer stehen weltanschaulich wohl eher Erdogan nahe?

    Türk-Nachbaur: Das wäre eine zu einfache Ableitung. Ogans Bündnis versteht sich als Hüter des Säkularismus, also der Trennung von Staat und Religion. Das ist nicht die Linie von Erdogans Partei, der AKP. 

    Kommen wir zum Wahltag. Wenn Sie darauf zurückschauen, und auch auf den Wahlkampf davor, würden Sie dann sagen, diese Wahl war fair und demokratisch?

    Türk-Nachbaur: Jetzt setze ich wieder den Hut der Wahlbeobachterin auf. Kollegen von mir beobachten den Wahlkampf schon länger und sehen deshalb die Wahl nicht als fair an. Präsident Erdogan hatte eine ganz andere Medienpräsenz als sein Herausforderer. Ich habe Zahlen gesehen, wonach er in den 40 Tagen vor der Wahl auf insgesamt 40 Stunden Präsenz in den staatlichen Medien gekommen ist. Sein Konkurrent Kilicdaroglu kam auf 32 Minuten. Von Fairness kann da keine Rede sein. 

    Wie verlief der Wahltag?

    Türk-Nachbaur: Der Wahltag ist sehr geordnet und sehr transparent abgelaufen. 

    Können Sie ein Beispiel schildern? Sie waren ja als Wahlbeobachterin direkt dabei.

    Türk-Nachbaur: Ich hatte eine Liste mit vielen Wahllokalen in und um Ankara. Ich habe mir einige angeschaut und bin auch in die Vororte gefahren, um zu sehen, wie es dort läuft. Am Morgen war ich beeindruckt, dass sich schon Schlangen vor den Lokalen gebildet hatten. Die Menschen wollten unbedingt ihre Stimmen abgeben. Es ging aber trotz der Anspannung sehr geordnet zu. Wir waren später auch bei der Auszählung der Stimmen in einem der Wahllokale dabei. 

    Wie muss man sich das vorstellen?

    Türk-Nachbaur: Die Auszählung ist öffentlich, da kann jede Bürgerin, jeder Bürger dabei zusehen. Da bildeten sich große Gruppen vor dem Wahllokal. Die Menschen wollten die Ergebnisse ganz direkt und klar verkündet sehen. Wir haben im Nachhinein gehört, dass es in dem einen oder anderen Wahllokal, wo der Oppositionsführer klar in Führung war, viele Einsprüche gegeben hat vonseiten der AKP. Erdogans Parteifreunde beantragten die Neuauszählung, was dazu geführt hat, dass die Ergebnisse spät übermittelt wurden. Einige Lokale haben sechs-, acht- oder sogar zehnmal ausgezählt. Das hat dann zu Verzögerungen geführt, die am Wahlsonntag für Unruhe gesorgt haben.

    Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP-Partei und Präsidentschaftskandidat der Nationalen Allianz, will Erdogan nach 20 Jahren die Macht abnehmen.
    Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP-Partei und Präsidentschaftskandidat der Nationalen Allianz, will Erdogan nach 20 Jahren die Macht abnehmen. Foto: Ali Unal, AP, dpa

    Vor der Wahl gab es die Sorge, dass die Abstimmung für die Menschen in der südlichen Türkei schwierig werden könnte, wo die Erde vor drei Monaten so schwer gebebt hat. Konnten die Menschen dort ihre Stimme abgeben?

    Türk-Nachbaur: Ja, die konnten sie abgeben. Man hat Container aufgestellt und was ich von den Kollegen dort gehört habe, lief die Abstimmung auch ganz okay. Die Möglichkeit zu wählen bestand, und es sind tatsächlich viele, die nach dem Erdbeben woanders untergekommen sind, in ihre Heimat zurückgekehrt, um ihre Stimme abzugeben. 

    Frau Türk-Nachbaur, die Türkei ist Ihre zweite Heimat, Sie sprechen Türkisch und haben Familie dort. Wie ist Ihr Gefühl für die Stichwahl in zwei Wochen?

    Türk-Nachbaur: Ich gehe davon aus, dass es friedlich bleiben wird. Ich bin beeindruckt, wie friedlich das auch am Wahlabend hier war – entgegen aller Befürchtung. Ich habe den Eindruck, dass beide Lager verstanden haben, dass es jetzt darum geht, Ruhe zu bewahren und die Menschen durch Ruhe und Souveränität durch diese zwei Wochen zu führen. Allerdings denke ich auch, dass der Ton auf der politischen Bühne schärfer werden wird. Es geht jetzt darum, eben diese zweieinhalb Millionen Stimmen für sich zu gewinnen, die die dritte Partei eingeheimst hat. 

    Zur Person: Derya Türk-Nachbaur wuchs in Ostwestfalen als Kind einer Gastarbeiterfamilie aus der Türkei auf. Sie begann ein geisteswissenschaftliches Studium in Marburg, das sie ohne Abschluss beendete. Danach arbeitete sie in der Kulturredaktion einer türkischen Zeitung. Die 50-Jährige ist ein Neuling im Bundestag, zog 2021 für die SPD in das Parlament ein. Ihr Wahlkreis liegt im Schwarzwald. Zu ihrer Familie in der Südtürkei pflegt sie engen Kontakt. 

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