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Erdogan-Besuch in Deutschland: Interview mit türkischen Journalisten Can Dündar

Interview

Can Dündar: "So wie die Dinge jetzt laufen, legt Erdogan die Regeln fest, nicht Deutschland"

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    Can Dündar, ehemals politischen Gefangener in der Türkei und türkischer Journalist, warnt die deutsche Politik davor, ihre Werte zu verraten.
    Can Dündar, ehemals politischen Gefangener in der Türkei und türkischer Journalist, warnt die deutsche Politik davor, ihre Werte zu verraten. Foto: Annette Riedl, dpa

    Herr Dündar, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird am Freitag von Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin empfangen. Wie sehen Sie diesen Besuch?
    CAN DÜNDAR: Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind von einer Art Hassliebe geprägt. Es ist offensichtlich, dass die deutsche Regierung Erdogan und seinen politischen Ansatz nicht mag. Und Erdogan ist auch nicht gerade begeistert von der deutschen und westlichen Politik. Aber beide Seiten brauchen sich gegenseitig. Es geht darum, gemeinsam Geschäfte zu machen. Man ist bereit, Differenzen auszublenden und sich auf die gemeinsamen Interessen zu konzentrieren. Es ist traurig zu sehen, dass Deutschland bereit ist, seine Werte zu opfern. Der deutsche Bundeskanzler war der erste Staatsmann überhaupt, der Erdogan nach der Präsidentschaftswahl zu einem Staatsbesuch einlud, obwohl er wusste, dass die Wahlen überhaupt nicht fair waren.

    Hätte man Erdogan gar nicht erst einladen sollen?
    DÜNDAR: Mir ist der Wert von Prinzipien in Politik und Diplomatie wichtig. Ist es in Deutschland nicht verboten, für die Hamas auf die Straße zu gehen? Erdogan stellt sich öffentlich auf die Seite der Hamas. Trotzdem legt man ihm den roten Teppich aus. Es gelten also unterschiedliche Standards für unterschiedliche Personen … Das ist falsch, es muss Folgen haben, wenn man Terrorismus unterstützt. Wer Menschenrechte ignoriert und die Rechtsstaatlichkeit zerstört, wer Journalisten ins Gefängnis steckt, wer eine Organisation wie die Hamas oder auch den IS fördert, muss auch Konsequenzen spüren. Das gilt nicht nur für Präsident Erdogan, sondern für alle Autokraten. Westliche Regierungen müssen sich einsetzen für ihre Werte. Aber es ist nicht neu, dass sie das nicht machen – manchmal unter dem Vorwand der Flüchtlingskrise, manchmal mit dem Hinweis auf die Interessen der Nato. Ich schätze, die Deutschen denken anders als die deutsche Regierung: Die Hälfte von ihnen ist gegen den Besuch von Erdogan.

    Erdogan weiß, wie wichtig er für die Deutschen und die Europäer ist. Glauben Sie, er versucht, Profit daraus zu ziehen?
    DÜNDAR: Erdogan ist ein gerissener Mann. Er weiß genau, wie er die Krisen anderer Menschen als Chance für sich nutzen kann. Das hat er schon bei der Flüchtlingskrise gezeigt. Auch den Krieg in der Ukraine nutzt er für seine eigenen Ziele aus: Er verkauft Waffen an Kiew und macht gleichzeitig Geschäfte mit Moskau. Zugleich will er als Vermittler auftreten. Auch den Antrag Schwedens auf Nato-Mitgliedschaft nutzte er, um seine Gegner zurückzuerobern. Diese Chance erhofft er sich nun auch im Krieg im Nahen Osten. Deshalb will er zeigen, dass er direkten Zugang zur Hamas hat, um beim Deal um die Geiseln hilfreich zu sein. Es wird für die deutsche Regierung schwierig sein, der deutschen Bevölkerung zu erklären, warum sie einen Hamas-Anhänger in Berlin willkommen heißt – aber sie wird einen Weg finden ...

    Was die einen den Verrat der eigenen Werte nennen, nennen andere Realpolitik.
    DÜNDAR: Ich verstehe, dass die Politik mit schwierigen Themen zu kämpfen hat. Aber wer Autokraten Geld und politischen Rückhalt gibt, der schafft neue Probleme. Nehmen Sie den Flüchtlingsdeal. Die Türkei hat viele Flüchtlinge aufgenommen, mehr als vier Millionen – und leidet nun selbst. Klar, man kann sagen, dass das jetzt deren Problem ist. Aber das ist sehr kurzsichtig. Wenn uns Demokratie und Menschenrechte wichtig sind, müssen wir sie weltweit verteidigen. Die deutsche Politik sollte bedenken, dass 48 Prozent der Menschen in der Türkei nicht für Erdogan gestimmt haben. Die Hälfte des Landes kämpft also für Demokratie und gegen Autokratie.

    Lassen wir diese Menschen allein?
    DÜNDAR: Offensichtlich. Viele mutige Menschen in der Türkei setzen ihr Leben aufs Spiel, um die sogenannten "westlichen Werte" trotz einiger westlicher Regierungen zu verteidigen. Ich bin keineswegs dafür, die Türkei zu isolieren. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sind wichtig. Aber so wie die Dinge jetzt laufen, legt Erdogan die Regeln fest, nicht Deutschland. Wir haben das beim Kampf um den Nato-Beitritt Schwedens gesehen. Schweden musste seine Verfassung ändern, um die Anti-Terror-Gesetze zu ermöglichen - das war Erdogans Bedingung.

    Die Türkei hat vor wenigen Wochen ihren 100. Geburtstag gefeiert. Wie viel ist noch übrig von der Gründungsidee Kemal Atatürks?
    DÜNDAR: Unglücklicherweise nicht sehr viel. Die Türkische Republik wurde auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit aufgebaut, das Ziel war stets die Demokratie. Heute besteht nur noch der Begriff fort. Aber auch der Iran bezeichnet sich als Republik, Syrien bezeichnet sich als Republik. Eine Republik kann ohne Demokratie leicht zu einer Autokratie werden. Deshalb müssen wir leider sagen: Wir haben in unserem Kampf für die Demokratie versagt. 100 Jahre nach der Gründung der Republik haben wir einen Autokraten, der seit 21 Jahren an der Macht ist und das Land in eine Theokratie, einen "Gottesstaat", verwandeln will.

    Glauben Sie, dass die Türkei wieder den Weg nehmen wird, hin zu einer freien Demokratie?
    DÜNDAR: Wir müssen auf jeden Fall dafür kämpfen. 

    Sie haben es angesprochen: Die Hälfte der Türken hat gegen Erdogan gestimmt – die andere Hälfte aber für ihn. Was sind die Gründe hierfür?
    DÜNDAR: Ich glaube, dass der Anteil der Menschen in der Türkei, die Erdogan tatsächlich als Held betrachten, bei 20 bis 25 Prozent liegt. Er hat diese Menschen sehr verändert, er hat das Bildungssystem umgestaltet, die Moscheen für politische Propaganda genutzt ... Die anderen 20 bis 25 Prozent sehen die Privilegien, die ihnen die Regierung gewährt hat, wie zum Beispiel Sozialleistungen. Aber wenn diese Menschen in der Opposition einen echten Hoffnungsschimmer sähen, würden sie auch ihr Wahlverhalten ändern.

    War es ein Fehler, dass die Europäische Union die Türkei nicht vehementer integriert hat?
    DÜNDAR: Unbedingt! Ich war ein Kind, als die Türkei sich um eine Mitgliedschaft in der EU beworben hat – inzwischen bin ich über 60 … Wir haben eine ganze Generation verloren. Es war falsch, die Türkei so lange hinzuhalten, man hätte Ja oder Nein sagen müssen. Natürlich hat auch die Türkei Fehler gemacht. Aber sie wäre heute ein anderes Land, wenn sie EU-Mitglied wäre. Schon während des Beitrittsprozesses wurden wichtige Reformen angestoßen, etwa wenn es um die Rechte der Frauen geht. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Doch als Erdogan gesehen hat, dass es nichts wird mit der EU, hat er seine Bemühungen eingestellt

    Sie sind das beste Beispiel für die fehlende Pressefreiheit in der Türkei, Sie mussten ihr Land im Jahr 2016 verlassen, leben im Exil in Berlin. Werden Sie jemals zurückkehren?
    DÜNDAR: Wenn Sie mich das im Mai, kurz vor der Präsidentschaftswahl, gefragt hätten, hätte ich mit Ja geantwortet. Ich hatte so große Hoffnung, dass Erdogan nicht mehr gewinnen wird. Nun aber wird er versuchen, die Verfassung zu ändern und damit zu erreichen, für alle Ewigkeit im Amt zu bleiben. Viele Menschen versuchen inzwischen die Türkei zu verlassen, dieser Braindrain, die Abwanderung der Gebildeten, ist furchtbar. Sie alle haben die Hoffnung verloren. 

    Gibt es dennoch etwas, das Ihnen Zuversicht verleiht?
    DÜNDAR: Ja, die gibt es. Es ist diese Hälfte der Menschen, die nicht für Erdogan stimmen. Und es werden noch mehr werden. Die Türkei steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, und das Geld, um sie politisch zu kaschieren, ist aufgebraucht. Das ist einer der Gründe, warum Erdogan nach Deutschland kommt: Um westliches Geld zur Aufrechterhaltung seiner Autokratie zu bekommen. Die Frage ist nun, ob die deutsche und die westliche Regierung ihm dabei helfen werden.

    Zur Person

    Can Dündar, 62, ist ein türkischer Journalist. Seit 2016 lebt er im deutschen Exil. Zurück in seine Heimat darf er nicht. Dündar war Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet und nach einem brisanten Bericht zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Der Vorwurf: Terrorismus. Dündar ist Autor des Buches "Die rissige Brücke über den Bosporus. Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen" .

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