Schwester Philippa, verzweifeln Sie manchmal an Ihrer Kirche?
Schwester Philippa Rath: Ich zweifele nicht selten an ihr. Aber verzweifeln? Nein, das würde nicht zu mir passen. Dazu habe ich zu viel Hoffnung, dass die Kirche immer neu bereit ist, sich zu reformieren.
Es gibt zwei Zitate von Ihnen, die viele Menschen bewegt haben. Sie sagten vor einem Jahr: „Ich liebe meine Kirche, und ich leide an ihr.“ Ein paar Monate später sagten Sie bei einer Versammlung des kirchlichen Reformprozesses „Synodaler Weg“: „Ich muss Ihnen gestehen, dass ich heute nicht mehr genau weiß, ob ich meine Kirche noch lieben kann.“ Was ist passiert?
Schwester Philippa: Es sind weitere Missbrauchsgutachten erschienen, weitere Vertuschungsstrukturen wurden offengelegt, immer neue Abgründe taten sich auf. Ab einem gewissen Punkt wird es dann einfach zu viel. Ich liebe die Botschaft Jesu; das Evangelium und das Gebet sind meine geistliche Heimat, aber die kirchlichen Strukturen werden mir immer fremder – wie so vielen Menschen, die mir begegnen, und die mir von ihren Zweifeln erzählen.
Die Missbrauchsskandale haben die katholische Kirche im Kern erschüttert. Von einer „Kernschmelze“ ist die Rede.
Schwester Philippa: Wir erleben tatsächlich eine ungeheure Erschütterung und eine große Zahl von Kirchenaustritten. Und das sind beileibe nicht alles Menschen, die der Kirche fremd waren. Das sind Menschen, die mitten in den Gemeinden gelebt und sich engagiert haben. Sie gehen nicht, weil sie ihren Glauben verloren haben, sondern weil sie ihn retten wollen. Und sie sind auf der Suche nach neuen Wegen der Spiritualität und des geistlichen Lebens. Den Begriff „Kernschmelze“ mag ich zwar nicht so gern, , aber mit ihm ist durchaus etwas Treffendes angesprochen.
Was genau?
Schwester Philippa: Mir erzählen Menschen: „Unsere Gemeinden trocknen aus“; „Wir wissen nicht, wie wir überhaupt noch ein lebendiges Gemeindeleben weiterführen können.“ Ich glaube, eine Mehrheit der Kirchenmitglieder und auch der Amtsträger sieht inzwischen sehr genau, dass wir nicht weiter machen können wie bisher. Wir brauchen grundlegende Reformen.
Was wird von der Institution Kirche – wie wir sie hier in Deutschland im Jahre 2022 kennen – in 20, 30 Jahren noch übrig geblieben sein?
Schwester Philippa: Unsere Kirche wird sich in den kommenden Jahren deutlich verändern. Doch manchmal müssen alte Strukturen zusammenbrechen, damit Neues wachsen kann. Ich beobachte sehr viele Neuaufbrüche an der Basis. Das macht mir Hoffnung. Vielleicht nähern wir uns auf diese Weise wieder der Urkirche und den Anfängen des Christentums an. Das wäre nicht das Schlechteste, zumal damals die Frauen eine wesentlich bedeutendere Rolle in der Kirche spielten als heute.
Ein von Ihnen und dem Würzburger Hochschulpfarrer Burkhard Hose herausgegebenes Buch heißt: „Frauen ins Amt!“ Eine Päpstin wäre doch wunderbar, oder?
Schwester Philippa: An eine Päpstin habe ich dabei noch gar nicht gedacht. Mir würde es schon reichen, wenn Frauen in der katholischen Kirche zu Diakoninnen und Priesterinnen geweiht würden – und irgendwann natürlich auch zu Bischöfinnen, wie in vielen anderen christlichen Kirchen.
Werden wir denn zumindest Diakoninnen in absehbarer Zeit erleben?
Schwester Philippa: Davon bin ich überzeugt. Ich bin jetzt 66 – und ich glaube, ich werde die Weihe von Frauen zu Diakoninnen und auch zu Priesterinnen noch erleben – die Diakoninnenweihe schon sehr bald, die Priesterinnenweihe in den nächsten 20 Jahren. Wir haben dafür auch nicht länger Zeit, denn sonst gibt es keine Frauen mehr, die sich in der Kirche engagieren.
Ist es eigentlich schwer, Frau in der Kirche zu sein?
Schwester Philippa: Für sehr viele Frauen ja. Ich persönlich habe das nie so empfunden, da meiner Berufung zur Ordensfrau nie etwas im Wege stand.
Anders als den Frauen, die sich zu Priesterinnen berufen fühlen.
Schwester Philippa: Ja. Ich konnte meinen Weg ungehindert gehen. Ich kenne jedoch viele Frauen, die in der Kirche ausgegrenzt oder diskriminiert werden und deren Berufung nicht ernst genommen wird. Deswegen engagiere ich mich ja so für dieses Thema. Wir müssen endlich Gerechtigkeit schaffen und ernst machen mit Gal 3, 28: „Ihr seid jetzt nicht mehr Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Mann und Frau, sondern ihr seid alle eins in Christus Jesus.“ Dann würde auch das Engagement der Kirche für die Menschenrechte erheblich an Glaubwürdigkeit gewinnen.
Sprechen wir über aktuelle Themen, bei denen konträre Ansichten innerhalb der Kirche aufeinanderprallen: Die Katholische junge Gemeinde (KjG) wird Gott künftig als „Gott+“ bezeichnen. Was sagen Sie dazu?
Schwester Philippa: Ich verstehe das Anliegen, das dahintersteht. Allzu viele Menschen haben immer noch die Vorstellung von Gott als einem alten weißen Mann. Es ist ganz sicher notwendig, dieses einseitige Gottesbild zu öffnen. Ob das Gendersternchen * oder das + hinter dem Gottesnamen aber der richtige Weg ist? Ich würde eher auf die Kraft der Argumente vertrauen als auf polarisierende Zeichen.
Zu Paragraf 219a: Die Ampelkoalition will das sogenannte „Werbeverbot“ für Abtreibungen abschaffen. Ärztinnen und Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen dürfen, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen. Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) begrüßte das kürzlich – dafür schlug ihm aus katholisch-konservativen Kreisen scharfe Kritik entgegen. Der BDKJ sei keine katholische Organisation mehr ...
Schwester Philippa: Jemandem das Katholischsein abzusprechen, ist für mich eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf. Allen, die sich in der Kirche oder für christliche Werte engagieren, geht es doch um den Kern des Evangeliums. Wir sollten niemanden ausgrenzen. Das stiftet nur Unfrieden. Davon haben wir genug in der Welt. Als Kirche müssen wir da gerade einen Kontrapunkt setzen.
Ihre Position zu Paragraf 219a?
Schwester Philippa: Ich halte den Schutz des Lebens von Beginn an bis zum Sterben für absolut unabdingbar. Ich bin aber auch dafür, dass Frauen umfassend aufgeklärt und informiert werden. Ich weiß um die Nöte vieler Frauen. Ihnen müssen wir uns als Kirche bedingungslos zuwenden.
Ich habe Sie eingangs gefragt, ob Sie an Ihrer Kirche verzweifeln. Zweifeln Sie manchmal an Gott, gerade wenn Sie sehen, welches Leid der russische Angriffskrieg über die Menschen in der Ukraine gebracht hat?
Schwester Philippa: Ich glaube, jede Christin, jeder Christ stellt sich im Moment diese Frage. Ich hadere oft mit Gott und bin überzeugt, dass wir das auch dürfen. An Gott gezweifelt habe ich nie, ich verstehe ihn nur oft nicht. Ich tröste mich dann mit den Worten des evangelischen Theologen Helmut Thielicke. Der sagte einmal: Er verstehe den Sinn all dessen nicht, was im Moment passiere, aber er glaube an den, der den Sinn kennt. Wir feiern jetzt Ostern und gedenken des Leidens und der Auferstehung Jesu. Auch er rief am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? In dieser Gottverlassenheit befinden sich derzeit viele von uns. Aber Jesus hat auch in dieser äußersten Situation Gott noch als seinen Vater angerufen. Das versuche ich auch.
Wie sähe wohl Jesus’ Beitrag zu einer Beendigung des Ukraine-Kriegs aus? Ich denke da an den Jesus am Kreuz, der bat, seinen Feinden möge vergeben werden. Es gibt aber auch den Jesus, der die Händler aus dem Tempel trieb.
Schwester Philippa: Beide Szenen zeigen bedeutsame Aspekte der christlichen Botschaft: die Bereitschaft zur Vergebung, zugleich aber auch den Mut zu Klarheit und Wahrheit. So würde ich mir tatsächlich wünschen, dass Papst Franziskus deutlicher zu diesem Krieg, der uns alle so belastet, Stellung nimmt und auch zu der unseligen Allianz zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und den Machthabern im Kreml.
Würden Sie sich auch wünschen, dass er in die Ukraine reist?
Schwester Philippa: Wenn es auch nur einen Hauch von Hoffnung gibt, dass dadurch etwas besser wird, auf jeden Fall. Papst Franziskus würde sicher gerne in die Ukraine reisen – aus verschiedenen Gründen wird ihm aber offenbar davon abgeraten. Ein österlicher Waffenstillstand, das wäre doch das schönste Geschenk für die ganze Welt.
Zur Person: Philippa Rath ist Benediktinerin der Abtei Sankt Hildegard im hessischen Rüdesheim-Eibingen. Die Theologin und Politikwissenschaftlerin ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Delegierte im Synodalen Weg und Mitglied des Synodalforums „Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“.
Podiumsdiskussion: Am 23. April um 10.45 Uhr ist Schwester Philippa im Moritzsaal am Augsburger Moritzplatz Teilnehmerin einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Kongresses des christlichen ND-Netzwerks. Sie spricht zum Thema „Kirche neu denken“. An der Tageskasse gibt es Restkarten. Der Kongress, der sich unter dem Titel „Geld.Macht.Kirche.“ mit aktuellen kirchenpolitischen Fragen befasst, beginnt am 20. April und endet am 24. April. Mehr Informationen unter www.nd-netz.de.