Frau Lambrecht, zuletzt haben wir Sie als Justizministerin gesprochen, damals hatten wir den Eindruck, Sie würden Ihre politische Karriere auslaufen lassen. Jetzt stehen Sie als Verteidigungsministerin einem grausamen russischen Angriffskrieg in einem europäischen Land gegenüber. Bereuen Sie Ihren Entschluss, weiterzumachen?
Christine Lambrecht: 23 Jahre Abgeordnete, das bedeutet auch 23 Jahre Pendeln zwischen Wahlkreis und Berlin. Nur dagegen habe ich mich entschieden. Aber ich bin und bleibe ein politischer Mensch und natürlich ist das ein großer Vertrauensbeweis, wenn der Kanzler fragt, ob man gerade dieses Ressort übernehmen möchte. Und nein, ich habe es nicht bereut. Ich habe ein Ministerium übernommen, in dem man unglaublich viel bewegen kann und auch bewegen muss und genau das will ich tun.
Sie haben vor allem eine Bundeswehr übernommen, die marode ist. Nach dem Ukraine-Schock wurden 100 Milliarden Euro für die Erneuerung bereitgestellt. Reicht das überhaupt?
Lambrecht: Diese Summe hört sich sehr groß an und es ist auch sehr viel Geld. Aber die 100 Milliarden Sondervermögen sind keine willkürlich gewählte Zahl. Wenn man sich anschaut, was kurzfristig und in den nächsten Jahren an Ausrüstung, an Modernisierung notwendig ist, dann ist das genau die Summe, die wir brauchen. Zusammen mit den gut 50 Milliarden Euro, die im regulären Haushalt zur Verfügung stehen, können wir unsere Verpflichtungen dann endlich so umsetzen, wie es erforderlich ist – vor allem bei der Landes- und Bündnisverteidigung.
Was ist denn der Leitgedanke bei diesem Umbau der Bundeswehr? Von welcher Bedrohungslage gehen Sie aus?
Lambrecht: Putins brutaler Angriffskrieg ist eine Zäsur. Sie zwingt uns dazu, sehr schnell die neue Bedrohungslage zu analysieren. Auf was müssen wir uns einstellen und wie müssen wir dann darauf reagieren? Dazu gibt es natürlich längst bekannte Herausforderungen. Ich brauche keine lange Erkundung um zu wissen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten nicht so ausgerüstet sind, wie es erforderlich ist. Das darf nicht mehr sein. Wir brauchen die Vollausstattung für die ganze Truppe, etwa bei der persönlichen Ausstattung. Genau das haben wir gerade gemeinsam mit dem Haushaltsausschuss beschlossen. 2,4 Millarden für Gefechtshelme, Schutzwesten, Kampfbekleidung und Rucksäcke. Das ist ein starkes Signal. Der Begriff Zeitenwende wird jetzt mit Leben erfüllt.
Wie soll die Verteidigung im europäischen Rahmen künftig aussehen, welche Rolle sehen Sie da für Deutschland?
Lambrecht: Wir müssen schnell sein und uns wechselseitig unterstützen können. Deswegen gibt es ja schon auf Nato-Seite eine schnelle Eingreiftruppe und so etwas ist nun auch für die europäische Ebene beschlossen. Wir bringen uns bei beiden mit bedeutenden Beiträgen ein und werden in der Nato wie auch der EU weiterhin eine wichtige Rolle spielen.
Wäre der nächste Schritt dann eine europäische Armee?
Lambrecht: Die Frage ist, was man unter einer europäischen Armee versteht. Mit der EU-Eingreiftruppe können wir schnell und kraftvoll reagieren. Darauf kommt es an, nicht etwa parallele Strukturen zu schaffen.
Der Bundeswehr fehlt es auch am Personal. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs gibt es unterschiedliche Nachrichten, von Bundeswehrangehörigen, die nachträglich den Kriegsdienst verweigern, aber auch von einem gestiegenen Interesse an der Truppe. Welche Seite überwiegt?
Lambrecht: Wir erleben, dass die Bedeutung der Bundeswehr, ihre Kernaufgabe, die Landes- und Bündnisverteidigung, viel mehr in den Fokus der Gesellschaft gerückt ist. Dass die Bundesregierung für diese Kernaufgabe das nötige Geld zur Verfügung stellt, drückt den Respekt vor dieser Aufgabe und den Soldatinnen und Soldaten aus. Da verwundert es nicht, dass sich jetzt verstärkt Menschen für die Bundeswehr interessieren.
Nato-Generalsekretär Stoltenberg hat von den Mitgliedern mehr Waffenlieferungen an die Ukraine gefordert. Fühlen Sie sich da angesprochen?
Lambrecht: Selbstverständlich sind wir alle gefordert, die Ukraine in ihrem mutigen Kampf zu unterstützen. Bei Lieferungen aus den Beständen der Bundeswehr, das muss ich ehrlich sagen, sind wir aber inzwischen an eine Grenze gekommen. Denn die Truppe muss weiter in der Lage sein, die Landes- und Bündnisverteidigung zu gewährleisten. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht noch mehr für die Ukraine tun können. Deshalb haben wir ja auch geklärt, was die Industrie direkt liefern könnte. Hierzu stimmen wir uns fortwährend mit der Ukraine ab.
Um welche Waffen geht es konkret?
Lambrecht: Es gibt gute Gründe, dass wir genau diese Informationen als geheim eingestuft haben. Entgegen anderen Darstellungen haben wir das auf eine ausdrückliche Bitte der Ukraine hin getan. Dazu gibt es klare Aussagen meines ukrainischen Amtskollegen, seiner Stellvertreterin und des Militärattachés. An diese Vorgaben halten wir uns natürlich. Man muss immer bedenken: In dem Moment, wo die Lieferungen en detail veröffentlicht würden, hätte auch Russland diese Informationen. Und das allein hätte schon militärstrategische Auswirkungen.
Viele Menschen im Land treibt die Sorge um, dass Putin mit jeder aus dem Westen gelieferten Waffe aggressiver wird und er den Krieg auf andere Gebiete ausdehnt. Auch auf Europa. Ist das eine Sorge, die Sie nachvollziehen können?
Lambrecht: Ich kann die Sorge sehr gut verstehen. Und deswegen ist es auch so wichtig, dass wir in diesen schwierigen und schrecklichen Zeiten sehr besonnen und mit kühlem Kopf agieren. Es kommt darauf an, sich immer wieder abzustimmen, in Nato und EU, und dann auch die Konsequenzen unseres Handelns zu bedenken. Wir sind uns mit unseren Alliierten einig, dass wir auf keinen Fall Kriegspartei werden dürfen.
Es wird da sicherlich unterschiedliche Bedrohungslagen und Einschätzungen geben?
Lambrecht: Wenn ich mit Verbündeten an der Ostflanke rede, beispielsweise in Litauen, oder aber mit meinem slowakischen oder rumänischen Kollegen, dann spüre ich die große Sorge. Diese Länder liegen nah an Russland und befürchten, dass der Krieg auf Nato-Gebiet übergreift. Genau da liegt unsere Verantwortung: Die Ukraine in ihrem Kampf zu unterstützen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass es keinen Flächenbrand in Europa gibt.
Der Ukraine-Krieg hat eine Debatte darüber ausgelöst, wie sich Deutschland besser verteidigen kann. Bekommt Deutschland einen Raketenschild?
Lambrecht: Bei der Bedrohung aus der Luft gilt es, verschiedene Optionen zu prüfen. Wir haben in der Bundeswehr, um mal ein Beispiel zu nennen, das Flugabwehrraketensystem Patriot. Das israelische System Arrow 3 könnte eine sinnvolle Ergänzung sein. Entscheidungen dazu gibt es aber noch nicht. Die treffen wir, wenn wir genau wissen, was wir brauchen und was schnell lieferbar ist.
Sie haben vorhin das Stichwort nukleare Teilhabe genannt. Ist es denkbar, dass wir uns eigene Atomwaffen anschaffen?
Lambrecht: Wir haben uns in der Koalition dazu verpflichtet, dass wir die nukleare Teilhabe im Bündnis gewährleisten. Und deswegen ist die Regelung der Tornado-Nachfolge auch so wichtig gewesen. Wir stellen Flugzeuge, aber keine eigenen Atomwaffen im Bündnis zur Verfügung.
In der SPD gab es mit Blick auf die in Deutschland gelagerten Atomwaffen jahrelang starke Vorbehalte. Auch gegen die Bewaffnung von Drohnen, die gerade im Parlament beschlossen wurde. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Gefühlslage in Ihrer Partei ein?
Lambrecht: Die nukleare Teilhabe ist im Koalitionsvertrag klar vereinbart worden, ebenso wie die Bewaffnung von Drohnen. Die Diskussion darüber wurde intensiv geführt in unserer Partei, und das war gut. Ebenso, dass jetzt Entscheidungen getroffen werden.
Wir rüsten also wieder auf in Deutschland?
Lambrecht: Es geht um dringend notwendige Ausrüstung, nicht um Aufrüstung. Dennoch dürfen wir auch in solchen Zeiten das langfristige Ziel von Abrüstung insgesamt nicht aus den Augen verlieren. Und das werden wir nicht. Für uns als SPD ist es wichtig, dass wir immer auch Friedensmacht sein wollen.
Sie besuchen die Bundeswehr in Mali. Wie steht es um die Einsätze dort?
Lambrecht: Wir müssen bis Ende Mai die Entscheidung treffen, wie es mit den beiden Mandaten weitergeht. Bei der europäischen Mission EUTM bilden wir malisches Militär aus – aber jetzt hat sich die Lage verändert. Das Regime hält seine Zusagen nicht ein, hat beispielsweise die versprochenen Wahlen auf Jahre hinaus verschoben. Und es gibt Anzeichen, dass die von uns ausgebildeten Soldaten zusammen mit russischen Söldnern der Wagner-Gruppe kämpfen. Wollen wir das? Ist es das, wozu wir Soldaten ausbilden? Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich würde diese Fragen eher mit Nein beantworten. Deswegen sehe ich auch kaum eine Zukunft für ein weiteres Engagement bei EUTM.
Wie bewerten Sie die zweite Mission, die UN-Mission MIinusma
Lambrecht: Wir sind dort mit der Aufklärung betraut und leisten einen ganz hochgeschätzten Beitrag. Frankreich allerdings will sich aus Mali zurückziehen, und damit fällt der Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten durch französische Kampfhubschrauber weg. Wir müssen wissen, ob der französische Beitrag von einer anderen Nation erbracht werden kann. Dazu führe ich gerade viele Gespräche. Bislang gab es da nur Absagen, wir versuchen es weiter. Aber wenn der Schutz unserer Truppe aus der Luft nicht gewährleistet werden kann, dann kann ich auch einen Einsatz dort nicht verantworten.
Sie sind ausgebildete Juristin. Hat sich in Ihrem Kopf schon so eine Art Anklage gegen Wladimir Putin geformt?
Lambrecht: Es ist offensichtlich, dass in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen wurden. Sie werden und wurden begangen, weil das gesamte System Putin diese zumindest billigend in Kauf genommen hat. Und deswegen ist es wichtig, dass jeder einzelne Beteiligte weiß: Es wird alles getan, damit die entsprechenden Strafen verhängt werden können. Gegen jeden, der beteiligt war, nicht nur gegen Wladimir Putin.
Zur Person: Christine Lambrecht, 56, ist Juristin. Die gebürtige Mannheimerin war im Kabinett Merkel bereits Sozial- und später Familienministerin. Seit Dezember 2021 ist die SPD-Politikerin Bundesverteidigungsministerin.