Frau von der Leyen, bei der Weltklimakonferenz werden die Industrieländer erfahrungsgemäß große Ziele in Sachen Klimaschutz definieren. Oft bleiben es Lippenbekenntnisse. Warum soll es dieses Mal anders laufen?
Ursula von der Leyen: Ich erwarte drei Dinge: dass die Länder ihre Ziele ehrgeiziger formulieren und plausibel darlegen, wie sie diese erreichen wollen. Wir sind noch nicht auf der Erfolgsspur und es ist höchste Zeit, dass wir deutlich mehr tun. Wir haben nur noch diese Dekade, um die Weichen richtig zu stellen und zu vermeiden, dass wir irreversible Kipppunkte erreichen. Zweitens, dass wir solidarisch sind mit den Entwicklungsländern. Wir haben als hochindustrialisierte Nationen versprochen, 100 Milliarden US-Dollar pro Jahr zu finanzieren, damit Entwicklungsländer mit dem Klimawandel umgehen und sich darauf einstellen können. Dieses Ziel werden wir 2023 erreichen. Ich hoffe aber, dass wir es schon 2022 schaffen. Das dritte ist eine weltweite Übereinkunft über klare Regeln, wie Länder ihre nationalen Fortschritte beim Emissionsrückgang transparent und nachvollziehbar messen können.
Welche Rolle will die EU bei der Weltklimakonferenz einnehmen?
Von der Leyen: Die Europäische Union hat eine Vorreiterrolle. Mit dem Europäischen Green Deal sind wir diejenigen, die am besten aufgestellt sind, um zu zeigen, wie und in welchen Schritten wir konkret gegen den Klimawandel angehen und eine Kreislaufwirtschaft bauen können, die sauber und nachhaltig ist. Seit 1990 sind unsere Treibhausgasemissionen um 31 Prozent gesunken und parallel ist unsere Wirtschaft um mehr als 60 Prozent gewachsen. Das ist ein starkes Signal an die Welt, dass man das Klima und die Natur schützen kann, und gleichzeitig in der Lage ist, zu wachsen und zu prosperieren. Wir müssen nur deutlich schneller werden – in Europa und global.
Von der Leyens Hoffnungen liegen in neuen Technologien
Der Grüne Deal, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral werden will, ist weit davon entfernt, in der jetzigen Form abgesegnet zu werden. Ist es nicht eine Verzerrung der Wirklichkeit, wenn sich die EU als strahlendes Vorbild in Sachen Klimaschutz darstellt?
Von der Leyen: Wir sind im Vergleich mit anderen Regionen der Welt am erfolgreichsten. Wir sind die Ersten, die als Region ein Klimagesetz haben, in dem die Ziele rechtsverbindlich festgeschrieben sind. Außerdem haben wir einen Fahrplan dargelegt - detailliert, Sektor für Sektor -, wie wir weiterkommen wollen. Auch diese Umsetzungsschritte müssen wir jetzt in ein Gesetz gießen. Für mich ist entscheidend, dass wir das über Innovation erreichen. Wir haben heute viele neue Technologien, die sauber sind und durch die wir den Fortschritt schaffen. Das ist auch für unsere Partner in der Welt entscheidend. Die Lage ist sehr ernst. Die Wissenschaft sagt uns heute, dass wir als Weltgemeinschaft nicht ehrgeizig genug sind.
Umweltverbände kritisieren die Vorstöße noch immer als unzureichend. Fossile Brennstoffe werden von der EU beispielsweise mit Milliarden subventioniert. Werden weiterhin zu viele Kompromisse gemacht?
Von der Leyen: Wir müssen besser werden, gar keine Frage. Das Klima und die heftigen Reaktionen der Natur in diesem Jahr schreiben es uns ins Stammbuch. Wenn wir uns nicht mehr anstrengen, werden die Folgen dramatisch sein. Wir wissen, dass wir nur eine Chance haben. Deshalb ist es bei der COP26 so wichtig, dass die Verhandlungen erfolgreich verlaufen. Das gilt nicht nur für die Industrienationen. Es ist eben auch wichtig, dass wir die stark wachsenden Entwicklungsländer mitnehmen und sie unterstützen, direkt den Sprung in moderne, saubere Technologien mit einer Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Diesen Kampf gewinnt die Welt nur gemeinsam.
Absolute Vorfahrt haben die erneuerbaren Energien
Die erneuerbaren Energien sind das Nadelöhr des Grünen Deals. Braucht es doch die Atomkraft?
Von der Leyen: Von europäischer Seite unterstützen wir mit Next Generation EU, unserem großen Aufbaupaket, Investitionen in die Infrastruktur und stark den Ausbau erneuerbarer Energien. Von den insgesamt 800 Milliarden Euro geht mehr als ein Drittel in grüne Projekte. Die erneuerbaren Energien profitieren gewaltig davon. Aber wir sehen auch, dass dieses Jahrzehnt darüber entscheidet, ob wir die Kurve kriegen beim Kampf gegen die Erderwärmung. Da ist es in der Tat das oberste Gebot, die CO2-Emissionen so schnell wie möglich runterzubringen. Dafür brauchen wir neben dem rasant wachsenden Anteil sauberer aber schwankender Wasser-, Wind- oder Solarenergie zusätzlich stabile Quellen. Deswegen drängen einige Länder darauf, auf Sicht die Kernenergie zu nutzen und für den Übergang auch Gas, damit wir den stabilen Energiemix haben. Aber absolute Vorfahrt haben die Erneuerbaren.
Wie will die Kommission damit umgehen, wenn Mitgliedstaaten versuchen, den grünen Wandel als Verhandlungsmasse zu nutzen für ihre eigene politische Agenda?
Von der Leyen: Da gibt es zwei Stränge, die wichtig sind. Erstens haben wir alle, die 27 Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament, dem Klimagesetz zugestimmt. Das heißt, es ist nicht mehr die Frage nach dem Ob, sondern dem Wie. Zweitens spüren alle Mitgliedstaaten inzwischen durch die extremen Wetterphänomene den Druck des Klimawandels und haben verstanden: Je länger sie warten, desto teurer und unwiderruflich schädigend wird es für sie. In Europa mit 27 Nationen und 450 Millionen Menschen gibt es viele verschiedene Interessen und die Diskussion darüber muss geführt werden, das ist Demokratie. Aber zum Schluss müssen wir unser gemeinsames Ziel erreichen. Das ist im Gesetz verankert, das alle mittragen.
"Die Menschen wissen, wie sehr die Zeit drängt"
Könnte in den nächsten Jahren trotzdem ausgerechnet der Grüne Deal und damit der Klimaschutz unter der Uneinigkeit der EU leiden?
Von der Leyen: Ich bin sicher, dass die Menschen das nicht tolerieren werden. Die Folgen des Klimawandels spüren wir alle, die schrecklichen Überschwemmungen des Sommers, die gewaltigen Waldbrände, die Dürren, ein Tornado in Tschechien, der 2000 Häuser zerstört hat. Die Menschen wissen, wie sehr die Zeit drängt. Insofern bleibt nur die Frage, wie wir den Weg technisch und politisch bewältigen können. Die Wissenschaft ist eindeutig. Der Klimawandel ist vom Menschen gemacht, also müssen wir ihn auch wieder stoppen.
Der Europäische Gerichtshof hat Polen zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro verurteilt, um es zur Einhaltung des EU-Rechts zu bringen. Wie will die Kommission weiter verfahren? Könnten die Hilfen an Polen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds nun freigegeben werden?
Von der Leyen: Was den Wiederaufbaufonds angeht, haben wir klare Regeln für alle Mitgliedstaaten. Diese Investitionen gibt es nur mit Reformen und die sind festgeschrieben in den länderspezifischen Empfehlungen. Für Polen gilt seit Jahren die Reformforderung, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen. Genau darum geht es mir. Das heißt, dem Urteil auch folgend: Die Disziplinarkammer muss abgeschafft werden, das Disziplinarregime muss reformiert werden und es muss ein Prozess in Gang gesetzt werden, die Richterinnen und Richter, die unrechtmäßig aus dem Amt entfernt worden sind, wieder einzusetzen. Das hat auch der Europäische Gerichtshof von Polen gefordert. Es sind sehr klar umschriebene Reformschritte. Jetzt liegt es an Polen, dass wir diese Reformschritte im gemeinsamen Vertrag für den Wiederaufbaufonds fest verankern. Das ist auch nicht ungewöhnlich. Wir haben mit allen Mitgliedstaaten Verpflichtungen vereinbart, die an die Zahlungen gekoppelt sind.