Am Klima-Kompromiss der Koalition gibt es auch in ihrer Partei und den Grünen Kritik, weil künftig nicht mehr jeder einzelne Bereich, so auch der Verkehrs-Sektor, seine Treibhausgas-Einsparungsziele einhalten muss. Warum weicht die Ampel das Klimaschutzgesetz auf?
Saskia Esken: Das Klimaschutzgesetz ist eine wichtige Errungenschaft der SPD in der Großen Koalition. Damit haben wir die Regierung verpflichtet, ihrer Politik messbare Ziele zu setzen, die Zielerreichung zu überprüfen und wirksamere Maßnahmen zu ergreifen, wenn diese verfehlt werden. Die Sektoren scharf voneinander zu trennen, war aus damaliger Sicht richtig. Inzwischen kommen wir beim Umbau der Industrie und der Energieversorgung schneller voran als gedacht, während es bei denjenigen Sektoren schwerer fällt, die den Alltag der Menschen betreffen, also Verkehr, Gebäude, Ernährung. Hier müssen wir Rücksicht nehmen auf die Lebensrealitäten: Wo ich zum Beispiel wohne, da kommt man ohne Auto nicht weit. Hier brauchen die Menschen mehr Unterstützung und auch mehr Zeit zum Umsteuern. Deswegen sollen sich die Sektoren künftig gegenseitig beim Senken des CO₂-Ausstoßes helfen können. Unterm Strich müssen die Zahlen aber stimmen, sonst wird gemeinsam nachgeschärft.
Hätte auch ein Verkehrsminister mit einem anderen Parteibuch die gleichen Probleme, wie der FDP-Mann Volker Wissing?
Esken: Die Probleme im Sektor Verkehr haben mit der Parteifarbe nichts zu tun. Die Ziele, die wir uns setzen und auch die Maßnahmen, die wir ergreifen, sind Sache der ganzen Regierung. Die Sektoren sind auch nicht trennscharf mit einem Ministerium gleichzusetzen. Verkehr spielt beispielsweise auch in der Wirtschaft und Landwirtschaft eine Rolle, da müssen immer mehrere Ministerien zusammenspielen. Wir haben gemeinsam die Verantwortung, bis spätestens 2045 klimaneutral zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir gemeinsam ambitioniert, aber eben auch pragmatisch vorgehen, ökonomisch vernünftig und sozial gerecht.
In der Koalition scheinen SPD und FDP eher für eine pragmatischere Linie als die Grünen einzutreten. Wie groß ist ihre Sorge, dass die Stimmung in der Bevölkerung beim Klimaschutz kippt?
Esken: Wir müssen die Menschen immer wieder überzeugen, aber wir dürfen sie auch nicht überfordern. Insbesondere diejenigen mit kleinen und mittleren Einkommen und diejenigen, die in den ländlichen Gebieten leben. Wir tun dem Klimaschutz keinen Gefallen, wenn uns die Menschen bei dem Thema von der Fahne gehen. Ohne die Überzeugung vieler Einzelner gelingt es nicht, ausreichend CO₂ einzusparen, das lässt sich nicht alleine durch Vorschriften und Verbote erreichen.
Viele Menschen befürchten Verlierer der Wärmewende zu werden und sind irritiert, dass es Ausnahmen gerade mal für über 80-Jährige bei den Hauseigentümern geben soll. Ist das gerecht?
Esken: Im Gesetz wird es weitere Ausnahmen, Übergangsfristen und Hilfen geben, sodass die Menschen nicht überfordert werden und die notwendige Unterstützung erhalten. Unsere Bauministerin Klara Geywitz legt großen Wert darauf, dass die Maßnahmen für die Menschen auch umsetzbar sind. Gleichzeitig muss man sagen: Der ewige Weiterbetrieb einer alten Öl- oder Gasheizung ist auch ökonomisch nicht mehr sinnvoll, wenn die Brennstoffe immer teurer werden. Das Heizen mit der Wärmepumpe ist letztlich günstiger, auf Dauer lohnt sich die Investition. Bei der Frage, was dafür alles umgebaut werden muss, wird aber viel Quatsch erzählt. Meine Wohnung wird mithilfe einer Wärmepumpe beheizt, und ich habe ganz normale Heizkörper, das funktioniert prima auch ohne Fußbodenheizung – entgegen vieler Behauptungen.
In Berlin hat Rot-Grün-Rot nicht zuletzt wegen einer rigiden Klimaschutzpolitik bei der Wahl verloren. Die SPD-Spitze will nun nicht mit den Grünen, sondern der Union regieren. Wird die Basis trotz Kritik in Teilen der Partei beim Mitgliederentscheid folgen?
Esken: Die SPD hat kluge Mitglieder, die frei entscheiden und nicht meinen Rat aus der Bundespartei brauchen. Die werden sich den Koalitionsvertrag anschauen und dann entscheiden, was das Beste für die Menschen in Berlin ist.
Ist das Verhältnis der SPD zu den Grünen abgekühlt?
Esken: SPD und Grüne sind, so wie alle anderen demokratischen Parteien, mal Partner und mal Mitbewerber und stellenweise auch Konkurrenten. Im Bund regieren wir zu dritt mit der FDP, das ist ein Bündnis drei recht verschiedener Parteien, und das darf man hier und da auch merken. Aber genau dadurch entstehen neue Ideen, die das Land voranbringen. Wenn man aufeinander zugeht, sind auch durch diese Unterschiedlichkeit sehr gute Projekte entstanden.
Ein Projekt, bei dem es wegen der Unterschiedlichkeit hakt, ist die Kindergrundsicherung. Die FDP bremst bei den Ausgaben, die SPD steht eher bei den Grünen …
Esken: Die Kindergrundsicherung ist ein wichtiges Projekt dieser Koalition. Und sie wird kommen. Was den zusätzlichen Finanzbedarf angeht, ist die Einschätzung der Familienministerin sicher nicht völlig unplausibel. Den jetzigen Kinderzuschlag, der künftig Teil der Grundsicherung werden soll, beantragen heute nur rund 30 Prozent der Betroffenen, obwohl sie ein Recht auf die Leistung haben. Ebenso verhält es sich bei den Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets. Die Verfahren sind zu bürokratisch und kompliziert. Gerade für die Kinder, die die Unterstützung am dringendsten bräuchten, ist das ein Drama. Wir haben den Anspruch, diese Leistungen automatisch auszuzahlen, zumindest aber die Quote auf 80 Prozent zu erhöhen. Dass das mehr Geld kostet, kann sich jeder ausrechnen. Aber ich wehre mich dagegen, hier nur eine Debatte ums Geld zu führen.
Ein anderes rot-grünes Thema war immer der Atomausstieg. Ist Ihnen trotz stark gestiegener Strompreise und Energieproblemen zum Feiern zumute, wenn nächstes Wochenende die letzten Kernkraftwerke vom Netz gehen?
Esken: Die rot-grüne Regierung hat vor 22 Jahren im Konsens mit Energiewirtschaft und Gesellschaft beschlossen, in einem geordneten Verfahren aus der Atomenergie auszusteigen. Damals wie heute gilt: Die Atomkraft ist eine Hochrisiko-Technologie. Bis heute ist keine Lösung für die Endlagerung der hoch radioaktiv strahlenden Abfälle gefunden worden. Zudem ist die Atomenergie die teuerste Stromerzeugungsform, wenn man ihre Folgekosten mit einrechnet. Und ich kann versichern, dass wir mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien und der Sicherung der Energieversorgung so weit sind, dass wir auf den Beitrag der Atomkraft verzichten können. Insofern ist und bleibt der Atomausstieg ein richtiger Entschluss, den ich feiern werde, wenn er nun endlich vollzogen wird.
Über Ostern als Fest der Hoffnung liegt erneut der Schatten eines Kriegs in Europa, der selbst die Friedensbewegung bei den Ostermärschen spaltet. Wie ergeht es Ihnen dabei?
Esken: Auch ich habe früher regelmäßig an Ostermärschen teilgenommen. Die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt eint uns alle und eint auch die Menschen, die dort zusammenkommen. In Europa haben wir auf der Basis völkerrechtlicher Verträge lange Jahrzehnte friedlich zusammengelebt. Doch mit dem Überfall Putins auf die Ukraine erleben wir einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in Europa. Deshalb ist es richtig, dass Deutschland die Ukraine – gemeinsam mit den Partnern in der EU und der Nato – gegen diese Aggression unterstützt. Die Ukraine hat ein Recht darauf, ihre Unabhängigkeit, ihre Freiheit und auch ihre Demokratie zu verteidigen. Es mag nicht ganz leicht sein, dies mit einer Friedensbotschaft zu verbinden, aber es geht ganz klar darum, den Frieden und die Ordnung in Europa wiederherzustellen. Und es ist unsere Aufgabe, dabei mitzuhelfen.
Zur Person: Saskia Esken ist seit 2019 eine der beiden Bundesvorsitzenden der SPD. Die 61-jährige Informatikerin aus Baden-Württemberg ist seit 2013 Abgeordnete des Deutschen Bundestags.