Herr Waigel, seit einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. Wladimir Putin versucht, dem Westen eine Mitschuld zu geben und behauptet, Nato und Europäische Union hätten sich entgegen früherer Zusagen zu weit in Richtung Russland ausgedehnt. Was sagen Sie dazu?
Theo Waigel: Diese Behauptung ist absurd. Fakt ist: Alle Dinge, die in den 90er Jahren bis ins Jahr 2014 hinein geschehen sind, wurden mit Russland abgesprochen. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung existierten ja noch die Sowjetunion und der Warschauer Pakt. Folglich konnten damals gar keine Garantien gegeben werden – schon gar nicht von deutscher Seite. Ich bin kein Historiker, aber im Gegensatz zu den Historikern, die darüber schreiben, war ich dabei.
Was also haben Sie den Russen wirklich versprochen?
Waigel: In den bewegenden Gesprächen zur Wiedervereinigung im Juli 1990 im Kaukasus haben wir Michail Gorbatschow eines versprochen: Dass es keine ausländischen Nato-Streitkräfte und keine Kernwaffen auf dem Boden der DDR geben wird. Und das haben wir eingehalten. Konsequent. Ihm wäre es am liebsten gewesen, Deutschland neutral zu halten. Das haben wir aber strikt abgelehnt. Eine andere Idee war, ob Deutschland sowohl der Nato als auch dem Warschauer Pakt angehören könnte. Bundeskanzler Helmut Kohl hat klipp und klar gesagt: Ein souveräner Staat muss selber bestimmen können, welchem Bündnis er angehört. Nach stundenlangen Diskussionen hat Gorbatschow das akzeptiert. Aber, auch das muss ich sagen: Außer ihm war auf Sowjet-Seite niemand über das Ergebnis glücklich. Wir hatten damals ein großes Glück.
Es waren historische Tage, an denen eben nicht klar war, dass Deutschland bald wiedervereinigt sein würde. Wie haben Sie die Stimmung erlebt?
Waigel: Manchmal habe ich gedacht, ich träume. Damals standen 400.000 sowjetische Soldaten auf deutschem Boden in der DDR. Über die Zahl der Panzer, Atombomben und Raketen brauche ich gar nicht zu reden. Es wäre jederzeit möglich gewesen, diese Panzer in Bewegung zu setzen. Als die Demonstrationen in der DDR begannen, hat Erich Honecker versucht, den Kreml zu überzeugen, das Ganze niederzuwalzen. Damals hat Gorbatschow zwei Leute in Deutschland angerufen und sie um Rat gefragt. Der eine war Willy Brandt und der andere war Helmut Kohl. Beide haben ihm gesagt: Das sind friedliche Menschen, die haben nichts gegen die Sowjetunion, aber sie wollen nichts mehr mit Honecker und dieser alten Crew zu tun haben. Gorbatschow vertraute Kohl und Brandt mehr als Honecker.
Sie hatten auch später noch Kontakt mit Gorbatschow, er wurde bald nach diesen Gesprächen gestürzt ...
Waigel: Es war dramatisch. Ich bin damals nach Moskau geflogen. Boris Jelzin hatte Gorbatschow schon aus dem Kreml vertrieben. Er war leichenblass, gebeugt, mitgenommen. Ich habe ihm gesagt: Herr Präsident, in den letzten Wochen und Monaten haben viele Menschen in Deutschland um sie gebangt und für sie gebetet. Da rannen ihm Tränen übers Gesicht, und er sagte: In der Not erkennt man, wo man seine Freunde hat. Aber das Große an diesem Mann war: Er hat seine Idee von Freiheit durchgesetzt – im Wissen, dass er persönlich scheitern könnte. Das unterscheidet ihn von vielen anderen.
Viele Menschen haben heute Angst, dass der Ukraine-Krieg Deutschland erreicht, am Wochenende gab es große Demonstrationen. Unter anderem hatten Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer dazu aufgerufen. Was halten Sie davon?
Waigel: Ich respektiere jeden Pazifisten, der für sich in Anspruch nimmt, ohne Waffen und ohne Waffengewalt zu leben, und der dann auch bereit ist, alle Konsequenzen bis hin zum Gefängnis, zur Marter und zum Tod auf sich zu nehmen. Aber das ist nur eine Philosophie für jeden Einzelnen. Sie können anderen Menschen nicht zumuten, unter einem verheerenden System leben zu müssen, wenn sie sich dagegen wehren wollen. Frieden ist in der Vergangenheit weniger durch den Pazifismus, sondern durch eine kluge, abwägende Politik entstanden.
Zum Beispiel?
Waigel: In meinem damaligen Wahlkreis in Neu-Ulm stand eine Pershing-2-Rakete mitten in der Stadt. Anfang der 80er Jahre hat sich eine Menschenkette von Stuttgart bis Ulm mit über 500.000 Menschen gebildet, die dagegen protestierten – gegen unsere Politik und letztlich auch gegen mich. Aber dazu, dass diese Rakete heute nicht mehr in Neu-Ulm steht, hat nicht dieser Marsch geführt, sondern die Entschlossenheit des Westens. Der Nato-Doppelbeschluss führte letztendlich zur größten Abrüstung aller Zeiten. Weil Gorbatschow eingesehen hat, dass es völlig sinnlos ist, dass wir immer noch mehr aufrüsten. Frieden ist ein Meisterstück der Vernunft.
Im Moment stehen viele Deutsche der Ukraine bei. Fürchten Sie, dass die Stimmung irgendwann kippen wird?
Waigel: Ich hoffe es nicht. Doch dazu ist es notwendig, politische Führung zu zeigen, so wie sie damals Helmut Schmidt gezeigt hat, und dann Helmut Kohl.
Macht der heutige Bundeskanzler das ausreichend? Ihm wird oft vorgeworfen, dass er nicht genug kommuniziert.
Waigel: Dass Olaf Scholz ein Kommunikator ist, kann man nicht gerade behaupten. Meines Erachtens muss in solchen Situationen zunächst beraten, dann entschieden und dann begründet werden. Dass wir über jeden Panzer, den wir möglicherweise der Ukraine zur Verfügung stellen, vorher eine Riesendiskussion führen, halte ich für suboptimal. Ich wünsche mir mehr Entschlossenheit, mehr politische Führung. Deutschland als stärkste Nation in der Europäischen Union hat eine Führungsfunktion – ob wir wollen oder nicht. Da sollte man sich nicht hinter den Amerikanern verstecken.
Scholz hat 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr zugesagt. Doch es geht nur langsam voran.
Waigel: Was mir fehlt, ist eine stärkere europäische Kooperation, auch bei der Beschaffung und bei großen Rüstungsvorhaben. Auch die Aufträge an die Rüstungsindustrie, die man bisher miserabel behandelt hat, müssen hochgefahren werden. Bisher ist da noch nicht viel passiert. Das ärgert mich.
Sie waren ein Kind, als Ihr Bruder an der Front des Zweiten Weltkriegs gefallen ist. Was macht es mit Ihnen, wenn Sie mit 83 Jahren noch einmal einen Krieg in Europa erleben müssen?
Waigel: Mein Bruder wurde mit 17 Jahren eingezogen, kam nach Frankreich. Er hat 64 Briefe an unsere Eltern und auch an mich geschrieben. In seinem letzten Brief sagte er: „Manchmal wäre es mir lieber, es würde schon zu Ende sein. Aber man lebt doch gern, man lebt doch gern!“ Das hat er drei Tage vor seinem Tod heimgeschrieben. Ich kann mich noch erinnern, wie der Bürgermeister im Oktober 1944 in unser Haus kam und mitteilte, dass mein Bruder gefallen ist. Ich höre noch das Totenglöcklein von Oberrohr läuten, wenn wieder ein Soldat gefallen war.
Wie kann der Krieg in der Ukraine enden?
Waigel: Ich glaube, die Zeit für einen Waffenstillstand und für einen Frieden ist erst gegeben, wenn Putin erkennt, dass er seine Ziele nicht erreicht. Seine Diplomatie ist gescheitert, die Ökonomie ist gescheitert, und so blieb ihm die militärische Lösung. Spätestens nach der Okkupation der Krim im Jahr 2014 hätten alle Alarmglocken läuten müssen.
Auch bei der Bundeskanzlerin?
Waigel: Bei allen.
Was hätte Helmut Kohl anders gemacht als Angela Merkel oder Olaf Scholz?
Waigel: Kohl war ein nüchterner Politiker. Er hätte mit Sicherheit spätestens 2014 gesagt: So kann unsere Politik nicht weitergehen. Ich habe erlebt, wie er auch gegenüber Boris Jelzin klipp und klar gesagt hat, was geht und was nicht geht. Kohl hat sich nie unter Druck setzen lassen.
Sie selbst waren an Weihnachten 1987 erstmals in Moskau. Die Reise dürfte Ihnen nicht nur wegen der Gespräche mit Gorbatschow in Erinnerung geblieben sein, sondern auch wegen der Umstände. Der Pilot war Franz Josef Strauß.
Waigel: Als wir landeten, sprang der Co-Pilot in die Kabine und schrie: So etwas mache ich nie mehr mit! Bis dahin hatten wir noch geklatscht, das haben wir dann eingestellt. Abends wollte ich wissen, was da los war. Er sagte: Wir hätten da nie und nimmer landen dürfen, weil die Witterungsverhältnisse so miserabel waren. Da habe ich Strauß gefragt, warum wir trotzdem gelandet sind. Seine Antwort: Weil wir kein Benzin mehr gehabt haben … Immerhin: Die Sowjets waren ungeheuer begeistert von seinem Flugvermögen. Aber wenn ich gewusst hätte, wie der Flug läuft, dann bin ich nicht ganz sicher, ob ich eingestiegen wäre.
Sie sind seit über 60 Jahren Mitglied der CSU. Nur einmal haben Sie leichtfertig gesagt, für eine bestimmte Frau würden Sie sogar die Junge Union verlassen ...
Waigel: In den 50er Jahren war für mich Gina Lollobrigida die schönste Frau der Welt. Ich gebe zu: Da wäre ich vielleicht auch mal in meiner Zuneigung für Franz Josef Strauß und die Junge Union unsicher geworden. Jahrzehnte später war ich auf einer Benefizveranstaltung in München. Gina Lollobrigida sollte auch da sein. Doch plötzlich kam einer und sagte, sie sei unpässlich und bleibe lieber auf ihrem Zimmer. Ich habe ihm erzählt, dass es der Traum meiner Jugend gewesen sei, einmal dieser Frau zu begegnen. Dann ging er rauf auf das Zimmer und stellen Sie sich vor: Eine halbe Stunde später kam sie runter und wir hatten einen netten Abend. Ich möchte übrigens betonen, dass meine Frau Irene auch mit dabei war. (lacht)
Damals hatten Sie einen Promi-Status, werden Sie auch heute noch oft erkannt?
Waigel: Vor zwei Jahren war ich in Tirol, da kam ein Mann auf mich zu, schaute mich an und sagte: Sie sind aber nicht der Theo Waigel? Ich sagte: Nein. Da sagte er: Stimmt, der ist ja schon gestorben. Ich habe ihm dann geantwortet: Sie haben recht – vor drei Jahren oder so. (lacht)
Ein Karikaturist hat sie mal als „höchst karikabel“ bezeichnet. Könnte etwas mit den Augenbrauen zu tun haben ... Haben Sie je überlegt, die zu schneiden?
Waigel: Die Aussage kommt vom Karikaturisten Ernst Maria Lang. Der sagte: Sie haben wenigstens ein Gesicht. An meinen Augenbrauen hat sich noch niemand mit der Schere betätigen dürfen. Ich war vor einiger Zeit in einer Talkshow. Danach kam eine Zuschrift: Unmöglich, Ihre Augenbrauen! Die linke ist noch schlimmer als die rechte! (lacht). Neulich war ein Fernsehteam bei mir zu Hause. Da wollte jemand da oben was wegschneiden. Ich habe gesagt: Lassen Sie das bitte bleiben! Ich bring Sie um!
Zur Person: Theo Waigel, 83, war als Finanzminister (1989-1998) und CSU-Vorsitzender (1988-1999) eng in die Prozesse rund um die deutsche Wiedervereinigung eingebunden. Heute ist der Vater dreier Kinder CSU-Ehrenvorsitzender. Waigel stammt aus Oberrohr bei Krumbach. Nach dem Studium der Rechts-und Staatswissenschaften arbeitete er als Gerichtsassessor, ehe er in die Politik wechselte. Er lebt mit seiner Frau Irene im Allgäu.