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Interview: Tom Segev: „Dieser Krieg hat kein Ziel für die Zukunft“

Interview

Tom Segev: „Dieser Krieg hat kein Ziel für die Zukunft“

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    Tom Segev ist Sohn deutscher Einwanderer in Israel. Der Historiker lebt in Jerusalem.
    Tom Segev ist Sohn deutscher Einwanderer in Israel. Der Historiker lebt in Jerusalem. Foto: Robert Newald, dpa

    Herr Segev, fünf Wochen sind sei dem blutigen Angriff der Hamas auf jüdische Siedlungen vergangen. Ist inzwischen so etwas wie Alltag eingekehrt in Israel?
    TOM SEGEV: Das kann man leider nicht behaupten. Der Schock sitzt in Israel noch immer sehr tief. Die große Frage, die dauernd gestellt wird: Wie konnte das überhaupt passieren? In Israel lebt eine Generation, die geglaubt hat, dass sie hier sicher ist. Natürlich, es gab Terroranschläge, es gab die Bedrohung durch den Iran, aber selbst die war irgendwie abstrakt. Israel ist doch eine Hightech-Großmacht, die alle Telefongespräche abhören kann, die im Gazastreifen geführt werden. Es gab seit der Gründung des Staates Israel nie so einen schlimmen Tag wie den 7. Oktober. Fast 2000 Menschen wurden auf brutalste Art und Weise umgebracht. Die Hamas hat ihre Gräueltaten sogar noch gefilmt. Mehr als 100.000 Israelis, die in den Grenzorten gelebt haben, dürfen noch immer nicht zurück in ihre Häuser. Aber das schlimmste, nicht nur für mich, ist, dass noch immer hunderte Geiseln gehalten werden. Das sind ganz einfache Menschen, die gar nichts zu tun haben mit Politik. Säuglinge, Kinder, Holocaust-Überlebende. Stellen Sie sich das vor: Es ist Feiertag, auf einmal kommen Terroristen und schleppen sie nach Gaza. 

    Auch der Raketen-Terror der Hamas geht weiter …
    SEGEV: Das geht jetzt seit fünf Wochen so und das Unglaubliche: Die Hamas hat noch immer Raketen. Es werden ein bisschen weniger, aber dauernd geht der Alarm, zuletzt 20 Minuten bevor wir hier miteinander sprechen. Ein Alltag ist so nicht möglich. Es ist wirklich interessant, dass die Hamas nach dieser Zeit überhaupt noch in der Lage ist, zu kämpfen. Wir sind alle aufgewachsen mit der Idee: Die Hamas ist eine Terrororganisation, die man zerschlagen muss und fertig. Nun machen wir ähnliche Erfahrungen, wie sie schon die Amerikaner mit den Taliban gemacht haben. Diese Organisationen sind stärker als wir dachten. Aber auch für die Palästinenser im Gazastreifen ist das alles furchtbar.

    Erklären Sie uns bitte Ihre Sicht.
    SEGEV: Für viele Palästinenser ist das, was gerade geschieht, eine zweite „Nakba“, die Wiederholung der Tragödie von 1948. Eine halbe Million Araber wurden damals zu Flüchtlingen. Auch heute mussten Millionen Menschen ihre Häuser verlassen, in den Süden des Gazastreifens fliehen, ihre Häuser sind zerstört, Gaza wird immer mehr zerstört. Das ist eine Katastrophe fast biblischen Ausmaßes. 

    In einem Ihrer Bücher haben Sie geschrieben, dass womöglich eine Katastrophe von biblischem Ausmaß notwendig ist, damit wir alle neu denken. Sind wir jetzt so weit? Kann aus diesem Unglück etwas Gutes wachsen?
    SEGEV: Ich bin sehr pessimistisch. Aber es stimmt: Der schlimmste Krieg, den wir bis jetzt hatten, der Jom-Kippur-Krieg von 1973, brachte einen Friedensvertrag mit Ägypten hervor. Ob dieser Krieg, auch zu etwas Gutem führen kann? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie man diesen Konflikt lösen kann. Die Welt ist voll von Menschen, die das wissen – ich gehöre nicht dazu. 

    Viele hoffen nach wie vor auf die Zwei-Staaten-Lösung. Ist das realistisch?
    SEGEV: Nein, die Zwei-Staaten-Lösung ist schon seit Jahren nicht mehr realistisch. Es ist eine Illusion, eine Fiktion, der Versuch, sich an eine meiner Meinung nach falsche Hoffnung für den Frieden zu klammern. Dieser Konflikt dauert seit 100 Jahren an und lässt sich wahrscheinlich nur managen. Leider wurde er noch nie schlechter gemanagt als in den vergangenen Jahren von Benjamin Netanjahu.

    Was sind die Fehler des Ministerpräsidenten?
    SEGEV: Er hat das Konzept entwickelt, dass es gut sein könnte für Israel, wenn die Hamas im Gazastreifen herrscht. Weil so die Palästinenser gespalten sind zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland, wo die Fatah regiert. Netanjahu hat offenbar so fest daran geglaubt, dass er vieles übersehen hat. Er hat übersehen, dass die Hamas ein ganzes Arsenal von Raketen aufbauen konnte. Wozu braucht Gaza Raketen? Die Hamas hat Raketen gebaut, als ob das zu einer Art staatlichem Service gehören würde. Alle wussten das. Aber Netanjahu dachte, dass er so genial ist, das beherrschen zu können. 

    Wird Ministerpräsident Netanjahu diesen Krieg politisch überleben?
    SEGEV: Das ist im Moment gar nicht so wichtig. Trotzdem glaube ich: Netanjahu wird sein Amt nach diesem Krieg sicher nicht behalten können. 

    Sein Versprechen ist: Die Hamas darf diesen Krieg nicht überleben. Was bedeutet das?
    SEGEV: Das weiß kein Mensch. Ich glaube, das weiß nicht einmal die israelische Regierung selbst. Netanjahu gibt israelischen Medien seit Monaten keine Interviews mehr, er gibt öffentliche Statements ab, patriotische Floskeln – aber er beantwortet keine Fragen. Er musste sich ja schon vor dem Krieg einer großen öffentlichen Auseinandersetzung über die Grundregeln unseres Staates stellen. Die Justizreform hat viele bewegt. Nun ist Netanjahu etwas passiert, was ihm nicht oft passiert: Er musste sich entschuldigen. Er hatte die Demonstranten beschuldigt, dass die Proteste der Grund gewesen seien, warum die Hamas die israelische Gesellschaft für so schwach gehalten hat, dass man angreifen kann. 

    Die internationale Kritik am Vorgehen Israels wird lauter, auch, weil die psychologische Kriegsführung der Hamas mit der Zurschaustellung menschlichen Leids funktioniert. Könnte Israel denn in Gaza, mit all den Tunnels, den Verstecken in zivilen Einrichtungen, überhaupt einen „sauberen Krieg“ führen?
    SEGEV: Ich fürchte nein. Aber dieser Krieg hat ja auch nicht sauber angefangen. Es werden immer mehr Details über die Grausamkeit des Vorgehens der Hamas bekannt. 

    Vergisst man das zu schnell?
    SEGEV: Ein Krieg ist auch immer eine Propagandaschlacht. Manchmal ist es aber auch absurd: Die Hamas gibt Pressekonferenzen, sie ist auf den sozialen Medien. 

    Fürchten Sie, dass sich der Krieg doch noch ausweiten könnte? Bislang hält sich die Hisbollah zurück.
    SEGEV: Die Gefahr besteht und die Lage ist sehr angespannt im Norden Israels. Wenn wir in der Vergangenheit schauen, fing es oft mit kleineren Zwischenfällen an, etwa an der libanesischen Grenze. Es ist nicht klar, was die Hisbollah genau will. Aber sie hat 100.000 Raketen. Sie könnten Tel Aviv treffen. Der Iran mischt mit. Auch die USA haben die Sorge, der Krieg könne eskalieren.

    In Deutschland kommt es zu vielen Demonstrationen vor allem von Muslimen, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen. Hat die muslimische Welt aber nicht die Palästinenser immer wieder im Stich gelassen?
    SEGEV: Ja, absolut. Immer haben sie die Palästinenser im Stich gelassen. Als Ägypten Frieden geschlossen hat mit Israel, haben sie die Palästinenser im Gazastreifen im Stich gelassen. Als Jordanien Frieden geschlossen hat mit Israel, haben sie die Palästinenser im Westjordanland im Stich gelassen. In den vergangenen 50 Jahren hat es die ganze Welt hingenommen, dass Israel die Bürgerrechte der Palästinenser verletzt hat. Die Palästinenser sind das Waisenkind des Nahen Ostens. Das Problem ist: Wenn man die Palästinenser unterstützt, unterstützt man damit sehr oft auch die Hamas. Dabei wäre es für die Palästinenser das Beste, wenn diese Terrororganisation zerstört wäre oder zumindest nichts mehr sagen hätte. Die Menschen leiden fürchterlich unter der Hamas. Das sollten alle wissen, die bei Demonstrationen in Deutschland mitmachen. Aber sollen sie demonstrieren. Solange es keine Gewalttaten gibt. 

    Was könnte aus dem Gazastreifen werden nach diesem Krieg?
    SEGEV: Dieser Krieg – das ist zumindest mein Verdacht – hat kein Ziel für die Zukunft. Es gibt keinen klaren Plan, was geschehen könnte. Alles, was ich hoffe, ist, dass die Menschen, die innerhalb des Gazastreifens fliehen mussten, wieder zurückkönnen in ihre Orte. Aber so viele Häuser sind gar nicht mehr bewohnbar, vieles ist zerstört. Und ich hoffe, dass alle Geiseln zurückkönnen zu ihren Familien. Es ist alles sehr schwierig. Der Krieg wird sicher noch lange dauern – rufen Sie mich danach noch mal an. 

    Zur Person

    Tom Segev, 1945 als Sohn deutscher Einwanderer in Jerusalem geboren, gehört zu den einflussreichsten Historikern Israels. Er schrieb mehrere Standardwerke zum Nahen Osten. Zuletzt erschien sein Buch "

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