Frau Stark-Watzinger, Sie waren vor Weihnachten in Israel. Bildung und Forschung sind nicht die ersten Stichwörter, die uns im Zusammenhang mit dem Konflikt in Nahost einfallen. Was war der Grund für die Reise?
BETTINA STARK-WATZINGER: Wir haben schon sehr lange eine gute wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Israel. Sie war sogar die erste Brücke zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland. Ich war auf Einladung des Bildungsministers dort, um mir selbst vor Ort ein Bild von der Lage zu machen. Israel lebt von Forschung, von Innovation. Die jungen Menschen hoffen, in zwei Wochen das Semester beginnen zu können. Viele der Studierenden, aber auch der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind ja derzeit im Militärdienst. Es war insgesamt ein sehr bewegender Besuch, der noch mal ganz deutlich gezeigt hat, wie wichtig die Solidarität von deutscher Seite ist.
Sie haben unter anderem den Kibbuz Kfar Aza in unmittelbarer Nähe des Gazastreifens besucht. Wie haben Sie das Geschehen dort erlebt?
STARK-WATZINGER: Wir haben in diesem Kibbuz, der überfallen wurde, die Brutalität gesehen, mit der jüdisches Leben am 7. Oktober von der Hamas vernichtet wurde. Wir haben mit Zeugen gesprochen, die uns die Unmenschlichkeit des Terrorangriffs vor Augen geführt haben. Es wurde keine Rücksicht genommen, auch nicht auf Kinder oder Ältere. Was für mich persönlich besonders schwer wiegt, ist die gezielte Gewalt gegen jüdische Frauen und Mädchen und das laute Schweigen einiger Organisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen sollen. Das ist sehr schwer zu ertragen. Wir haben auch Schulen besucht, in denen evakuierte Kinder jetzt lernen. Die Herausforderung dort ist, wie man den Alltag organisiert, damit die Kinder ein Stück Normalität haben und die Bildungslücken nicht zu groß werden.
Im Juli waren Sie schon einmal in Israel. Damals gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen die Justizreform der Regierung zu demonstrieren. Es gab auch Kritik aus dem Ausland. Diese wiederholt sich gerade an anderer Stelle, es geht um das Vorgehen des israelischen Militärs gegen die Menschen im Gazastreifen. Ist solche Kritik zulässig oder verbietet sie sich, solange der Krieg dauert?
STARK-WATZINGER: Natürlich darf man die israelische Regierung auch kritisieren, aber man darf mit Blick auf den Terrorangriff keine Täter-Opfer-Umkehr vornehmen. Angesichts dieser Unmenschlichkeit, dieses Hasses, der von Hamas ausgeht, hat Israel jedes Recht, sich zu verteidigen. Israel ist eine Demokratie, es wird einen Aufarbeitungsprozess geben. Und es ist die Hamas, die es jederzeit in der Hand hat, diese Auseinandersetzung zu beenden, indem sie ihre Angriffe auf Israel umgehend einstellt.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel haben Sie sich intensiv mit dem wachsenden Antisemitismus an deutschen Hochschulen beschäftigt. Wie ist Ihr Eindruck?
STARK-WATZINGER: Es ist etwas aufgebrochen. Was vor dem 7. Oktober vielleicht nur gedacht und nicht gelebt wurde, zeigt sich jetzt ganz öffentlich – auch in den Hochschulen. Sie rangieren in Deutschland nach der Straße, sozialen Medien und öffentlichen Gebäuden auf Platz vier der Orte, an dem am meisten antisemitische Vorfälle gemeldet werden. Hochschulen sind Orte maximaler Freiheit, aber sie sind nicht rechtsfrei. Natürlich müssen gesellschaftliche Debatten geführt werden. Aber Antisemitismus ist keine Meinung, sondern Antisemitismus ist Ausdruck von Hass und Verschwörungstheorien. Wir müssen darüber sprechen, was rechtsstaatlich getan werden kann, es geht aber beispielsweise auch um die Hochschulleitungen und die Ausübung des Hausrechts bis hin zur Exmatrikulation in besonders schweren Fällen. Neben aller Prävention müssen Antisemiten die Konsequenz des eigenen Handels zu spüren bekommen.
Antisemitismus hat auch mit Bildung und Wissen zu tun. Vermitteln die Schulen in Deutschland nicht genügend gesellschaftliche Kompetenz?
STARK-WATZINGER: Der 7. Oktober muss an den Schulen thematisiert werden, auch wenn es an manchen eine Herausforderung darstellt. Sich auszuschweigen, ist keine Lösung. Wir müssen uns dem Antisemitismus entgegenstellen. In einer offenen Gesellschaft wie unserer gehört zu guter Bildung natürlich Lesen, Schreiben und Rechnen. Aber eben auch Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
Was heißt das mit Blick auf den Antisemitismus?
STARK-WATZINGER: Viele Lehrerinnen und Lehrer sind darauf nicht vorbereitet, vor allem nicht praktisch. Wir unterstützen daher mit unserer Antisemitismusforschung, die sehr anwendungsorientiert ist. Das umfasst auch die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien. Unser Ziel ist ein noch stärkerer Schulterschluss von Politik, Gesellschaft, Forschung und Praxis, damit die Lehrerinnen und Lehrer mehr Unterstützung bekommen und ihnen der Rücken gestärkt wird.
Pisa hat dem deutschen Bildungswesen ein Armutszeugnis ausgestellt. Die Kurve zeigt schon seit Jahren nach unten. Waren Sie überrascht?
STARK-WATZINGER: Das Ergebnis ist bedrückend und war leider keine Überraschung. Wer jetzt sagt, allein Corona oder die Zuwanderung seien schuld, macht es sich zu leicht.
Sondern?
STARK-WATZINGER: Wir brauchen dringend eine bildungspolitische Trendwende. Gerade die Grundkompetenzen müssen wir stärken. Mit dem Startchancen-Programm werden wir hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Wir haben vor Weihnachten die dafür notwendige Bund-Länder-Vereinbarung ausverhandelt, damit das Programm wie vereinbart zum Schuljahr 2024/25 starten kann. Ein weiterer Punkt: In anderen Ländern haben Lehrer einen ganz anderen Stellenwert. Sie können mehr selbst entscheiden, ihr Berufsbild als Teil des Innovationsprozesses selbst weiterentwickeln. In Deutschland hingegen bekommen sie die Schulbürokratie als Begleiter. Das muss sich ändern.
Sie haben als Gegenreaktion eine Grundgesetzänderung und eine Koalition der Willigen für eine bessere Zusammenarbeit der Länder mit dem Bund angeregt. Hat die Kulturhoheit der Länder ausgedient?
STARK-WATZINGER: Die Kultusministerkonferenz hat sich ja selbst evaluieren lassen und das Ergebnis spricht eine klare Sprache: zu lange Prozesse, zu wenig Steuerung. Aber da kann und will ich mich nicht von der Seitenlinie einmischen. Das ist Sache der Länder. Festhalten kann man sicherlich, dass die Zusammenarbeit der 16 Bundesländer untereinander und mit dem Bund nicht immer einfach ist. Ich würde mir wünschen, dass wir bei den notwendigen Veränderungen in der Bildung schneller werden.
Wie?
STARK-WATZINGER: Indem der Bund nicht mit allen 16 Ländern zusammenarbeitet, sondern mit denen, die es ausdrücklich wollen. Bisher darf der Bund in der Bildung nur dann mit den Ländern Programme vereinbaren, wenn alle Länder zustimmen. Wir müssen das Tempo erhöhen. Pisa hat gezeigt, wie sehr die Zeit drängt.
Der Etat Ihres Ministeriums wird in Folge des Karlsruher Urteils erneut gekürzt. Können Sie Ihre Vorhaben trotzdem umsetzen?
STARK-WATZINGER: Wir leisten jetzt einen Konsolidierungsbeitrag von 200 Millionen Euro und das ist nicht schön, aber notwendig. Unsere Prioritäten in Bildung und Forschung sind davon nicht betroffen. Die Milliarde für das Startchancen-Programm steht nicht zur Debatte.
Und wie sieht es beim BAföG aus? Mindestens die Energiepreise werden im nächsten Jahr steigen. Können die Studierenden fürs nächste Jahr mit einer BAföG-Anpassung rechnen oder muss die ausfallen?
STARK-WATZINGER: Wir arbeiten daran, sehr schnell den nächsten Schritt der BAföG-Reform umzusetzen. Wir wollen damit nach der großen Reform zu Beginn der Legislaturperiode weitere strukturelle und finanzielle Verbesserungen beim BAföG zum Wintersemester 2024/25 erreichen.
Sie gehören einer Regierung an, die den Umfragen zufolge nicht besonders beliebt ist. Die gerade beschlossenen Etatkürzungen in Zusammenhang mit höheren Belastungen etwa bei der CO2-Bepreisung dürften die Stimmung nicht verbessern. Hält die Ampel dem Druck stand?
STARK-WATZINGER: Beim CO2-Preis kehren wir auf den von der Vorgängerregierung vorgesehen Pfad zurück. Ich verstehe, dass darauf geschaut wird. Andererseits wird es durch das Inflationsausgleichsgesetz 15 Milliarden Euro Steuerentlastungen geben, die jedem zugutekommen. Oder nehmen Sie die Absenkung der Stromsteuer. Man muss also das Gesamtpaket sehen. Mit Blick auf das nächste Jahr ist jetzt ein Kompromiss gefunden worden. Wir alle haben einen Beitrag zu leisten, was die Umsetzung angeht. Das ist die Verantwortung jeder Ministerin und jedes Ministers.
Die Ampel will also standhalten. Was ist mit Ihrer Partei – hält die FDP der Ampel stand? Was passiert zum Beispiel, wenn die Mitgliederbefragung zu ihrem Ergebnis kommt, dass die Koalition ausgedient hat?
STARK-WATZINGER: Es ist das gute Recht der Mitglieder, sich zur Koalition zu äußern. Wir sind eine basisdemokratische Partei. Mein Eindruck aus vielen Gesprächen ist, dass es ein großes Verständnis für die herausfordernde Situation gibt, in der wir uns befinden. Und die FDP hat bereits viel bewegt in einer nicht ganz einfachen Konstellation, in der drei ganz unterschiedliche Parteien zusammenkommen und Kompromisse schließen müssen. Ich bin deshalb überzeugt, dass es richtig ist, dass wir Teil dieser Regierung sind und bleiben.
In wenigen Tagen findet das traditionelle Dreikönigstreffen statt. Welche Botschaft sollte Ihrer Meinung nach von dem Treffen ausgehen?
STARK-WATZINGER: An Dreikönig werden wir noch einmal unterstreichen, wofür wir als Freie Demokraten stehen. Für Freiheit und Verantwortung. Für die Soziale Marktwirtschaft und den Rechtsstaat. Wir sind die politische Kraft, die den Menschen vertraut. Die davon überzeugt ist, dass das Beste für unser Land noch vor uns und nicht schon hinter uns liegt. Dass wir die Zukunft gestalten können. Das ist unser politisches Angebot. Und das ist gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen aktueller denn je.
Wie feiern Sie vorher Silvester? Mit Krach und Böllern oder eher leise?
STARK-WATZINGER: Ich bin vier Tage mit meiner Familie zusammen und es wird sicherlich auch ein bisschen Feuerwerk geben.
Zur Person
Bettina wurde am 12. Mai 1968 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Volkswirtschaftslehre und war anschließend in der Finanzbranche in Frankfurt tätig. Nach einem Auslandsaufenthalt in London wechselte sie in das Bildungswesen und war unter anderem Geschäftsführerin eines Forschungsinstituts in Frankfurt. 2017 zog Stark-Watzinger für die FDP in den Bundestag ein. Seit Dezember 2021 ist sie Bundesministerin für Bildung und Forschung. Stark-Watzinger ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Bad Soden am Taunus.