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Foto: Andreas Friese
Foto: Andreas Friese

Techniker-Krankenkassenchef Jens Baas kritisert überfällige Reformen im Gesundheitswesen: "Das Thema Krankenhaus ist eines der drängendsten Probleme in Deutschland."

Interview
14.09.2022

"Die Krankenversicherten zahlen jetzt die Zeche für die Politik"

Von Michael Pohl

Jens Baas ist Chef der größten deutschen Krankenkasse. Der frühere Arzt warnt vor weiter deutlich steigenden Beiträgen durch Fehler der Politik.

Herr Baas, Sie führen die Techniker Krankenkasse, mit elf Millionen Versicherten Deutschlands größte Krankenkasse. Nächstes Jahr steigen bei allen Kassen angesichts des Milliardendefizits im Gesundheitssystem die Beiträge. Reicht der Zusatzbeitrag, um die auch im Gesundheitsbereich drohenden Mehrkosten durch die Inflation auszugleichen?

Jens Baas: Nein, die Mehrkosten für Energie und steigende Preise durch die Inflation sind in dieser Rechnung so gut wie nicht berücksichtigt. Schon ohne die Folgen der Energiekrise muss der Beitragssatz der Krankenkassen im Schnitt in der Größenordnung 0,3 Prozentpunkte steigen – vielleicht auch mehr. Das aktuelle Finanzierungsgesetz zielt nur darauf, die Lücke für 2023 zu schließen, das heißt, spätestens im übernächsten Jahr drohen enorme Probleme, weil das Geld in der Zwischenzeit nicht vom Himmel fallen wird. Ich mache mir große Sorgen, weil wir schon jetzt ein riesiges Finanzierungsproblem haben. Es ist sehr ärgerlich, dass die Antwort der Regierung auf die finanzielle Schieflage im Gesundheitssystem lautet, dass die Beitragszahlenden noch mehr bezahlen sollen, zur Beitragserhöhung kommt beispielsweise auch ein drastischer Einzug der letzten Kassenreserven hinzu. Das sind auch Beitragsgelder. Das kann kein Konzept für die Zukunft sein.

Wo sehen Sie die Alternative zu steigenden Beiträgen?

Baas: Es ist wichtig, dass endlich überfällige Reformen im Gesundheitswesen angegangen werden. Vor allem aber sollte die Politik erst mal ihren eigenen Verpflichtungen nachkommen, bevor sie die Beitragszahlenden zur Kasse bittet. Ein großes Problem ist zum Beispiel, dass der Staat den Krankenkassen zu wenig Geld für die Versorgung der Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfänger bezahlt. Stattdessen übernehmen die Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenkassen diese Aufgabe des Sozialstaats, ohne dass dies übrigens für Privatversicherte gilt. Wir reden hier über eine jährliche Summe von rund zehn Milliarden Euro. Das für 2023 prognostizierte Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung beträgt 17 Milliarden Euro. Damit wird klar: Die Beitragszahlenden sollen unter anderem mit höheren Beiträgen die Zeche dafür bezahlen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt.

Wie groß ist die Gefahr, dass die Kassenbeiträge in den nächsten Jahren noch viel stärker steigen?

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Baas: Die Kerze brennt an beiden Enden: Die Ausgaben steigen ungebremst, vielleicht noch stärker als angenommen. Auf der anderen Seite verschärfen sich die Risiken auf der Einnahmeseite: Wenn Deutschland in eine tiefe Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit hineinläuft, sinken die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Zudem bin ich sehr skeptisch, dass in der Breite Tarifabschlüsse über der Inflationsrate zustande kommen und dadurch die Einnahmen steigen. Zumal viele Menschen heute gar nicht mehr in tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen stehen. Wir werden deshalb auch bei den Einnahmen im Gesundheitssystem Probleme bekommen. Umso wichtiger ist es jetzt mit Reformen an Strukturen heranzugehen. Jetzt rächen sich Versäumnisse der Vergangenheit.

Welche Fehler hat die Gesundheitspolitik gemacht?

Baas: Das Ärgerlichste an der heutigen Situation ist, dass die Politik die vielen guten Jahre nicht für Reformen genutzt hat, als die Konjunktur geboomt hat und sehr hohe Einnahmen ins Gesundheitssystem flossen. Das wäre der ideale Zeitraum gewesen, um zu investieren und Reformen anzugehen. Das hat die Politik komplett verschwitzt und stattdessen viele teure Gesetze produziert, die teilweise auch auf Kosten der Beitragszahlenden andere Interessen bedienen. Allein diese teuren Gesetze kosten uns inzwischen rund elf Milliarden Euro jedes Jahr, ohne dass sich die Versorgung der Patientinnen und Patienten relevant verbessert hat. Ein Beispiel ist das Termin-Service-Gesetz, wodurch sehr viel Geld zusätzlich für etwas ausgegeben wird, das eigentlich zur normalen Versorgungsaufgabe der Ärztinnen und Ärzte gehört, nämlich sich auch um neue Patientinnen und Patienten zu kümmern. Die Zeit und das Geld hätte man lieber in eine überfällige Krankenhausreform gesteckt, denn es dauert bestimmt zehn Jahre, bis sie Früchte trägt.

Die Klinken sind mit Abstand der größte Ausgabenposten der Krankenkassen. Eine Reform haben fast alle Parteien im Wahlkampf versprochen. Was sollte jetzt schnell passieren?

Baas: Das Thema Krankenhaus ist eines der drängendsten Probleme in Deutschland. Wir haben nicht unbedingt zu viele Krankenhäuser, aber viel zu viele Krankenhausbetten. Das kritisieren inzwischen selbst Klinikmanager. Es geht dabei nicht nur um das Geld, das diese Überkapazitäten kosten. Das Hauptproblem ist, dass durch die Überzahl an Betten die Versorgung für die Menschen nicht, wie man vielleicht denkt, besser ist. Die Versorgung wird dadurch deutlich schlechter.

Warum leidet die Versorgung?

Baas: Es ist zum Beispiel ein Riesenproblem, dass mehr als die Hälfte der Patientinnen und Patienten mit schweren Tumorerkrankungen nicht in den zur Verfügung stehenden zertifizierten Zentren behandelt wird, sondern in irgendeinem kleinen Krankenhaus. Dabei sinken unter dem Strich nachweislich die Überlebenschancen. Die Klinken bemühen sich gleichzeitig, die vielen teuren Betten voll zu bekommen: Es wird oft zu viel operiert, die Behandlungsqualität sinkt und die Pflegekräfte leiden darunter, dass sie in Deutschland viel mehr Betten betreuen müssen als in anderen Ländern. Wenn man dagegen die Zahl der Pflegekräfte pro Einwohner anschaut, steht Deutschland im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern deutlich besser da, als man denkt.

In der Pandemie ist die Zahl der Operationen zurückgegangen. Welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus?

Baas: Man konnte während der Corona-Krise bei den Eingriffen sowohl negative als auch positive Effekte feststellen. Viele Menschen sind offenbar aus Angst nicht zu Vorsorgeuntersuchungen oder zu spät zu Behandlungen ins Krankenhaus gegangen, das war oft schlecht für sie. Es gab aber auch viele Fälle, in denen es wohl gut für die Menschen war, nicht unter das Messer zu kommen.

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Zum Beispiel?

Baas: Wir haben zum Beispiel gesehen, dass die Zahl der Rücken-Operationen deutlich zurückgegangen ist. Und diese Operationen sind nicht alle zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt worden. Diesen Menschen ist wirklich etwas erspart geblieben. Ein Großteil der Rückenoperationen ist nicht notwendig. Häufig lassen sich Rückenschmerzen besser konservativ - zum Beispiel mit Physiotherapie - behandeln. Wir haben das mit Zahlen unseres Zweitmeinungsangebots untersucht: 85 Prozent der Patientinnen und Patienten, die sich vor einer Rücken-OP eine Zweitmeinung in einem speziellen Schmerzzentren eingeholt haben, riet das Schmerzteam von der Operation ab und die Teilnehmenden sind auch dauerhaft ohne OP ausgekommen.

Was müsste jetzt geschehen?

Baas: Wir brauchen einen Plan mit klaren Zielen, wie die Krankenhaus-Struktur in Zukunft aussehen soll und mit welchen Schritten man diese Ziele erreicht. Die Frage ist, wie man die bestmögliche Versorgung zu den Menschen bringt. Es muss aber gar nicht darum gehen, möglichst viele Kliniken zu schließen: Wir müssen nur unbedingt mit dem Irrtum aufräumen, dass jede Klinik alles kann und viele Krankenhäuser, die alles machen, eine gute Versorgung bedeuten. Das Gegenteil ist richtig.

Für die Menschen auf dem Land ist aber ein nahes Krankenhaus wichtig. Werden sie nicht Verlierer einer solchen Reform sein?

Baas: Wir brauchen eine wohnortnahe Versorgung, aber das muss nicht eine 200-Betten-Klinik der Vergangenheit sein, sondern kann auch eine neue Art von Krankenhaus sein, das auch sehr viel ambulante Versorgung leistet. Wir erleben ja, dass in vielen ländlichen Regionen wegen des Ärztemangels die hausärztliche Versorgung bereits zum Problem wird. Deshalb brauchen wir in diesen regionalen Häusern eine fachärztliche Grundversorgung und ebenso auch einzelne Betten für Notfälle zum Übernachten. Aber eben nicht im Sinne des alten Krankenhauses. Wir brauchen neue Klinikstrukturen, die ineinandergreifen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat für die Krankenhausreform eine neue Expertenkommission eingesetzt. Glauben Sie, dass es in dieser Legislaturperiode zu einer Reform kommt?

Baas: Jeder Politiker hat Angst davor, das Thema anzufassen. Da reicht es nicht, eine Expertenkommission einzusetzen, die vielleicht sogar gute Konzepte erarbeitet. Die eigentliche Königsdisziplin ist es, eine Reform gegen starken politischen Widerstand durchzubringen und so zu verankern, dass sie nicht von der nächsten Regierung aufgeweicht wird. Momentan scheint sich die Kommission eher an Detailfragen abzuarbeiten. Doch die Zeit drängt. Wir brauchen endlich eine langfristige Politik. Wir brauchen auch ein grundlegendes Konzept für die Digitalisierung und wie wir zu fairen Arzneimittelpreisen kommen. Wir haben die letzten zehn Jahre immer nur Pflaster auf die Probleme geklebt. Als Arzt kann ich nur sagen, unter so einem Pflaster kann es gewaltig gären. Und genau das erleben wir im Moment. Wir brauchen keine Pflaster, sondern endlich eine grundlegende Therapie. Sonst ist irgendwann zu spät.

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