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Interview: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: "Tatsächlich ist kein Problem gelöst"

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SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: "Tatsächlich ist kein Problem gelöst"

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    Martin Schulz beim Interview mit unserer Zeitung. Die Kanzlerin, sagt er, laufe über rote Teppiche – er sei bei Menschen und ihren Problemen.
    Martin Schulz beim Interview mit unserer Zeitung. Die Kanzlerin, sagt er, laufe über rote Teppiche – er sei bei Menschen und ihren Problemen. Foto: Marcus Merk

    Herr Schulz, Sie sind fulminant gestartet, die SPD steht geschlossen hinter ihrem Kandidaten, was in früheren Wahlkämpfen nicht immer der Fall war. Warum war der Hype so schnell wieder zu Ende?

    Martin Schulz: Ich habe dem nie ganz getraut. Wir haben dann zwei Landtagswahlen verloren, darunter die in Nordrhein-Westfalen. Für die SPD ist das so, als würde die CSU Bayern verlieren. Das mussten wir erst mal wegstecken. Im Moment liegen wir bei 25 Prozent – das reicht nicht, um die Bundestagswahl zu gewinnen, ist aber deutlich mehr als die 20 Prozent, als ich die SPD-Führung übernommen habe. Und 35 Prozent der Bürger sagen, sie hätten sich noch nicht entschieden, für mich als Wahlkämpfer ist das die wichtigste Zahl.

    Sind diese 25 Prozent nur eine Laune der Demoskopie – oder haben Sie auch selbst Fehler gemacht?

    Schulz: Bestimmt. Ich habe mich auf Bitten von Hannelore Kraft aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen herausgehalten.

    Nach einer neuen Studie wählen nur noch 17 Prozent der Arbeiter die SPD, aber 34 Prozent die Alternative für Deutschland. Ist die SPD keine Arbeiterpartei mehr?

    Schulz: Ich habe meine Zweifel an solchen Zahlen. Der überwiegende Teil der Industriearbeiterschaft wählt nach wie vor uns. Das haben auch die Analysen in Nordrhein-Westfalen gezeigt.

    Ihr erstes Thema als Kanzlerkandidat war das Thema Gerechtigkeit…

    Schulz: … das bleibt es auch! Es geht um Verteilungsgerechtigkeit genauso wie um Leistungsgerechtigkeit und gleiche Chancen für alle, zum Beispiel in der Bildung.

    "Die Union begünstigt die Reichen."

    Trotzdem blieb unter dem Strich der Eindruck, die SPD wolle damit nur die Besitzstände ihrer eigenen Anhängerschaft verteidigen, zum Beispiel durch die Verlängerung des Arbeitslosengeldes.

    Schulz: Wenn jemand Besitzstände verteidigt, dann ist es doch die CDU. Wir entlasten kleine und mittlere Einkommen, die Union begünstigt die Reichen. Uns geht es nicht nur um Steuergerechtigkeit, sondern auch um eine gute Gesundheitsversorgung für alle anstelle einer Zwei-Klassen-Medizin oder um die Frage, ob es gerecht ist, wenn die Generation, die die höchsten Rentenbeiträge zahlt, am Ende die niedrigsten Renten bekommt. Ist es gerecht, wenn jemand 17 Millionen Euro Bonus bekommt, der einen Konzern an die Wand gefahren hat, eine alleinerziehende Mutter aber Kita-Gebühren zahlen muss? Deutschland geht es gut, ja. Aber das heißt noch nicht, dass es allen Deutschen gut geht.

    Das ist Martin Schulz

    Martin Schulz wurde am 20. Dezember 1955 in Hehlrath (heute Stadt Eschweiler) geboren. Mit seiner Frau Inge hat er zwei gemeinsame Kinder.

    Der gerlernte Buchhändler tratt 1974 in der SPD ein und engagierte sich bei den Jusos (Jungsozialisten).

    Seit 1999ist Schulz Mitglied des SPD-Parteivorstandes und Parteipräsidiums.

    Schulz und die Europa-Politik: Mitglied des Europäischen Parlaments ist Martin Schulz seit 1994. Von 2014 bis 2017 war er der Präsident des Europäischen Parlaments.

    Ende 2016 kündigte Schulz seinen Wechsel in die Bundespolitik an:

    Seit kurzem ist bekannt, dass er als neuer SPD-Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 2017 antreten wird. Der Parteivorsitzende Gabriel hat auf dieses Posten verzichtet.

    2016 wurde die Biografie "Martin Schulz - vom Buchhändler zum Mann für Europa" veröffentlicht. In dem Buch kommen unter anderem die Wegbegleiter Sigmar Gabriel und Jean-Claude Juncker zu Wort.

    Martin Schulz wird immer wieder als wortgewant, witzig, impulsiv und direkt beschrieben.

    Lesen und Fußball sollen zu seinen Hobbys zählen.

    Sie versprechen viel. Ein höheres Rentenniveau, das Ende des Solidaritätszuschlages, kostenlose Bildung. Wie wollen Sie das alles finanzieren?

    Schulz: Alles, was wir vorgeschlagen haben, ist seriös finanziert. Was die Union bietet, ist ein unseriöser Witz. 30 Milliarden jährlich für Rüstung, 15 Milliarden Steuerentlastungen, ohne zu sagen, wo das herkommen soll. Ein Beispiel: Wir wollen die Mitte entlasten, indem der Spitzensteuersatz später greift. Dafür steigt er bei hohen Einkommen von 42 auf 45 Prozent.

    Sie haben Ihren Ton gegenüber Angela Merkel deutlich verschärft. Liegt das auch daran, dass Sie sie nicht wirklich zu fassen bekommen, weil alles an ihr abprallt oder weil sie in weiten Teilen sozialdemokratische Politik macht?

    Schulz: Angela Merkel hat eine Botschaft. Hier bin ich – das muss reichen. Diese Verweigerung jeder Debatte schadet dem demokratischen Wettbewerb. Ich glaube auch nicht, dass sie in diesem Wahlkampf mit dieser Strategie Erfolg haben wird.

    Viele Menschen fühlen sich bei ihr irgendwie gut aufgehoben. Ist das nicht Ihr größtes Handicap im Wahlkampf, diese gefühlte Zufriedenheit?

    Schulz: Nein, das glaube ich nicht. Deutschland ist ein starkes Land. Aber Deutschland kann mehr. Ich verstehe Eltern, die sagen: Es kann doch in einem so reichen Land nicht sein, dass es in die Schulen reinregnet. Ich verstehe das junge Paar, das sich trotz zweier Einkommen in einer Großstadt keine Wohnung mehr leisten kann. Wir haben konkrete Konzepte vorgelegt. Von CDU und CSU kommt nichts, ja, die sind sogar komplett zerstritten. Die CSU muss einen Bayernplan vorstellen, der die Bad Bank der CDU-Programmatik ist, weil man sich nicht mal in zentralen verfassungsrelevanten Fragen einig ist.

    Warum soll jemand, der bislang die Union gewählt hat und damit Frau Merkel, diesmal die SPD und Sie wählen? Wer von ihr enttäuscht ist, ist es wegen der Flüchtlingspolitik oder ihrer Europapolitik. Bei der SPD bekommt er im Zweifel noch mehr Flüchtlinge und noch mehr

    Schulz: Sehen Sie: Frau Merkel hat erklärt, sie habe Großes mit Europa vor – aber was genau, das sage sie dann nach der Wahl. Das halte ich für einen Skandal. Ich sage vor der Wahl, was ich will: Ich will einen europäischen Finanzminister, der die Steuerflucht bekämpft. Ich will Investitionen in der Eurozone und ein eigenes Budget. Ich bin bei den Menschen und ihren Problemen, Angela Merkel läuft über rote Teppiche. Angela Merkel steht für Taktik, ich stehe zu meinen Überzeugungen.

    Noch mehr Kompetenzen an Europa abgeben – das ist in Deutschland nicht sonderlich populär.

    Schulz: Das sagen Sie! Ich sage: Ein europäischer Finanzminister kann endlich dafür sorgen, dass nicht nur der Bäcker um die Ecke seine Steuern bei uns zahlt, sondern auch ein multinationaler Konzern, der seine Gewinne bisher ins Ausland schafft.

    "Die Flüchtlingsfrage ist nicht gelöst."

    Wie das Thema Europa spielt auch die Flüchtlingskrise in diesem Wahlkampf bisher kaum eine Rolle: Wie soll unser Land in fünf Jahren aussehen, was können wir an Zuwanderung noch verkraften? Warum so zurückhaltend, Herr Schulz?

    Schulz: Ich spreche offen über die Flüchtlingspolitik. Als Kanzler werde ich mein Veto einlegen gegen einen EU-Haushalt, der Ländern Geld gibt, die in der Flüchtlingsfrage unsolidarisch sind. Die Flüchtlingsfrage ist nicht gelöst. Italien braucht dringend Hilfe. Wir müssen jetzt handeln, wenn wir nicht wieder ungeordnete Zustände wie 2015 wollen. Mit Panzern am Brenner, wie manche in Österreich glauben, werden sich die Leute jedenfalls nicht aufhalten lassen. Das wahre Drama in der Flüchtlingspolitik ist die europäische Passivität. Frau Merkel sagt, wir haben alles unter Kontrolle, tatsächlich ist kein Problem gelöst.

    Machen wir es konkret: Wie hält es die SPD mit dem Thema Begrenzung?

    Schulz: Wir wollen ein Zuwanderungsgesetz und am besten ein europäisches. So können wir ein System der Hoffnungslosigkeit durch ein System der Hoffnung ersetzen. Im Klartext: Wir schaffen legale Wege, aber nicht jeder kann kommen. USA, Kanada, Australien: alle Einwanderungsländer haben solche Gesetze. Sie können sich bewerben, und wenn sie nicht genommen werden, können Sie sich weiter bewerben. Wer es aber illegal versucht, verspielt seine Chancen.

    Es sei denn, der- oder diejenige beantragt Asyl.

    Schulz: Dann wird das geprüft. Und jemand, der Asyl beantragt und uns täuscht, kann sich anschließend nicht mehr auf das Einwanderungsrecht berufen. Warum weigert sich die Union, darüber zu reden? Das Gefasel unseres Innenministers über Leitkultur kann ich nicht mehr hören. Gehört dazu auch die sprichwörtlich preußisch-korrekte Bürokratie? Davon sehe ich bei Herrn de Maizière, dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge untersteht, nicht viel. Da kann sich ein Rechtsextremer als syrischer Flüchtling registrieren. Darum sollte Herr de Maizière sich mal kümmern.

    Ist unsere Bürokratie überfordert – oder die Politik?

    Schulz: Wir brauchen geordnete Verhältnisse und legale Zugänge über ein europäisches Einwanderungsgesetz. Viele beantragen nur Asyl, weil es ihre einzige Chance ist. So würden wir den Schleppern schnell das Handwerk legen. Aber die Union führt stattdessen diese Debatte über die Obergrenze. Im Moment ist es doch so: Dass wir keine klaren europäischen Regeln haben, sorgt für Chaos. Das regt mich auf und viele andere Leute auch.

    "Erdogan ist auf dem Weg in die Autokratie."

    Sie haben sich lange dafür starkgemacht, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Wie sehr haben die Ereignisse seit dem Putsch vor einem Jahr Ihren Blick auf die

    Schulz: Das geht schon länger zurück. Erdogan war anfangs ein Reformer. Nun ist er auf dem Weg in die Autokratie und bricht die Brücken nach Europa ab. Wir sollten die Ausweitung der Zollunion stoppen – das trifft Erdogan wirklich – und die EU-Gelder für die Beitrittsvorbereitung dürfen nicht mehr fließen. Wenn die Türkei die Todesstrafe einführt, sind auch die Beitrittsverhandlungen sofort zu Ende.

    Außenminister Sigmar Gabriel und Sie haben den Ton gegenüber der Türkei deutlich verschärft. Alle wichtigen Entscheidungen aber, zum Beispiel die über die Zollunion oder das Einfrieren der EU-Hilfen, müssen in Brüssel getroffen werden. Kämpft Gabriel mit einem stumpfen Schwert?

    Schulz: Nein. Aber Frau Merkel will das offenbar nicht. Wenn ich Kanzler wäre, hätte ich das in Brüssel längst durchgesetzt. Sonst gilt doch der Satz: Was der deutsche Kanzler und der deutsche Finanzminister wollen, das bekommen sie auch.

    Ein großes Manko der SPD im Wahlkampf ist das fehlende Zutrauen in ihre Sicherheitspolitik. Viele Menschen empfinden sie nicht erst seit den Kölner Silvesterkrawallen und dem Fall Amri als zu lax. Was würde ein Kanzler Schulz hier ändern?

    Schulz: Mehr Polizei, mehr Staatsanwälte und Richter, schnellere Verfahren, Prävention. Wir brauchen einen schlagkräftigeren Verfassungsschutz, mehr Mitarbeiter, die Arabisch sprechen und eine bessere Kooperation der Behörden. Ich halte das Thema Sicherheit für eines der wichtigsten. Sicherheit ist nicht nur

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