Herr Elbert, wieder wurden schreckliche Verbrechen der russischen Armee an ukrainischen Zivilisten bekannt. Die Frage, die über allem steht: Wie können Menschen zu solcher Gewalt fähig sein?
Thomas Elbert: Je grausamer Menschen vorgehen, umso mehr Angst können sie anderen machen. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, Folter würde durchgeführt, um Informationen zu erpressen - Folter bringt nämlich überhaupt keine wertvollen Informationen. Wenn ich jemanden foltere, dann will ich ihm mitteilen: Ich bin grausam, du musst Angst vor mir haben und weichst besser zurück. Diese Soldaten, die das begangen haben, haben eine klare Aufgabe: Sie jagen den Feind.
Könnte denn jeder von uns zu solchen Taten fähig sein?
Elbert: Es gibt verschiedene Motivationen, warum Menschen grausam sind. Eine ist, dass jemand in Bedrängnis gerät, sich bedroht fühlt und deshalb zurückschlägt. Das scheint moralisch legitim, deshalb stellt jede Kriegspartei das auch so für sich dar, das ist Teil der Propaganda. Auch negative Gefühle wie Angst, Wut und Rache können eine Motivation sein. Aber Menschen gehen eben auch auf die Jagd – mal auf Tiere, aber eben auch auf andere Menschen. Das gibt es seit Anbeginn der Menschheit und kann zu einem lustvollen Gefühl führen. Auch Soldaten können eine Faszination fürs Töten entwickeln. Sie können da regelrecht in einen Blutrausch verfallen. Das geschieht vor allem jenen, die in ihrer Kindheit und Jugend schon selbst zwischenmenschliche Gewalt erlebt haben.
Ist Gewalt ein Männerproblem?
Elbert: Wir wissen nicht so genau, wie weit man Frauen zur Lust an Gewalt bringen kann. Auch sie können aggressiv sein, sogar bereit sein zurückzuschlagen. Aber von sich aus diesen Spaß an Kampf, Tumult und Leidenschaft - das haben nur wenige Frauen. Wer spielt denn die gewalttätigen Computerspiele? Es sind vor allem Jungen. Hier sehen wir bei 80, vielleicht sogar 90 Prozent eine Faszination für Gewalt.
Hängt das auch damit zusammen, in welcher Gesellschaft und mit welchem Männlichkeitsbild ich großgeworden bin?
Elbert: Diese Form des Vergnügens an der Jagd auf Menschen kann praktisch auf allen Kontinenten und in allen Kulturen geweckt werden. Von Afghanistan, über Kolumbien bis in den Kongo hinein sind sich die Menschen in diesem Punkt sehr ähnlich. Voraussetzung dafür ist häufig, dass Menschen selbst schon Erfahrung mit zwischenmenschlicher Gewalt gemacht haben. Und dieser Anteil ist in Russland recht hoch – aber es gibt sie eben auch bei uns. 20 Prozent der Menschen hierzulande erleben häusliche Gewalt, hinzukommen andere Formen von belastender Erfahrung in Kindheit und Jugend, wie etwa sozialer Ausschluss oder Vernachlässigung. Irgendwann schlagen diese Menschen zurück. Am häufigsten geschieht das in der Gruppe – das bietet Schutz und da macht das Jagen am meisten Spaß, so sind wir evolutionär gestrickt. In der Gruppe erlegen wir Großwild, allein packen wir höchstens einen Hasen. Heute können Sie in die Großstädte schauen, nach Frankfurt an den Hauptbahnhof, nach Stuttgart an den Schlossplatz: Dort treffen sich Gruppen junger Leute, die ein bisschen Trouble und gegenseitiges Gerangel regelrecht suchen. Gott sei Dank ist es meistens so, dass es nicht eskaliert. Aber mitunter gehen sie gegen die Polizei oder andere Gruppen vor. Und es macht diesen Leuten Spaß. Das sind insbesondere junge Männer, aber man sieht an Wladimir Putin oder Sergej Lawrow, dass auch ältere Männer skrupellos Nationen in den Krieg führen können.
Es ist also kein russisches Phänomen?
Elbert: Wenn ich mir die Äußerungen von deutschen Prominenten und Politikern anhöre, dann schwingt da oft mehr mit als reine Moral und christliche Nächstenliebe gegenüber der Ukraine, ich erkenne zumindest eine gewisse Faszination am Krieg. Schon im Ersten Weltkrieg gab es dieses Hurra-Geschrei, im Zweiten Weltkrieg hieß es: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Dieser Teufel muss unter der Decke gehalten werden, damit wir nicht in eine Kriegs-Hysterie rutschen.
Halten Sie das für möglich?
Elbert: Halten Sie es für möglich, dass sich Leute 24 Stunden vor einem geschlossenen Sarg anstellen? Das glaubten wir doch eigentlich nicht. Und wir glauben auch nicht, dass sich ein Volk von einer Massenhysterie anstecken lässt. Es schlummert in Menschen sich sozialen Bewegungen anzuschließen, auch kriegerischen. Wir haben es gesehen beim Völkermord zum Beispiel in Ruanda, wo plötzlich zigtausende Männer aufgestanden sind und Nachbarn mit Knüppeln und Macheten erschlagen oder im Fluss ertränkt haben. Das war unglaublich, dass so etwas heutzutage passieren konnte. Wir haben angeblich Freiheit am Hindukusch verteidigt - das hatte ich auch nicht für möglich gehalten.
Was geschieht, wenn die Soldaten eines Tages zurückkehren in ihren Alltag, wenn also aus Folterknechten wieder Familienväter werden?
Elbert: Das Vergnügen, einen Feind quasi niederzumähen, lässt sich der Zivilgesellschaft nicht ohne Weiteres vermitteln. In der Truppe werde ich fürs Töten gefeiert, daheim gelte ich als Unmensch. Meist verstehen nur Veteranen mit Kampferfahrung die negativen, wie die positiven Seiten der Gefühlswelten. Da gab es ja auch die Kameradschaft: Man schützt sich gegenseitig, man ist ein Held, ein guter Kämpfer, der keine Angst hat. Da hilft es, wenn man den Leuten einen Heldenorden an die Brust heftet. Wenn man das nicht tut, betont man die negativen Erfahrungen von Krieg und Kampf umso mehr. Moralische Verletzung treibt die Betroffenen in ein Trauma, in posttraumatische Belastungsstörungen, in Depressionen. Das geschah massiv nach dem Vietnamkrieg. In den USA gab es eine enorme Zunahme des Drogenkonsums bei den Männern, die zurückgekehrt waren. Präsident Ronald Reagan hat den Drogen den Krieg erklärt – aber verloren. Amerika kämpft bis heute damit. In Russland, aber auch in der Ukraine haben wir ohnehin ein Drogenproblem, es gibt einen hohen Alkoholkonsum. Alkohol ist eine Droge, die vergessen lässt, welche Sorgen, welche Gefahren man täglich erlebt. Und Alkoholkonsum in hohem Ausmaß führt wiederum zu mehr Gewalt in der Familie.
Es ist also ein Teufelskreis?
Elbert: Ja, diejenigen, die Gewalt erleben, sind genau die Leute, die sich im Krieg an die Front werfen. Wenn Sie, sagen wir, eine Gruppe von 100 Personen rekrutieren, dann müssen manche davon Koch sein, andere müssen administrative Aufgaben hinter den Linien übernehmen. Freiwillig ins Kriegsgetümmel stürzt sich meist, wer zwischenmenschliche Gewalt erlebt hat, wer als Kind belastende Erfahrungen machen musste. Auch nur diese Menschen werden unter Umständen suizidal. Wer eine gute Kindheit hat, kann Schläge des Schicksals aushalten. Umgekehrt züchtet Gewalt neue Gewalt.
Es gibt in jedem Krieg Soldaten, die sich lieber töten lassen, als zu töten. Gibt es so etwas wie eine Sperre?
Elbert: Die Schwelle zum Töten zu überschreiten ist nicht leicht. Und je besser die eigene Kindheit war, umso höher ist diese Schwelle. Wer eine gute moralische Basis hat, sagt irgendwann: Auf der anderen Seite der Linie ist doch jemand, dem geht es nicht anders als mir. Wer darüber dreimal nachdenkt, ist schnell selbst tot. Deshalb sind die, die weniger Schwellen zu überwinden haben, die besseren Kämpfer.
Kann man Leuten auch Gewaltbereitschaft antrainieren?
Elbert: Das kann man und das machen Armeen auch systematisch, weil sie genau dieses Problem haben: Sie schicken 100 junge Männer nach der Grundausbildung an die Front. Wenn nur 50 davon schießen, ist das schlecht für die Kampfkraft. Und wie trainiere ich? Indem ich sie im Training nicht auf Pappscheiben schießen lasse, sondern auf möglichst realistisch nachgebildete Menschen. Gleichzeitig versucht man, die Schwelle der moralischen Hemmung zu senken, die Aggression gegenüber dem Feind mit Propaganda zu wecken. All das kann man trainieren. Die Amerikaner haben es zum Beispiel im Koreakrieg geschafft, die Zahl derer, die tatsächlich zum Gewehr greifen, auf 80, 90 Prozent zu steigern. Inzwischen dürften die Zahlen noch höher sein. Zur Kriegsführung gehört es also nicht nur, den besten Panzer zu haben – sondern dass derjenige, der drinsitzt, auch auf den Knopf drückt.
Um den Blick auf die Opfer zu werfen: Wie schaffen es die Menschen in der Ukraine, trotz des Krieges so etwas wie einen Alltag zu leben?
Elbert: Dieser vermeintliche „Alltag" ist mit hohen Kosten für die seelische und körperliche Gesundheit verbunden: Die Menschen aktivieren physiologisch ein biologisch angelegtes Verteidigungssystem, indem sie Stresshormone ausschütten: Cortisol, Adrenalin, Endorphine – wenn der Flieger kommt, der Alarm angeht oder der Schmerz uns übermannt. Das kann man eine Zeit lang aushalten. Aber irgendwann mündet das dann in Erschöpfung, Depressionen, Immunschwäche und Suchtverhalten. Was die Ukrainer im Moment aufrechthält, ist das Gefühl, Teil einer wertvollen Gemeinschaft zu sein. Auch deshalb macht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine täglichen Fernsehansprachen. Aber wie lange schafft er das noch, die Leute um sich zu scharen? Jahrelang lässt sich das in dieser Form nicht durchhalten. Es ist ein Spiel um Zermürbung.
Man gewöhnt sich also nicht an den Krieg?
Elbert: Nein, das geht nicht. Sie haben immer Angst. Deshalb feuern die Russen ja auch ihre Raketen dicht neben ein Atomkraftwerk. Um die Angst zu verschlimmern. Deshalb morden und foltern sie ja, um die Angst zu verschlimmern. Und nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Westen wird Angst induziert. Der ehemalige Präsident Medwedew spricht von taktischen Atomwaffen, die die russische Führung einsetzen könnte, Putin bestätigt. Warum? Natürlich um dem Westen Angst zu machen, damit der sich zurückhält. Es ist aber verkehrt, sich von diesen Drohungen beeindrucken zu lassen, weil Putin mit unserer Angst sonst immer weiteren Raum gewinnt. Wir brauchen eine rote Linie, über die niemand hinwegkommt: Eure Drohungen sind uns egal! Je schlimmer sie werden, umso mehr Waffen werden wir schicken, umso mehr werden wir die Nato aufrüsten. Und glauben Sie mir: Das ist für mich als jemanden, der sehr pazifistisch ist, sehr schwer zu sagen. Ich bin froh, nicht in der Position zu sein, darüber entscheiden zu müssen.
Zur Person: Thomas Elbert, 72, gebürtiger Allgäuer, ist einer der renommiertesten deutschen Kriegs-Psychologen. Der Neurowissenschaftler, tätig an der Universität Konstanz, hat in Kriegsgebieten in vielen Teilen der Welt geforscht, unter anderem in Afghanistan, Kongo, Ruanda, Somalia, Sri Lanka und Uganda. 2019 erhielt er den Deutschen Psychologie-Preis.