Herr Kukies, Sie sind jetzt beinahe ein Vierteljahr Finanzminister. Wie hat sich Ihr Leben seitdem gewandelt?
Jörg Kukies: Als Minister wird man in der Öffentlichkeit natürlich stärker wahrgenommen. Aber es gibt große inhaltliche Überlappungen mit dem, was ich zuvor im Kanzleramt und hier im Finanzministerium getan habe.
Für einen Sozialdemokraten haben Sie eine ungewöhnliche Biografie. Sie waren Juso-Chef in Ihrer Heimat Rheinland-Pfalz, später machten Sie Karriere in der Hochfinanz bei Goldman Sachs, um anschließend in die Spitzenpolitik zu wechseln. Wie bekommen Sie den Banker und Genossen in sich zusammen?
Kukies: Diese Frage kommt immer wieder. Es ist eine deutsche Besonderheit, dass Politik und Wirtschaft so streng getrennt sind. International ist es nicht unüblich, dass Finanzminister über Erfahrungen in der Privatwirtschaft verfügen - ein gutes Beispiel dafür ist mein französischer Amtskollege Eric Lombard, der früher bei einer privaten und einer öffentlichen Bank war. Mein polnischer Amtskollege Andrzej Domanski und mein amerikanischer Amtskollege Scott Bessent waren früher Fondsmanager. In vielen Ländern ist das also normal. Die Einblicke, die ich in der Privatwirtschaft gewinnen konnte, haben mir später in der Politik immer geholfen.
Letzte Frage zu Ihrer persönlichen Lage. Angenommen Olaf Scholz gewinnt die Wahl und kann wieder eine Regierung bilden. Hätten Sie Lust, das Amt weiterzuführen?
Kukies: Über die Zusammensetzung der nächsten Bundesregierung entscheiden die Wählerinnen und Wähler am 23. Februar.
Glauben Sie an Wahlwunder?
Kukies: Olaf Scholz ist ein sehr starker Wahlkämpfer und bis zu den Wahlen wird noch viel passieren.
Sie waren vor einigen Tagen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Wie wird die deutsche Wirtschaft, immerhin Nummer 1 in Europa, wegen Ihrer Schwäche bewertet?
Kukies: Ich habe in Davos mehrfach gesagt, dass die strukturelle Wachstumsschwäche Deutschlands in der Bundesregierung als ein riesengroßes Problem erkannt ist und gelöst werden muss. Wir haben ein Potenzialwachstum von unter einem Prozent. Das heißt, dass wir – selbst bei normal laufender Wirtschaft – nur noch ein Mini-Plus erreichen. Wir müssen die Rahmenbedingungen für die Unternehmen dringend verbessern. Leider konnten wir die Maßnahmen aus der Wachstumsinitiative, die auf das strukturelle Wachstumspotential eingezahlt hätten, nicht mehr umsetzen. Ab dem 24. Februar müssen wir das umso mehr angehen. Das erwarten auch unsere internationalen Partner von uns – das war auch das klare Bild, das sich in Davos gezeigt hat.
Ganz schön spät, oder? Der ökonomische Abstieg Deutschlands hält seit Jahren an.
Kukies: Deutschland hat die Kraft zur Veränderung. International ist unser gigantisches Innovationspotential absolut anerkannt. Das leugnet niemand. Wir müssen nur diese Kraft kanalisieren und zur Entfaltung kommen lassen.
Das Top-Thema in Davos war Donald Trump, der nach seinem Wiedereinzug ins Weiße Haus ein Dekret nach dem anderen unterschreibt und international mit großem Druck erste Erfolge erzielt. Konnten Sie in Davos eine Ahnung davon erlangen, was er mit Deutschland vorhat?
Kukies: Trump war das große Thema. Die Sichtweisen sind aber noch nicht sehr klar, weil er zwar viele Dekrete unterzeichnet hat, aber ein Teil der Minister noch nicht im Amt sind. Bevor wir jetzt Diskussionen über Gegenreaktionen starten, müssen wir erstmal wissen, was genau die Aktionen der neuen US-Administration sein werden. Ich plädiere für den Dialog und für den Austausch. Es gibt auch ein Interesse der amerikanischen Seite, in Verhandlungen zu Einigungen zu kommen und viele Herausforderungen globaler Dimension werden die USA auch nicht im Alleingang lösen können. Ob man dies dann Einigungen oder Deals nennt, halte ich für komplett zweitrangig. Hauptsache, wir finden einen Weg für eine gute Zusammenarbeit.
Deuten Sie hier so etwas wie einen neuen Anlauf für ein Freihandelsabkommen an, das früher unter dem Begriff TTIP diskutiert wurde?
Kukies: Wir sollten mit den USA ganz offen über ein Freihandelsabkommen sprechen. Es wird andere Parameter haben als früher, aber es ist wichtig, ein Angebot zu machen. Und aus meiner Sicht ist das beste Angebot, dass wir mehr miteinander handeln als weniger. Der neue amerikanische Präsident hat großes Interesse daran gezeigt, mehr Energie nach Europa zu exportieren. In allen Analysen, die ich kenne, ist und bleibt Deutschland Importeur von Energie und die USA Exporteur. An der Stelle passen unsere Interessen also zusammen. Je mehr Angebot es von exportierenden Ländern gibt, uns Energie zu schicken, desto besser. Das ist die Idee. Und es gibt eine Zweite, die unsere Dekarbonisierungsziele berücksichtigt.
Welche?
Kukies: Wir sollten ausloten, ob die USA bereit wären, nicht nur Öl und Gas in eine mögliche Vereinbarung einzubeziehen, sondern auch Wasserstoff. Im Gegenzug müsste sich Europa öffnen und sagen, wir konzentrieren uns nicht nur auf grünen Wasserstoff, wir nehmen auch blauen. Blauer Wasserstoff wird beispielsweise mit Erdgas hergestellt, bei der Herstellung wird CO2 abgeschieden und entweder wiederverwendet oder unter der Erde gespeichert, dadurch verbessert sich die CO2-Bilanz erheblich. Ich habe mit zahlreichen amerikanischen Energie-CEOs gesprochen, die großes Interesse haben, flexibel grünen und blauen Wasserstoff nach Deutschland und Europa zu exportieren. Um diese Technologie auch in Deutschland für die konstengünstige Dekarbonisierung der Wirtschaft zum Einsatz kommen zu lassen, hat die Bundesregierung ein Gesetz vorgelegt. Der Entwurf ist leider gerade am Widerstand der Grünen-Bundestagsfraktion gescheitert – obwohl der eigene Kanzlerkandidat im Bundeskabinett zugestimmt hat.
Deutschland befindet sich in einer delikaten Lage. Wenn Amerika und China als unsere größten Handelspartner aufeinanderprallen, kann es sehr schnell ungemütlich werden für die deutsche Wirtschaft. Kann man sich da als Land überhaupt vorbereiten, wenn zwischen diesen beiden Supermächten steht?
Kukies: Zu Amerika habe ich ja gerade gesagt, was ich für eine gute Möglichkeit halte. Deutschland als Exportnation kann sich aber breiter aufstellen. Deshalb drängt die Bundesregierung die EU-Kommission dazu, weitere Freihandelsabkommen abzuschließen. Die EU ist ja für die Handelspolitik zuständig. Während wir daran arbeiten, dass das Mercosur-Abkommen mit Lateinamerika zügig in Kraft treten kann, sollten wir mit voller Energie auf andere Länder wie Indien und Indonesien schauen. In allen Gesprächen, die ich dazu führe, wird ein großes Interesse daran deutlich, mit uns ins Geschäft zu kommen und Handelshemmnisse abzubauen.
In Davos sprachen Sie sich für eine Reform der Schuldenbremse aus, um Geld locker zu machen, damit die Wettbewerbsfähigkeit wieder gesteigert werden kann. Wie soll diese Reform aussehen und was ist ihr Zweck?
Kukies: Das Hauptproblem unserer Volkswirtschaft ist die Wachstumsschwäche. Die Frage ist, wie steigern wir das Wachstumspotential? Und da hat die Wirtschaftswissenschaft einige klare Antworten: Eine bessere Bildung der Kinder in Kindergärten und Schulen. Bessere Mobilisierung von Fachkräften. Bessere steuerliche Anreize und Rahmenbedingungen für Investitionen, Forschung und Entwicklung. Mehr Ausgaben für die Grundlagenforschung an den Hochschulen und eine Verbesserung des Transfers der Forschungsergebnisse in die Wirtschaft. Die Modernisierung von Straßen, Schienen und Brücken. Wir können eine zielgerichtete Reform der Schuldenbremse dafür nutzen, durch Investitionen in die öffentliche Infrastruktur unser Wachstumspotential zu verbessern. Gleiches sollte für die Stärkung der Bundeswehr gelten. Wir werden für die Verteidigung etliche Milliarden zusätzlich aufbringen müssen, die nicht aus dem Haushalt herausgequetscht werden können. Dafür sind die Summen zu hoch. Aber wir dürfen nicht vergessen: zusätzlich zur zielgerichteten Reform der Schuldenbremse müssen wir unsere Wirtschaft dynamischer machen, zum Beispiel indem wir Bürokratie und Berichtspflichten abbauen, Genehmigungsverfahren beschleunigen, Fachkräfteeinwanderung vereinfachen.
Geben Sie uns eine Hausnummer, welche Beträge auf Pump zusätzlich benötigt werden, um spürbare Effekte zu erzielen? Auch mit der Schuldenregel nimmt der Bund bereits rund 50 Milliarden Euro pro Jahr an Krediten auf.
Kukies: Es wäre sicherlich falsch, jetzt eine konkrete Zahl in den Raum zu werfen. Viele Variablen kennen wir noch nicht, zum Beispiel, wie viel Geld die Nato-Länder künftig für Verteidigung ausgeben werden.
Letzte Frage zur Schuldenbremse: Was passiert eigentlich, wenn Friedrich Merz die Wahlen gewinnen sollte und es bei der jetzigen Form der Schuldenbremse bleibt?
Kukies: Diese Frage sollten Sie Herrn Merz stellen. Ich stelle mir sie auch. Berechnungen verschiedener Institute zufolge würden die Vorschläge der Union 100 Milliarden Euro in Form von Steuerausfällen und Mindereinnahmen kosten. Ich sehe nicht, wie das gehen soll. Auch darum wird es im Wahlkampf gehen.
Keine leichte Frage für einen Finanzminister – sind hierzulande die Steuern zu hoch?
Kukies: Wir brauchen Investitionsanreize, wir brauchen Anreize für Forschung und Entwicklung. Wir haben im ursprünglichen Steuerfortentwicklungsgesetz gesagt, wir müssen die Steuern für Unternehmen senken, indem wir großzügigere Regeln für Abschreibungen beschließen und die steuerliche Forschungszulage ausweiten. Leider gab es dafür keine Mehrheit. Zum Glück hat das Parlament den Ausgleich der Kalten Progression und die Erhöhung von Kindergeld und Kinder-Sofortzuschlag beschlossen. Auch das ist eine Entlastung, aber wir wären gerne weitergegangen.
Wo sehen Sie noch Spielraum, wenn noch mehr gegangen wäre?
Kukies: Es wird sicherlich nötig sein, in den Koalitionsverhandlungen über Entlastungen bei Steuern zu reden, gar keine Frage. Aber was derzeit im Wahlkampf zum Beispiel von Union und FDP in Aussicht gestellt wird, geht deutlich über das Finanzierbare heraus. Wir sollten keine Blankoschecks ausstellen. Ich halte gezielte Zuschüsse für Investitionen für geeigneter, wie der Bundeskanzler und die SPD es mit dem sogenannten Made-in-Germany-Bonus vorschlagen.
Wir haben noch eine Frage zur aufgewühlten Debatte der zurückliegenden Tage. Erfüllt es Sie mit Sorge, dass CDU-Chef Friedrich Merz zur Begrenzung der Migration in Kauf nimmt, mit der AFD zu stimmen?
Kukies: Ich finde fatal, was da passiert. Die Union macht damit die AfD salonfähig, indem sie deren Positionen normalisiert. Die AfD ist zutiefst wirtschaftsfeindlich und will aus unserem wichtigsten Exportmarkt, der EU, austreten. Wir brauchen reguläre Zuwanderung, um den Fachkräftemangel der deutschen Wirtschaft auffangen zu können. Unser Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat entsprechend viel Zuspruch aus der Wirtschaft erfahren.
Zur Person: Jörg Kukies hat nach dem Rauswurf von Christian Lindner (FDP) das Finanzministerium übernommen. Der 56-Jährige ist ein enger Vertrauter von Bundeskanzler Olaf Scholz. Seit 2018 diente er ihm als Staatssekretär. Vor seinem Wechsel in die Politik machte Kukies Karriere in der Finanzindustrie, war unter anderem Deutschlandchef der US-Investmentbank Goldman Sachs. Er ist Anhänger des Fußballklubs Mainz 05, dem Verein seiner Heimatstadt.
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