Herr Türk, Sie sind seit wenigen Monaten Hochkommissar und Sie mussten sich sofort mit mehreren schweren Menschenrechtskrisen befassen. Wo ist die Lage der Menschen besonders schlimm?
Volker Türk: In Kriegen und Konflikten leidet die Bevölkerung besonders stark. Die Menschenrechte kommen unter die Räder. Wir sehen das in der Ukraine, in Syrien, im Jemen oder auch in Äthiopien, wo glücklicherweise ein Friedensabkommen geschlossen wurde. Auch wenn das Militär putscht wie in Mali und Myanmar oder wenn autokratische Regimes nicht von der Macht lassen wollen wie in Nicaragua kommt es nahezu zwangsläufig zu Unterdrückung. Wir sehen auch Länder ohne funktionierende Regierungen wie in Haiti, dort haben Gangsterbanden in der Hauptstadt Port-au-Prince ein Schreckensregime errichtet.
Und es gibt Staaten, in denen religiöse und ideologische Fanatiker an den Schalthebeln sitzen ...
Türk: … ja, wie in Iran oder Afghanistan. Die jüngst gemeldete Entscheidung der herrschenden Taliban in Afghanistan, den Studentinnen den Universitätsbesuch zu verbieten, ist ein weiterer entsetzlicher Schlag gegen die Rechte der Frauen und Mädchen.
2023 wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 75 Jahre alt. Besteht angesichts der trüben Lage der Menschenrechte Anlass zum Feiern?
Türk: Nein. Zum Feiern ist mir nicht zumute. Das Jubiläum sollte uns aber daran erinnern und klarmachen, welch ein Wunderwerk wir mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben. Nach den Schrecken und Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges, nach dem Holocaust sagten die Länder: „Nie wieder.“ Die Erklärung mit ihren 30 Artikeln ist das Produkt eines universellen Gedankengutes, geboren aus einem Kataklysmus (einer erdgeschichtlichen, alles zerstörenden Katastrophe; d. Red.). Die Erklärung ist ein dreiviertel Jahrhundert nach ihrer Verabschiedung hochaktuell und bietet Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit: Sie ist Rechtsdokument und Grundnorm, sie soll allen Menschen, ohne Unterschied, den größtmöglichen Schutz bieten. Sie hält fest, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Ich wünsche mir, dass alle politisch Verantwortlichen die Erklärung lesen und sie zum Maßstab ihres Handelns machen.
Russlands Präsident Wladimir Putin schert sich keinen Deut um die Menschenrechte. Seine Armee terrorisiert und massakriert Zivilisten in der Ukraine. Welche Kriegsverbrechen haben Sie besonders schockiert?
Türk: Ich habe die Ukraine Anfang Dezember besucht und sah die Schrecken, das Leid und den täglichen Tribut, den dieser Krieg Russlands den Menschen abverlangt. In dem Ort Butscha bei Kiew war ich an der Stelle, wo das Leben eines alten Mannes gewaltsam beendet wurde. Er trug einen Sack mit Kartoffeln nach Hause. Er wurde getötet. In Isium, Oblast Charkiw, suchte ich die Reste eines beschossenen Wohngebäudes auf. Mehr als 50 Menschen wurden unter den Trümmern lebendig begraben. Es fanden sich Spuren von Leben, die ausgelöscht wurden. Ein Schuh. Ein Klavier. Spielzeug. Ein Schrank voller Kleider. Regale voller Bücher. Ich sprach mit Familien von Kriegsgefangenen, die ängstlich auf Nachrichten über ihre Angehörigen warten, und hörte den Schmerz derjenigen, deren Söhne an der Front sind. Auch erfuhr ich von der besonderen Notlage der Menschen mit Behinderung und Älteren, die nicht in der Lage sind, bei Luftalarm einen Unterschlupf zu erreichen. Die Gewalt und das Töten in der Ukraine sind nicht zu begreifen. Es ist sinnlos und absurd.
Wo stehen Sie bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine?
Türk: Die Strafverfolgungsbehörden der Ukraine untersuchen derzeit 40.000 mutmaßliche Kriegsverbrechen. Das UN-Hochkommissariat schickte schon 2014 Ermittler in die Ukraine, das war nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland und dem Beginn der Kämpfe im Osten. Seitdem haben die Ermittler Berichte mit mutmaßlichen Kriegsverbrechen angefertigt. Erst jüngst dokumentierten sie die Tötungen von 441 Zivilisten in drei Regionen während der ersten Monate der Invasion 2022. Die tatsächlichen Zahlen sind wahrscheinlich wesentlich höher. Wir erfassen auch neue Fälle in Charkiw und Cherson. In einigen Fällen exekutierten russische Soldaten Zivilisten in behelfsmäßigen Gefangenenlagern. Andere wurden nach Sicherheitskontrollen hingerichtet – in ihren Häusern, Höfen und Hauseingängen. Selbst dann, wenn die Opfer deutlich gezeigt hatten, dass sie keine Bedrohung darstellten, indem sie zum Beispiel die Hände in die Luft hielten. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei den dokumentierten Hinrichtungen um Kriegsverbrechen handelt. Wir haben viele gerichtsfeste Beweise für Kriegsverbrechen gesammelt und werden weitere ausfindig machen.
Bislang haben die ukrainischen Behörden nur wenige Russen für Kriegsverbrechen verurteilen können. Die meisten Verbrechen sind ungesühnt und werden es möglicherweise bleiben. Welches Signal geht von dieser Straffreiheit in Putins Krieg an andere Gewaltherrscher aus?
Türk: Im Moment scheint es tatsächlich so, als würden die meisten Täter straffrei ausgehen. Wenn ihnen weder in der Ukraine noch in Russland der Prozess gemacht wird, müssen die UN-Mitgliedsländer entscheiden, ob sie ein internationales Tribunal einrichten. Einzelne Staaten können auch nach dem Weltrechtsprinzip eigene Strafverfahren gegen mutmaßliche Verbrecher einleiten, die ihre Taten im Ausland verübten. Die Geschichte lehrt uns, dass die Mühlen der Gerechtigkeit langsam mahlen. Und die Täter müssen wissen, dass sie nicht straffrei davonkommen werden.
Wird sich Putin jemals vor Gericht für seine verbrecherischen Befehle verantworten müssen?
Türk: Das ist politisch wie rechtlich äußerst kompliziert. Ich will nicht spekulieren, aber so etwas erscheint mir zurzeit nicht realistisch.
Der Iran und Nordkorea befeuern mit Waffenlieferungen Russlands Angriffskrieg. Bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen hat sich ein Block der Unterdrücker herausgebildet. Befürchten Sie eine globale Konfrontation zwischen westlich orientierten Rechtsstaaten und den Diktaturen?
Türk: Bei der ersten Abstimmung in der UN-Vollversammlung nach Russlands Einmarsch lehnten nur fünf Staaten eine Verurteilung Moskaus ab. Neben Russland waren das Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien. Andere große Staaten wie China und Indien enthielten sich der Stimme. Diese Enthaltung der Staaten bedeutete aber nicht, dass sie Russlands Aggression unterstützen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in ein Blockdenken verfallen. Die Menschenrechte jedenfalls gelten immer und überall. Das ist eine wichtige Botschaft an alle, die sie mit Füßen treten.
Noch eine Frage zu China. Ihre Vorgängerin als Hochkommissarin, Michelle Bachelet, zögerte lange, Chinas Führung wegen der Unterdrückungspolitik zu kritisieren. Wie wollen Sie die Machthaber in Peking zur Einhaltung der Menschenrechte bewegen?
Türk: Ich setze auf die effektivste Weise und führe einen Dialog mit der Regierung. Es geht um internationale, regionale und nationale Punkte. Der Bericht meines Büros über die Lage Uiguren enthält viele Empfehlungen, um die Menschenrechtslage zu verbessern.
Zur Person: Der Österreicher Volker Türk, 57, ist seit Oktober Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Als oberster Wächter der Menschenrechte der UN verfügt er über keine direkte Macht gegenüber Regierungen. Der Hochkommissar sucht jedoch den Dialog mit den politisch Verantwortlichen, um Menschenrechte zu stärken. Er kann Ermittlungen einleiten und Unrechtregime öffentlich anprangern. Der Jurist Türk war Strategiechef des UN-Generalsekretärs und bekleidete hohe Positionen im Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Türk wurde in Linz geboren. In Wien nahm er seinen ersten Job für die UN an. Türks Faszination und Engagement für die Menschenrechte wurde im konservativen Österreich der 1970er und 1980er Jahre geweckt. Als 15-Jähriger erwarb er den Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Das Büchlein liegt heute auf seinem Schreibtisch im Palais Wilson in Genf, dem Sitz des UN-Hochkommissariats.