Herr Kirsch, Sie waren bis 2013 Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes. Seitdem haben Sie sich öffentlich nicht mehr zu tagespolitischen Fragen rund um das Thema Streitkräfte und Sicherheitspolitik geäußert. Warum reden Sie jetzt?
Ulrich Kirsch: Ich wollte nicht zu denjenigen gehören, die nach ihrer aktiven Zeit alles kommentieren und alles besser wissen. Gleichzeitig schlägt mein Herz natürlich noch immer für die Bundeswehr. Mir tut es weh, zu sehen, in welch desaströsem Zustand unsere Streitkräfte sind. Und das in einem Moment, in dem Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.
Olaf Scholz hat mit seiner Berufung von Boris Pistorius als Nachfolger von Christine Lambrecht alle überrascht. Eine gute Wahl?
Kirsch: Das würde ich sagen. Pistorius hat Wehrdienst geleistet. Das ist schon mal nicht verkehrt. Gleichzeitig weiß er, wie man ein Ministerium leitet, er war schließlich lange Innenminister in Niedersachsen. Ich habe ihn persönlich als sehr klaren Politiker kennengelernt. Das kann was werden.
War die Amtszeit von Frau Lambrecht ein großes Missverständnis?
Kirsch: Da bin ich sehr vorsichtig. Das Ministerium der Verteidigung mit seinen nachgeordneten Bereichen ist in einer derart desolaten Verfassung, dass jetzt auch Pistorius erst einmal schauen muss, wie die von Kanzler Scholz in seiner Rede zur Zeitenwende verkündete Einsatzbereitschaft der Streitkräfte hergestellt werden kann. Einen lockeren Kaltstart kann es nicht geben. Das Fatale sind die häufigen Wechsel auf dem Posten, die dazu führen, dass die besten Kräfte im Haus immer wieder damit beschäftigt sind, den neuen Minister oder die neue Ministerin einzuarbeiten.
Auf Pistorius wartet am Freitag gleich ein wichtiger Termin. Die Nato berät in Ramstein über Waffenlieferungen für die Ukraine, die seit Monaten Kampfpanzer vom Westen fordert. Was erhoffen Sie sich von diesem Treffen?
Kirsch: Ich bin schon seit längerer Zeit irritiert über die Vorgehensweise. Es geht zu oft nur darum, welche einzelnen Waffensysteme jetzt gerade gebraucht werden. Entscheidend ist aber der Mix der Systeme. Man benötigt Spähpanzer, sicher auch Kampfpanzer. Aber ohne gute Grenadiere oder eine effektive Beobachtung des Luftraums mit Wirkmitteln zur Zerstörung der gegnerischen Fluggeräte sowie eine schlagkräftige Artillerie nutzt auch der Leopard 2 nicht viel. Nur wenn der Verbund der Systeme funktioniert, wird es gelingen, hohes Tempo und Stoßkraft zu gewinnen und die Kräfte zielgerichtet zur Entfaltung zu bringen. Dann kann die Ukraine besetzte Gebiete zurückerobern und gewinnen.
Der Ukraine-Krieg jährt sich im Februar zum ersten Mal. Wie schätzen Sie die Lage heute ein?
Kirsch: Der eigentliche Sündenfall des Westens war, dass die Annexion der Krim 2014 letztendlich akzeptiert wurde. Jetzt weiß niemand, wie der russische Präsident Putin reagieren wird, wenn Kiew in der Ostukraine tatsächlich größere Gebiete zurückerobert. Das darf wiederum nicht Maßstab des westlichen Handels sein. Kurz: Das Dilemma ist, dass es Putin in der Hand hat, wann und wie er eskaliert. Ich wundere mich über die Leute, die mit großer Überzeugung sagen, dass der Krieg zu Ende ist, wenn Kiew die Ostukraine zurückerobert hat.
Schauen wir auf die Bundeswehr. Sie waren von 2008 bis 2013 Vorsitzender des Bundeswehrverbandes. In dieser Zeit amtierten Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und Thomas de Maiziere (CDU). Viele Wehrexperten sehen in diesen beiden Verteidigungsministern die Hauptverantwortlichen für den desolaten Zustand der Bundeswehr heute. Stimmt das?
Kirsch: Guttenberg hat 2010 angekündigt, dass sein Ressort 8,3 Milliarden Euro einsparen werde, damit das Ziel schwarze Null erreicht werden kann. Gleichzeitig wollte er als großer Reformer in die Geschichte der Bundeswehr eingehen. So hat er unter anderem 2011 die Wehrpflicht ausgesetzt.
Sie haben sich 2010 mit dem kleinen Band unter dem Titel „Darum Wehrpflicht“ in der damaligen Diskussion gegen die Aussetzung positioniert. Sind sie heute für die Rückkehr zur Wehrpflicht?
Kirsch: Ich habe damals immer wieder deutlich gemacht, dass ich die Aussetzung für einen Kardinalfehler halte. Es stimmt, dass die Wehrpflicht in der damaligen Form nicht zu halten war. Falsch aber war der Abschied von ihr. Richtig wäre es gewesen sie weiterzuentwickeln. Ich denke in dieselbe Richtung wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, also an die Einführung eines allgemeinen Pflichtjahres für Männer und Frauen als Dienst an und für die Allgemeinheit. Das würde nicht nur der Bundeswehr helfen, sondern auch der gesellschaftlichen Sicherheitsvorsorge - dazu zählt der Katastrophenschutz, der dringend in einen gesamtstaatlichen Bevölkerungsschutz reformiert werden muss.
Kommen wir zu Guttenbergs Nachfolger Thomas de Maiziere.
Kirsch: De Maiziere hat ein spannendes Buch mit dem kurzen Titel „Regieren“ herausgegeben - darin stellt er klar, dass er keine Fehler gemacht hat. Das sehe ich aber ganz anders. Er hat das Verteidigungsministerium komplett umgekrempelt. Am verheerendsten war, dass er 2012 den mit den fähigsten Köpfen besetzten Planungsstab als zentrale Koordinations- und Organisationseinheit aufgelöst hat. Damit hat de Maiziere auch hier in Kauf genommen, dass hohle Strukturen entstehen konnten. Heute kann man sagen, dass damit das Kaputtsparen und das Kaputtorganisieren vollendet wurden.
Große Reformen, die die Wende bringen sollten, wurden mehrfach angekündigt. Warum sind sie gescheitert?
Kirsch: Weil die einzelnen Reformen nie zu Ende gebracht wurden, also nie Ergebnisse bringen konnten. So ging eine unvollendete Reform in die nächste über, die ebenfalls unvollendet blieb. Und so weiter. Das kann in keinem Unternehmen funktionieren.
Das klingt bitter. Wie kann die Bundeswehr auf die Beine kommen?
Kirsch: Schritt für Schritt. Der Ansatz, bis 2025 eine komplett mit Personal und Ausrüstung ausgestattete Division aufzubauen, ist der richtige. Wir brauchen Leuchttürme. Die Bundeswehr hat gute Leute, die so etwas können. Wie der Generalinspekteur der Luftwaffe, Ingo Gerhartz, der seine Waffengattung mit viel Eigeninitiative effektiver gemacht hat.
Was muss politisch geschehen?
Kirsch: Wir brauchen eine Sonderregelung, die es ermöglicht, Teile des Wehretats aus der Jährlichkeit des Bundeshaushalts herauszunehmen. Sonst wird es immer schwerer, große Rüstungsprojekte anzugehen und das Risiko für die Rüstungsindustrie unkalkulierbar. Gut wäre auch, wenn der Bundestag nicht über alle Beschaffungen für die Truppe ab 25 Millionen Euro zustimmungspflichtig wäre. So kann man nicht schnell genug auf Engpässe reagieren. Ich halte eine Grenze von 200 Millionen für angemessen.