Herr Masala, in der deutschen Sicherheitspolitik ist von einer Zeitenwende die Rede. Nicht nur, weil nun Waffen an die Ukraine geliefert werden, sondern auch, weil massiv in die Bundeswehr investiert werden soll. Ist das ein echter Neuanfang?
Carlo Masala: Wir müssen natürlich sehen, welche Taten in den nächsten Wochen und Monaten, vielleicht auch Jahren auf diese Ankündigungen folgen. Aber wenn wir die Rede des Kanzlers vom Sonntag und vor allen Dingen – und das kann man nicht genug betonen – die Entscheidung betrachten, Waffen an die Ukraine zu liefern, dann ist das eine fundamentale Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik. Man ist nach über 30 Jahren zu der Einsicht gekommen, dass es uns in der Außenpolitik nicht weiterhilft, nur auf Diplomatie und Ausgleich zu setzen – gerade angesichts von Staaten, die kein Problem haben, militärische Aggression zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele einzusetzen. Deutschland muss die klassischen Pfeiler seiner Außenpolitik unterfüttern durch glaubwürdige Verteidigungsbereitschaft, Abschreckung und Wehrfähigkeit.
War die deutsche Außenpolitik zu lange von einer Art Idealismus geprägt?
Masala: Ja, absolut. Die deutsche Außenpolitik war von Idealismus und Dogmen geprägt, die nicht mehr der Realität der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts entsprechen.
Aber was hat man politisch, militärisch jemandem entgegenzusetzen, der – wie Putin – im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen geht? Sind wir als Rechtsstaat nicht immer in der schwächeren Position?
Masala: Staaten wie China und Russland, die kein Problem haben, über Leichen zu gehen, können nur über Leichen gehen, wenn die entsprechenden Leichen schon am Boden liegen. Wir müssen versuchen, frühzeitig zu signalisieren, dass es gewisse Grenzen gibt, die man nicht überschreiten darf, dass wir stark genug sind, politischen Widerstand – und damit meine ich nicht Krieg – zu leisten, der auch militärisch unterfüttert ist. Das ist die Neuausrichtung, die wir gerade sehen. Das heißt nicht, dass diese Welt besser und friedlicher wird. Aber man versetzt sich selbst in die Lage, nicht Opfer der Entwicklungen zu werden.
Deutschland will massiv in die Bundeswehr investieren. Was muss aus Ihrer Sicht als erstes mit diesem Geld geschehen?
Masala: Priorität hätte aus meiner Sicht die persönliche Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten: sie brauchen Schutzwesten, Nachtsichtgeräte, Helme. Der zweite Punkt ist die Beschaffung von Munition – wir haben viel zu wenig Munition. Und der dritte Punkt sind Ersatzteile: Wir haben noch nicht einmal genug Ersatzteile, um den normalen Verschleiß schnell zu beheben. Auch über Großgeräte wie bewaffnete Drohnen werden wir reden müssen. Gleichzeitig glaube ich aber, dass die Probleme nicht allein dadurch behoben werden, indem nur Geld zur Verfügung gestellt wird. Wir brauchen begleitende Reformen, insbesondere im Beschaffungswesen, damit wichtige Prozesse zukünftig effektiver und effizienter laufen.
Finanzminister Christian Lindner spricht davon, eine der schlagkräftigsten Armeen in Europa aufbauen zu wollen. Wie schätzen Sie das ein?
Masala: Man darf nicht vergessen, dass die Bundesrepublik Deutschland noch immer zu den drei Staaten in Europa gehört, die – in absoluten Zahlen – den größten Verteidigungshaushalt haben. Und wenn wir in Großbritannien und in Frankreich die nukleare Komponente herausrechnen, dann ist Deutschland im konventionellen Bereich momentan sogar führend in Europa. Wir haben keine schlechte Armee, wir haben eine der schlagkräftigsten Landarmeen in Europa. Allerdings sind wir dabei, auf Rang zwei hinter Polen abzufallen. Und das entspricht nicht unserer Bedeutung in Europa und in der internationalen Politik.
Wenn es nicht nur am Geld hängt – wo ist das eigentliche Problem der Bundeswehr?
Masala: Die Prozesse dauern zu lange, die Beschaffung dauert elendig lange. Selbst die Beschaffung von Jacken ist in unserem System zu einem großen Kraftakt geworden. Deshalb sehen wir auch keine direkten Auswirkungen der Erhöhung des Verteidigungsetats. Alle schreien: Wir investieren so viel Geld und nichts passiert. Fakt ist aber: Im deutschen System sind zwei, drei Jahre nichts, sie sind ein Wimpernschlag. Und da reden wir nicht über Großgeräte wie Kampfflugzeuge oder Panzer. Wir reden von kleinsten Dingen.
Am Wochenende hat Putin viele Leute sehr erschreckt mit der Ankündigung, die nuklearen Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen. Wie groß ist Ihre Sorge?
Masala: Angesichts des Levels, das wir jetzt haben, gibt es keinen Anlass zur Besorgnis. Wladimir Putin hat die nuklearen Abschreckungskräfte 2014 schon einmal in Alarmbereitschaft versetzt, damals hat er sich die Krim einverleibt. Das russische System sieht vier Eskalationsstufen vor: Die erste Stufe ist die Friedenszeit, die zweite Stufe ist die erhöhte Alarmbereitschaft, die dritte Stufe ist die militärische Gefahr und die vierte Stufe nennt sich „voll“ – da reden wir von der Möglichkeit, Nuklearwaffen abzuschießen. Was Putin jetzt macht, ist, ein nukleares Signal zu senden. Und die Frage ist: Warum sendet er dieses nukleare Signal? Ich glaube, er sendet das, weil er den Westen davon abhalten will, weiterhin die Ukraine so massiv zu unterstützen, wie er es gerade tut. Putin kommt in der Ukraine nicht so schnell voran wie er das wollte. Aber er braucht diesen Sieg in der Ukraine. Also versucht er, den Westen abzuschrecken.
Das heißt, diese Drohung ist im Grunde ein Eingeständnis seiner eigenen Schwäche? Weil die Sanktionen wirken und sich der militärische Erfolg langsamer einstellt?
Masala: Die Sanktionen dürften ihm relativ egal sein, weil sie ihn und seine engsten Kreise kaum tangieren. Entscheidender ist, dass offensichtlich die militärische Kampagne schlecht geplant war und unter falschen Annahmen erfolgte. Russland dachte offenbar, dass der Westen sich raushalten wird und keine Waffen liefert. Und jetzt sehen wir, dass der Westen die Ukraine massiv unterstützt, dass der Marsch auf Kiew nicht so verläuft, wie es sich die militärisch-politische Führung in Moskau vorgestellt hat. Putin gerät jetzt mit dem Rücken an die Wand.
Glauben Sie, dass der Westen Putin jetzt in irgendeiner Weise auch eine Art diplomatischen Ausweg lassen muss?
Masala: Der Westen muss weiter hart dagegenhalten. Es gibt keinen diplomatischen Ausweg. Putin hat sich so weit aus dem Fenster gelehnt, dass er verloren hat, wenn er nicht mit einem Regimewechsel in Kiew nach Hause kommt. Im Süden ist die russische Armee relativ erfolgreich, Putin hält den Donbass, hat die dortigen Gebiete eingenommen. Es gibt inzwischen wohl eine Landbrücke von der Krim zum Donbass, das heißt, ein Teil des militärischen Ziels ist erreicht. Aber das reicht nicht. Putin spricht von der Entnazifizierung Kiews, er will den ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj weghaben – und den Gefallen wird ihm Selenskyj nicht tun. Das kann nicht Teil von Verhandlungen sein. Auch die Neutralität der Ukraine, also, dass das Land nie mehr Mitglied der Nato werden kann, wird nicht Teil von Verhandlungen sein, das werden die Ukrainer richtigerweise nicht akzeptieren. Von daher gibt es momentan keine Möglichkeit, Putin einen diplomatischen Ausweg zu zeigen.
Wie werden die nächsten Tage in der Ukraine weitergehen? Wird der Krieg immer blutiger werden, weil Putin immer mehr Gewalt einsetzen muss?
Masala: Ja, das ist genau das, was ich glaube. Putin wird die Bombardements auf Kiew verstärken, er wird den Raketen- und Artilleriebeschuss verstärken, um diese Stadt einzunehmen.
Heißt das unterm Strich nicht: Die Ukraine ist ohnehin verloren, es ist nur noch eine Frage der Zeit?
Masala: Nein, die Ukraine ist nicht verloren. Denn ob Putin mit seiner Strategie erfolgreich sein wird, steht auf einem anderen Blatt. Die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Armee könnte größer sein als viele das vermutet haben.
Wie wichtig ist die Rolle von Wolodymyr Selenskyj in dieser Situation?
Masala: Selenskyj spielt eine ganz zentrale Rolle, er und seine Leute halten die Kampfmoral hoch. Er muss ein verdammt gutes Social-Media-Team haben. Erst wenn Wolodymyr Selenskyj gehen müsste, würde der ukrainische Widerstand schneller zusammenbrechen, als wir es erwartet haben. Selenskyj ist die führende Figur.
Zur Person: Carlo Masala, 53, ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München sowie Mitherausgeber der Zeitschrift für Politik (ZfP), der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) und der Zeitschrift für Strategische Analysen (ZfSA). Ferner ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, des Nato Defence Colleges sowie der Clausewitz Gesellschaft.
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