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Interview: Verhandlungen in Brüssel: "Es braucht ein bisschen Drama"

Interview

Verhandlungen in Brüssel: "Es braucht ein bisschen Drama"

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    Michael Clauß vertritt die Interessen der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union.
    Michael Clauß vertritt die Interessen der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union. Foto: Federico Gambarini, dpa

    Sie sind Langstreckenläufer. Ist EU-Politik eher Marathon oder Sprint?

    Michael Clauß: Eher ein Marathon! Viele Themen begleiten uns seit vielen Jahren, da braucht man schon einen langen Atem. Außerdem ist mit Blick auf die vielen Ministerräte eine gute Kondition notwendig, sodass man die vielen Sitzungen und Nachtsitzungen auch physisch durchhält. 

    Sie repräsentieren mit Deutschland den mächtigsten Mitgliedstaat. Was ist das Besondere daran?

    Clauß: Die Verantwortung für Europa. Als größter Mitgliedstaat sind Sie eigentlich immer und überall mit dabei und tragen eine Mitverantwortung, dass es vorangeht. Als ich 2018 wieder nach Brüssel kam, sagte mir mein Kollege aus Österreich, das damals die Ratspräsidentschaft innehatte, dass er ganz andere Einblicke bekomme. Er meinte dann: ‚Für euch Deutsche ist das nichts Neues, ihr habt immer Präsidentschaft.‘ Da ist etwas dran, auch was Abstimmungen angeht. Deutschland ist das bevölkerungsreichste Land der EU und hat damit das größte Stimmengewicht. 

    Nach der deutschen Ratspräsidentschaft gab es viel Zuspruch für den erfolgreichen Verlauf. Warum sind Präsidentschaften so besonders für die Mitgliedstaaten?

    Clauß: Als Ratspräsidentschaft sind Sie für ein halbes Jahr eine Art Regierung auf Zeit und führen die Amtsgeschäfte für den Rat. Damit haben Sie eine ungeheure Verantwortung für die Dossiers. In unserer Präsidentschaft war der Druck extrem groß, weil es darum ging, den mehrjährigen Haushalt der EU und den Covid-Wiederaufbaufonds durchzubringen. Wir reden von einem Volumen von 1,8 Billionen Euro, die wir gegen alle Widerstände ins Ziel bringen mussten, und das während der Coronapandemie. Damit verbunden waren enorme Erwartungen, weil es große finanz- und wirtschaftspolitische Weichenstellungen waren. Da ist die damalige Bundesregierung über ihren Schatten gesprungen. Damit wurde der Grundstein gelegt für die Aufnahme gemeinsamer Schulden, was wir bis dato immer ausgeschlossen hatten. Ich glaube, wenn wir als Deutschland das nicht geschafft hätten, dann hätte es niemand geschafft. Das war ein entscheidender Moment für das Bestehen der EU. 

    Haben Sie häufig Momente, in denen Sie befürchten, der ganze Laden könnte auseinanderfliegen?

    Clauß: Nicht täglich, aber es gibt solche Phasen. Nach dem Brexit-Referendum hatte ich die Befürchtung, das könnte der Anfang vom Ende sein, als noch unklar war, ob nicht andere den Briten folgen würden. Es wurde vielen dann aber ziemlich schnell klar, dass man besser drinnen als draußen ist.

    Während der Finanzkrise wurden die Deutschen als arrogant beschimpft, im vergangenen Jahr forderten dagegen viele Mitgliedstaaten mehr Führungsstärke aus Berlin. Kann es Deutschland je richtig machen?

    Clauß: Das kann man als größter Mitgliedstaat letztlich wohl nie. Zu viel Führungsstärke wird nicht geschätzt, dann fühlen sich andere Mitgliedstaaten leicht übergangen. Wenn man zu wenig Verantwortung übernimmt, kommt das andererseits aber auch nicht an. 

    Wie steht Deutschland im Rat denn da?

    Clauß: Was uns stets zugutegehalten wird: Dass wir zwar auch unsere nationalen Interessen vertreten, aber anders als andere große Mitgliedstaaten maßvoll und mit Blick auf das europäische Ganze. Das macht viel von unserer Glaubwürdigkeit aus. Aber natürlich hängt das oft auch von der Situation ab. Nach der Entscheidung des Europäischen Rates vom letzten Dezember, die Beitrittsgespräche mit der Ukraine aufzunehmen, hat es viel Beifall für Kanzler Scholz gegeben, der mit dem sogenannten "Kaffeetrick" dem Ganzen zum Durchbruch verholfen hat. Er hatte ja Viktor Orbán nahegelegt, bei der entscheidenden Abstimmung den Sitzungssaal zu verlassen, um einer Zustimmung nicht im Wege zu stehen. Ich erinnere mich, wie ich an jenem Freitagmittag mit Kollegen aus dem Baltikum am Tisch saß und die beiden ständig auf den Kanzler angestoßen haben. Aber es gibt auch andere Momente, wo die Interessen nicht übereinstimmen. 

    Bedrückt Sie die Häufung von Krisen?

    Clauß: Das macht mir Sorgen, ja. Man fragt sich immer: Hält die Europäische Union das aus? Zu meiner positiven Überraschung ist sie bisher unglaublich geschlossen geblieben. Die Resilienz und Durchhaltefähigkeit waren für mich nicht von Anfang an zu erwarten und haben mich deutlich optimistischer gestimmt. Es gibt den Wunsch, zu 27 Lösungen zu suchen und zu finden. 

    Woran liegt es, dass die EU in schwierigen Momenten doch stets irgendwie die Kurve kriegt?

    Clauß: Der Brexit hat eine entscheidende Rolle für den Zusammenhalt gespielt. Er ist für Großbritannien so verlaufen, dass niemand Lust hat, diesem Beispiel zu folgen. Das hat die 27 eher zusammengeschweißt. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist uns noch einmal viel bewusster geworden, wie viel Sicherheit Europa uns bringt und dass wir nur ein geopolitisch relevanter Akteur sein können, wenn wir geschlossen auftreten. 

    Trotzdem ist die EU-Außenwirkung nicht immer die beste. Es wird ständig gestritten, vor Gipfeln herrscht regelmäßig Drama. Braucht es das wirklich?

    Clauß: Ich könnte gut ohne Drama, aber es gibt eben 27 unterschiedliche nationale Politiken, die da zusammenkommen müssen. Die eigenen Befindlichkeiten, die Ausgangssituation, politische und außenpolitische Traditionen – das muss alles unter einen Hut gebracht werden. Die Staats- und Regierungschefs werden zu Hause gewählt und nicht in der EU. Deshalb muss jeder am Ende sagen können, dass man wirklich hart verhandelt hat und als Sieger vom Platz gegangen ist. Es braucht also ein bisschen Drama. Gemeinsam Lösungen zu finden ist natürlich nicht immer ganz trivial. 

    Sie sind lange im Geschäft. Welche Erlebnisse sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

    Clauß: Hoch emotional ging es beim Migrationsthema zu, als ich 2018 nach Brüssel kam, inklusive Beleidigungen. Da herrschte nicht mehr die gedämpfte diplomatische Atmosphäre, sondern es wurde teilweise sehr laut im Sitzungssaal. Ich habe für die deutsche Präsidentschaft daraus gefolgert, dass ich diese Sitzungen nur in den frühen Morgenstunden mache – ohne Kaffee, um die Emotionen und die Temperatur niedrig zu halten.

    Wird tatsächlich herumgeschrien?

    Clauß: Es gibt Akteure, die sich mühelos auch ohne Mikrofon verständigen könnten. Das ist zwar auch eine Frage von Persönlichkeiten, aber nicht nur. Vielmehr zeigt sich dabei, wie umstritten und schwierig bestimmte Themen sind sowie die Verantwortung, die auf den Mitgliedstaaten lastet.

    Zur Person: Der Diplomat Michael Clauß (63) arbeitet seit August 2018 als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der EU in Brüssel. Damit ist er kein klassischer bilateraler Botschafter, sondern vertritt die innenpolitischen Interessen Deutschlands und macht im Rat, also im Gremium der 27 Mitgliedstaaten, und bei der EU Politik als höchster deutscher Repräsentant in Abwesenheit des Kanzlers und der Minister. 

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