Herr Ruttig, Sie verfolgen die Geschehnisse in Afghanistan schon sehr lange. Sie lebten mehr als 13 Jahre im Land. Woher erhalten Sie heute Ihre Informationen?
Thomas Ruttig: Ich bin Mitbegründer der Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network, die weiter vor Ort tätig ist. Ich habe viele Kontakte zu Menschen dort, spreche die beiden wichtigsten Landessprachen.
Was wissen Sie über die humanitäre Situation in Afghanistan?
Ruttig: Im Winter half, dass die UN die Hälfte der Bevölkerung mit Nahrung versorgte. Das hat viele Menschenleben gerettet. Doch für den kommenden Winter zeichnet sich die nächste zyklische humanitäre Krise ab.
Nicht wenige Experten haben erklärt, man könne die heutigen Taliban nicht mit denen vergleichen, die von 1996 bis 2001 an der Macht waren. Doch jetzt scheinen erneut ultrakonservative Akteure die Oberhand zu behalten.
Ruttig: Es war lange unklar, ob der Westen seine Truppen ohne Machtteilung zwischen Taliban und der Kabuler Regierung abziehen würden. So lange zeigten sich die Taliban kompromissbereit. Als Präsident Biden im April 2021 trotzdem den Abzug anordnete, sahen sie die Chance, allein die Macht zu ergreifen. Da waren Kompromisse für sie nicht mehr nötig. Wenn es heute innerhalb der Taliban Kontroversen gibt, bedeutet das nicht, dass es untereinander völlig zerstrittene Fraktionen gibt. Die Taliban setzen alles daran, eine Spaltung und so einen Machtverlust wie 2001 zu vermeiden.
Wie gefestigt ist die Herrschaft der Islamisten?
Ruttig: Keine der vorhergehenden Regierungen hatte das Land derart unter Kontrolle wie sie jetzt. Es gibt keine Opposition, die ihre Macht derzeit gefährden kann. Meinungsverschiedenheiten unter den Taliban überzubewerten, weckt die falsche Hoffnung, ihr Regime werde bald kollabieren.
Die UN beklagen öffentliche Auspeitschungen, die Auslöschung der Frauenrechte und die Einschränkung der Pressefreiheit.
Ruttig: Zu Recht. Neu ist, dass brutale Körperstrafen zuletzt zugenommen haben, und zwar auf Anweisung der Taliban-Führung in Kandahar. Es ist kaum vorstellbar, dass es noch schlimmer kommen kann. Für Menschen in Afghanistan ist es schwierig, sich gegen diese Entwicklung zu stellen, weil die Scharia, das islamische Recht, Teil ihrer Religion ist.
Es gibt Berichte über vermehrte psychische Probleme bei Mädchen und Frauen und eine steigende Zahl von Selbstmorden. Können Sie das bestätigen?
Ruttig: Ja, mir liegen solche Berichte ebenfalls vor. Viele Frauen und Mädchen waren schon früher isoliert und entrechtet. Dadurch, dass die Taliban versuchen, das auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten, erhöht sich der psychische Druck weiter. In vielen Familien geben ihn Väter oder Brüder weiter – manche aus Angst, manche aus Zustimmung. Viele Familien schützen ihre Frauen und Mädchen aber auch gegen die Entrechtung durch die Taliban. Erstaunlich ist, dass trotz der Repressionen immer noch Menschen Widerstand leisten, insbesondere Frauen. Wir wissen aber, dass häufig auch deren männliche Angehörige verhaftet und noch viel brutaler behandelt werden.
Das Taliban-Regime hat den Frauen verboten, für UN-Hilfsorganisationen zu arbeiten. Ein Verstoß gegen UN-Statuten. Dennoch bleiben die UN, wie auch die deutsche Welthungerhilfe im Land. Fällt man so Afghaninnen, die verzweifelt für Ihre Rechte kämpfen, nicht in den Rücken?
Ruttig: In der UN gibt es den humanitären Imperativ, Hilfe in einer Krisensituation zu leisten, unabhängig vom Regime. Es ist natürlich richtig, die Leute nicht verhungern zu lassen, in einer katastrophalen Lage, in der fast die gesamte Bevölkerung von humanitärer Hilfe abhängig ist. Gleichzeitig darf man seine Prinzipien nicht über Bord werfen. Der Punkt wird kommen, an dem die UN und nicht staatliche Organisationen Konsequenzen ziehen müssen, wenn die Taliban Frauen als Helfer nicht wieder zulassen. Es müssen aber auch Nischen bewahrt werden. Es gibt ja weiter Afghaninnen, die für die UN oder andere Hilfsorganisationen tätig sind, zum Teil von zu Hause aus, und weiter bezahlt werden, mit Zustimmung von Taliban-Behörden. Gut wäre es, wenn alle Hilfsorganisationen mit einer Stimme gegenüber den Taliban sprächen. Bei denen gibt es pragmatische Kräfte, die verstehen, dass das Land Bildung für und Arbeit von Frauen benötigt.
Was kann der Westen tun?
Ruttig: Die Politik der Regierungen im Westen muss realistisch und selbstkritisch sein. Dass die Taliban zum zweiten Mal an die Macht gekommen sind, ist das Resultat des politischen Scheiterns des kollektiven Westens in Afghanistan. Er ist nicht für die Verbrechen der Taliban verantwortlich, aber dafür, dass sie dazu wieder die Möglichkeit haben. Deshalb hat der Westen eine Bringschuld den Menschen in Afghanistan gegenüber.
China knüpft Kontakte, ohne auf die Einhaltung von Menschenrechten zu pochen.
Ruttig: Ja, China stellt keine Bedingungen für die Zusammenarbeit mit den Taliban, unterstützt aber politische Forderungen an sie, durch die Zustimmung zu UN-Resolutionen. Wie alle anderen Länder erkennt es die Taliban nicht als Regierung an, obwohl es einen Botschafter in Kabul hat. Die Rolle Chinas in Afghanistan wird allerdings überbewertet, gerade was die Umsetzung von Großprojekten betrifft. Vieles davon ist entweder nur sehr langfristig realisierbar oder schlicht unrealistisch. Peking will sich - wie andere Staaten auch - Zugang zu strategischen Rohstoffen wie Lithium sichern. China will aber nicht den Westen in seiner bisherigen Rolle in Afghanistan ersetzen. Es ist nicht interessiert, sich in die afghanischen Konflikte hineinziehen lassen. Peking hat gesehen, welch hohen Preis andere Supermächte dafür gezahlt haben.
Zur Person: Der Diplom-Regionalwissenschaftler (Afghanistik) Thomas Ruttig, Jahrgang 1967, arbeitete von 1989 bis 2000 als außen- und entwicklungspolitischer Journalist. Danach war er als Mitarbeiter der UN-Mission Unsma/Unama in Afghanistan tätig. Er ist Mitgründer des unabhängigen Thinktanks Afghanistan Analysts Network.