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Interview: Verteidigungsexperte: "Deutschland steht bei der Abwehr blank da"

Interview

Verteidigungsexperte: "Deutschland steht bei der Abwehr blank da"

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    Das Bundesabwehrsystem Patriot stammt aus den siebziger Jahren und bietet keinen Schutz gegen moderne russische Mittelstreckenraketen.
    Das Bundesabwehrsystem Patriot stammt aus den siebziger Jahren und bietet keinen Schutz gegen moderne russische Mittelstreckenraketen. Foto: Jens Büttner, dpa (Symbolbild)

    Herr Hahn, Sie haben mit der Forderung nach dem Raketenabwehrsystem Iron Dome als Schutz für Berlin eine bundesweite Diskussion entfacht. Nun erwägt der Bund das noch weitreichenderes System Arrow aus Israel anzuschaffen. Sind Sie zufrieden?

    Florian Hahn: Wir setzen uns schon seit Jahren dafür ein, die deutsche Luftverteidigung und Raketenabwehr zu verbessern. Dabei geht es zum Beispiel um das bodengestützte mobile Flugabwehrraketensystem Meads, eine amerikanisch-deutsche Entwicklung, die das in die Jahre gekommene Luftverteidigungssystem Patriot teilweise ablösen könnte. Die Forderung nach einer Anschaffung des Raketenschutzschild-Systems Iron Dome für Berlin sollte noch einmal aufmerksam darauf machen, dass Deutschland an dieser Stelle blank dasteht und gegen eine Bedrohung von außen nicht geschützt ist. Es ist gut, dass wir nun konkret über die Anschaffung israelischer Luftverteidigungssysteme diskutieren.

    Dabei geht es vor allem um das Abwehrsystem Arrow 3: Hyperschallraketen, die andere Raketen in einer Entfernung von über 2000 Kilometer abfangen und vom Himmel holen können. Was würde so ein System für die Bundeswehr bringen?

    Hahn: Eine Anschaffung des israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3 mit seiner großen Reichweite könnte ein großer Beitrag Deutschlands im Nato-Bündnis sein, um auch andere europäische Länder vor der Bedrohung durch weitreichende Raketen und Flugkörper als auch vor einer nuklearen Bedrohung zu schützen. Das sind Raketen, die andere Raketen in der Luft bekämpfen. Russland besitzt schätzungsweise 850 Mittelstreckenraketen vom Typ SS 26, genannt Iskander.

    Die Bundeswehr hat nicht nur bei der Luftverteidigung, sondern in der gesamten Landesverteidigung eklatante Schwächen. Wo sehen Sie momentan die größten Defizite?

    Hahn: Es ist mir sehr wichtig zu sagen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten hervorragend ausgebildet sind und aktuell einen hervorragenden Job machen. Davon kann man sich bei den Auslandseinsätzen täglich überzeugen. Das große Problem ist, dass wir in Deutschland in den vergangenen 20 Jahre zu viel gespart haben, um ausreichend Verteidigungssysteme auf dem modernsten Stand zu beschaffen, die den aktuellen Bedrohungen gerecht werden. Das gilt nicht nur für die Luftverteidigung, sondern selbst für funktionsfähige Fahrzeuge für das Heer, vom Panzer bis zum Transporter. Und für die vorhandenen Systeme fehlen ausreichend Ersatzteile und Munition. Zudem haben wir in allen Teilstreitkräften und Organisationsbereichen keine materielle Vollausstattung mit Gerät; das muss sich schnellstens ändern. Luftverteidigung,

    Die geplanten Investitionen von 100 Milliarden Euro klingen nach sehr viel Geld. Oder verschwindet das schnell ein in paar Großprojekten?

    Hahn: In meinen Augen wäre viel wichtiger als die 100 Milliarden Euro, wenn man wirklich garantieren würde, dass Deutschland jedes Jahr zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Bundeswehr und damit die Sicherheit des Landes ausgibt. Das ist entscheidender, als kurzfristig und begrenzt 100 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Denn wenn das Geld verbraucht ist, droht der Bundeswehr dieselbe Unterfinanzierung, wie zuvor.

    War die gewaltige Abrüstung der Bundeswehr eine immense Kapitalvernichtung? Deutschland hat von einst weit über 2000 Leopard-2-Panzern der Bundeswehr bis auf unter einen Rest von 330 alle ins Ausland verkauft. Selbst die Türkei hat heute mehr fahrtüchtige Ex-Bundeswehr-Leopard als Deutschland ...

    Hahn: Von den Leopard der Bundeswehr sind derzeit keine 280 einsatzbereit. Aber der Fehler ist nicht der Verkauf von altem Material, der Fehler ist, altes Material zu verkaufen, ohne in neues modernes Material zu investieren. Entscheidend ist, dass ein Aggressor, wie in der gegenwärtigen Situation der russische Präsident Wladimir Putin, wissen muss, dass er bei jeder Eskalation mit einer entsprechenden Gegenreaktion rechnen muss. Deswegen brauchen wir für alle denkbaren Szenarien Antworten oder Antwortmöglichkeiten. Die Haltung „es wird schon nichts passieren“ darf sich nicht noch einmal in der Vernachlässigung unserer Sicherheitsvorsorge in Form von einsatzbereiten Streitkräften wiederholen.

    Funktioniert hier das Prinzip der Abschreckung noch?

    Hahn: Die atomare Abschreckung funktioniert. Aber das damit verbundene Problem ist, dass man bei einseitiger konventioneller Abrüstung in der Eskalationslogik eben sehr schnell an diesen Punkt angelangt: Wenn bei einem Konflikt wie in der Ukraine fast in einem Tag die Luftverteidigung ausgeschaltet würde, ginge die Eskalation sofort in die höchste Stufe eines nuklearen Konflikts als einzige Antwort über, ohne dass es noch Zwischenschritte gäbe. Wenn man nicht angepasst auf einzelne Eskalationsstufen reagieren kann, dreht sich die Eskalationsspirale extrem schnell in die Höhe.

    Wie müsste aus Sicht der Union die Bundeswehr der Zukunft aussehen?

    Hahn: Eine Bundeswehr der Zukunft ist als Berufsarmee mit den Menschen, die sie hat, definitiv machbar. Wichtig ist, dass die Bundeswehr in ihrer Struktur schneller und flexibler wird. Wir müssen zum Beispiel schneller bei der Verlegung von Verbänden an die Ostflanke der Nato werden. Wir müssen die militärische Durchhaltefähigkeit deutlich erhöhen. Das heißt zum Beispiel: Ein Kampfpanzer nützt wenig, wenn er nur für ein paar Stunden Munition hat. Und wir müssen in vielen Bereichen moderner werden, das gilt auch für die elektronische Kriegsführung.

    Rüstungsbeschaffung war in der Vergangenheit oft verkappte Wirtschaftsförderung. Muss sich das ändern, in dem man nicht nur in der Not Waffensysteme von der Stange international einkauft, statt extreme Maßanfertigungen der heimischen Industrie?

    Hahn: Das Problem liegt nicht an der Industrie, sondern am Kunden, der auf Sonderanfertigungen besteht. Die deutsche wehrtechnische Industrie zählt technologisch zur Weltspitze und kann auch von der Stange liefern. Es ist wichtig zu sehen, was brauchen wir und wer das liefern kann. Die andere Frage ist, wo wir auf eigenes europäisches Knowhow Wert legen oder wo man sich beispielsweise von amerikanischer Technologie abhängig machen will. Aber auch beim Kauf ausländischer Technologien ist es selbstverständlich, dass ein Teil der Wertschöpfung im Inland stattfindet, beispielsweise im Bereich der Instandhaltung. Das ist aber international üblich.

    Wenn das Problem ewig langer teurer Rüstungsprojekte beim Besteller liegt, ist das für Sie als Union Anlass zur Selbstkritik?

    Hahn: Klar, die Probleme liegen auch an der Politik und am Beschaffungswesen. Aber für uns als Union ist seit langem klar, dass wir hier ein völlig anderes Beschaffungswesen brauchen. Zur Selbstkritik gehört, dass wie uns bei nötigen Reformen des Beschaffungsamts nicht gegen die SPD durchsetzen konnten. Deshalb sind wir auch heute skeptisch, dass sich hier wirklich etwas ändert. Die geplanten Investitionen von 100 Milliarden Euro dürfen nicht das aktuelle Beschaffungswesen abwickelt werden, sondern müssen über eine schlankere Organisationsform beispielsweise eine neue Agentur laufen. Die Beschaffung ist zu langsam, zu träge und muss jetzt deutlich schneller gehen, als bisher. Den Worten müssen Taten folgen.

    Unionsfraktionschef Friedrich Merz droht, die Grundgesetzänderung für das Sondervermögen zu einer Art Vertrauensfrage für die Koalition zu machen. Droht das Paket im Parteienstreit zu scheitern, oder können sich am Ende die Soldatinnen und Soldaten in dieser Frage auf die Union verlassen?

    Hahn: Völlig klar: Die Bundeswehr kann sich hier auf die Union verlassen. Aber die Soldatinnen und Soldaten können sich genauso darauf verlassen, dass für uns entscheidend sein wird, dass die 100 Milliarden Euro voll für die Bundeswehr ausgegeben werden und nicht nur zum Teil. Und wir haben der Ampel mitgeteilt, dass für uns die dauerhafte Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels ein entscheidendes Anliegen ist, so wie es der Bundeskanzler am 27. Februar im Parlament formuliert hat. Deshalb ist die Regierung am Zug. Die Menschen in Deutschland sehen, dass es hier nicht um Aufrüstung im Sinne einer Rüstungsspirale geht, sondern um die Ausrüstung der Bundeswehr gegen Bedrohungen von außen.

    Viele Deutsche staunen über die Wehrhaftigkeit der Ukrainer, die selbst Bundeswehr-Generälen Respekt abnötigt. Haben wir so etwas verlernt?

    Hahn: Der sehr nahe Krieg in der Ukraine löst bei sehr vielen Menschen das Gefühl aus, dass so etwas auch bei uns passieren kann. Der Mut der Ukrainer verdient tatsächlich von uns den allerhöchsten Respekt. Wir haben nur wenige Monate zuvor in Afghanistan gesehen, was passiert, wenn ein Staat und eine Gesellschaft nicht widerstandsfähig ist: Generäle sind geflohen, Soldaten haben sich führungslos ergeben, und eine überschaubare Horde von entschlossenen Taliban hat sich das Land unterworfen. In der Ukraine haben die Menschen nicht zuletzt nach der Annexion der Krim verstanden, dass Russland und Putin es ernst meinen, und wehren sich dagegen entschlossen.

    Zur Person: Der Münchner CSU-Abgeordnete Florian Hahn ist verteidigungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag.

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