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Interview: SPD-Fraktionschef Mützenich: "Ich bin ganz sicher kein Putin-Versteher"

Interview

SPD-Fraktionschef Mützenich: "Ich bin ganz sicher kein Putin-Versteher"

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    Der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, war Gast unserer Redaktion.
    Der Chef der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, war Gast unserer Redaktion. Foto: Bernhard Weizenegger

    Herr Mützenich, hört Olaf Scholz auf Sie, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine geht?

    Rolf Mützenich: Wir tauschen uns regelmäßig aus. Die Bundesregierung ist durchaus interessiert daran, auch diejenigen mit einzubeziehen, die die

    Sie gelten als Skeptiker, wenn es um Waffenlieferungen für die Ukraine geht. Wie bewerten Sie, dass nun zum Beispiel in Polen die Unterstützung bröckelt?

    Mützenich: Die polnische Haltung, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wahlkampfs von Regierungsmitgliedern der PiS-Partei geäußert wurde, finde ich vollkommen verantwortungslos. Meine Herangehensweise ist eine ganz andere. Ich orientiere mich an der Charta der Vereinten Nationen, die jedem angegriffenen Land ein Selbstverteidigungsrecht zuspricht. Vor diesem Hintergrund unterstütze ich, dass wir der Ukraine auch mit Waffenlieferungen helfen. Wo ich mich von meinen Kritikern unterscheide, ist, dass ich auch immer wieder den Begriff der Diplomatie benutzt habe, ohne damit Verhandlungen mit Putin zu meinen, der offensichtlich nicht verhandlungsbereit ist. Diplomatie heißt aber, Länder zu finden, die uns später helfen, den Krieg in einen Zustand des Nicht-Kriegs – von Frieden wird man noch lange nicht reden können – zu überführen. Denn ich glaube, der Krieg wird letztlich nicht auf dem Schlachtfeld beendet werden, sondern am Verhandlungstisch. 

    Glauben Sie, dass der Rückhalt grundsätzlich schwinden wird, wenn sich dieser Krieg noch über einen langen Zeitraum hinzieht?

    Mützenich: Ich habe immer noch den Eindruck, dass es ein Erschrecken über diesen Krieg und eine Sorge um dessen Entgrenzung gibt sowie gleichzeitig eine große Bereitschaft, das humanitäre Leid der Menschen zu lindern. Deshalb würde ich nicht sagen, dass die Unterstützung für die Ukraine durch den langen Krieg schwindet. 

    Medien berichten, dass sich die US-Regierung für eine Lieferung von ATACMS-Raketen in die Ukraine ausgesprochen hat. Steigt der Druck auf Deutschland, ebenfalls Taurus-Marschflugkörper zu liefern?

    Mützenich: Eine Lieferung derart hochtechnischer und nur mit guter Ausbildung einsetzbarer Systeme muss genau geprüft werden. Wir sind souverän und natürlich gut beraten, uns mit unseren Partnerinnen und Partnern eng abzustimmen. Die amerikanische Regierung hat zu dem Thema bisher keine öffentliche Verlautbarung abgegeben. Das zeigt, dass sie sich noch in einem Abwägungsprozess befindet, genauso wie die Bundesregierung. Wir haben im Gegensatz zu manch anderer Regierung gezeigt, dass wir dann, wenn wir militärische Güter zusagen, diese auch liefern. Nach den USA ist Deutschland zweitgrößter militärischer Unterstützer der Ukraine. Deswegen brauchen wir uns nicht zu verstecken und schon gar nicht zu entschuldigen. 

    Ist die Bundesregierung nicht zu vorsichtig in ihrem Agieren?

    Mützenich: Ich bin mir unsicher, ob diese schlichte Betrachtungsweise der Gefährlichkeit der besonderen Situation angemessen ist. Kriege entwickeln sich nicht in den Amtszimmern von Regierungschefs, wenn sie denn einmal ausgebrochen sind. Rationalität zu unterstellen, ist ein großes Wagnis. Manchmal werde ich ja als Putin-Versteher bezeichnet. Das bin ich sicher nicht. Ich glaube aber, diejenigen, die immer sagen, Putin sei nicht zum Äußersten bereit, sind auch keine Putin-Versteher. Sie sollten lesen, was Putin in der Vergangenheit gesagt hat. Er hält einen Atomkrieg eigentlich für undenkbar, aber eine Welt ohne Russland ist für ihn noch unvorstellbarer. Deshalb sollten wir gewarnt sein. 

    Das Regieren in Berlin dürfte noch schwieriger werden, weil der finanzielle Spielraum für die vielen Ampelprojekte kleiner wird...

    Mützenich: In der Tat: Regieren ist in diesen Zeiten eine der größten Herausforderungen. Aber dies gilt ja nicht nur für Deutschland, sondern für viele Länder der Welt, die von den durch Russlands Krieg hervorgerufenen Krisen oder durch den Klimawandel besonders betroffen sind. Umso wichtiger war es, dass die SPD darauf geachtet hat, im ersten Jahr der Regierungsbeteiligung ihre wichtigen Vorhaben auch umzusetzen. Sprich: Den Mindestlohn, das Bürgergeld, die Ausweitung der Wohngeldempfänger, die Erhöhung des Kindergeldes. Dazu die Mindestausbildungsvergütung, das Recht auf Ausbildung, das Fachkräfte-Einwanderungsgesetz und vieles mehr – das alles sind konkrete Fortschritte, die wir bereits umgesetzt haben. Keine schlechte Bilanz für die Sozialdemokratie. 

    Es wird künftig nicht mehr so leicht sein, soziale Wohltaten zu beschließen, wenn massiv Geld in die Bundeswehr investiert wird. Sie haben sich ein Leben lang für Abrüstung eingesetzt. Wie lange können Sie diese Zumutungen eigentlich noch mit Ihren Überzeugungen vereinbaren?

    Mützenich: Ich neige nicht dem Begriff der Wohltaten zu, den Sie verwendet haben. Ich würde von sozialen Rechten sprechen. Mir ist sehr wichtig und daran hat sich mein Handeln immer orientiert, dass ich Dinge hinterlassen möchte, die sich nicht so leicht durch andere politische Mehrheiten wieder verändern lassen. Ich bin kein Wahrsager, aber ich würde behaupten, dass andere politische Mehrheiten niemals wieder den Mindestlohn abschaffen werden. Das Bürgergeld wird vielleicht etwas verändert werden, aber es wird als Institution bleiben. Und es wird auch weitergehen: Zum Beispiel werden wir noch das Tariftreue-Gesetz durchbringen, ein Garant für gute Löhne und weniger Altersarmut. 

    Wenn Sie aber hinnehmen, dass die Ausgaben für Rüstung steigen, dann bleiben Ihre Überzeugungen doch auf der Strecke?

    Mützenich: Wissen Sie, meine Überzeugungen orientieren sich nicht an einer Legislaturperiode, ich gebe Sie nicht am Kleiderständer ab. Ich bin weiterhin der Auffassung, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle die beste Richtschnur sind, um Vertrauen mühsam irgendwann wieder aufzubauen. Und umso mehr bemühe ich mich darum, auch andere Länder außerhalb Europas davon zu überzeugen, dass unkontrollierte Rüstungswettläufe Spannungen erhöhen. Ich mache mir große Sorgen darüber, dass in Asien praktisch ohne Sinn und Verstand eine fast unkontrollierbare Aufrüstungsspirale in Gang gesetzt wurde.

    Glauben Sie, dass es unter Putin noch möglich ist, in so einen Prozess zu kommen?

    Mützenich: Ich befürchte, dass das schwer umsetzbar sein wird, solange Putin an der Macht ist. Umso wichtiger ist aber, dass wir uns auch um die anderen Konflikte kümmern. Schauen Sie nach Berg-Karabach. Alle, die glauben, dass durch die Rückeroberung dieses Gebietes, durch vermeintlich klare Verhältnisse auf der Landkarte, dieser Konflikt beendet sei, werden mit Sicherheit eines Besseren belehrt werden. Wir sollten alle Kräfte nutzen, um die Institutionen zu stärken, die dort als Vermittler infrage kommen. Zum Beispiel den Europarat, eine weitgehend vergessene Organisation. 

    War es ein Fehler, dass man 2008 die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen hat?

    Mützenich: 2008 hatten wir eine ganz andere Regierung in der Ukraine, eine ganz andere Meinungsbildung unter der dortigen Bevölkerung. Ich fand die Entscheidung der Regierung Merkel und des damaligen französischen Präsidenten Sarkozy nachvollziehbar. Ich glaube, ein Nato-Beitritt der Ukraine hätte damals die Spannungen noch zusätzlich erhöht und Präsident Putin noch früher zu einem Krieg ermuntert. 

    Zur Person: Rolf Mützenich, 64, ist seit September 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Der Familienvater aus Köln gehört dem Bundestag seit 2002 an. 

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