Wir sehen gerade, wie Russland Weizen als Waffe einsetzt. Die Ukraine ist die Getreidekammer Europas, aber nun sind Häfen blockiert, die Preise steigen. Drohen in Europa Versorgungsengpässe?
Sarah Wiener: Nein, es sei denn, man lebt allein von Sonnenblumenöl. In den reichsten Ländern der Welt werden wir immer einen unfairen Vorteil haben, weil wir die Preise bezahlen können. Es ist ja genug da. Die Probleme, warum es trotzdem fast eine Milliarde Hungernde gibt, sind anderer Natur. Arme Länder können sich die explodierenden Preise nicht leisten. Außerdem sehen wir ein Verteilungsproblem, es gibt viele regionale Konfliktpotenziale, Korruption, Kriege, Dürre. Es fehlen Strukturen wie Lager und Kühlhäuser. Deshalb gehen im globalen Süden 50 Prozent der Ernten verloren. Aber wir haben Länder auch abhängig gemacht von billigen Importen. Denen wurde gesagt, sie sollen statt der traditionellen Getreidesorten für den regionalen Markt, die gut an Klima und Boden angepasst waren, stattdessen zum Beispiel Baumwolle oder Blumen für den Welthandel anbauen. Als Folge sind viele Länder nun importabhängig und haben keine eigene Ernährungssouveränität mehr. Eritrea beispielsweise heute bei 90 Prozent seines Weizens.
Was kann die EU tun, um eine globale Hungersnot abzuwenden?
Wiener: Wichtig ist, die Märkte offenzuhalten und Spekulationen zu unterbinden. Wenn jetzt wie Indien, China oder Ungarn alle ihren Weizen für sich behalten und so Getreide noch einmal künstlich verknappen, ist das kontraproduktiv. Die betroffenen Länder, etwa in Afrika, brauchen dringend finanzielle Unterstützung, um den teuren Weizen bezahlen zu können. Außerdem gibt es langfristige Maßnahmen. Essen sollte zum Beispiel nicht in den Tank und in den Trog, sondern auf den Teller.
Was meinen Sie?
Wiener: In Europa gehen 60 Prozent des Getreides in den Futtertrog und ungefähr 20 Prozent in den Tank. Das heißt, dass nur 20 Prozent des Getreides überhaupt als Lebensmittel direkt für die menschliche Ernährung sind. Weltweit sind es 30 Prozent, die in den Trog gehen, woran man das Missverhältnis erkennt. Europa isst wahnsinnig fleischlastig und exportiert massenweise Fleisch. Hinzu kommt, dass Tiere meist auch nicht wesensgemäß ernährt werden. Die Kuh ist nicht dafür gemacht, Soja und Weizen zu fressen. Sie ist das Wunderwesen, das aus Gras und Heu Milch und Fleisch machen kann, ohne Nahrungskonkurrent zum Menschen zu sein. Die Agrarindustrie hat sie erst dazu gemacht.
Könnte denn Europa einfach mehr produzieren oder mehr Getreide mobilisieren, um den Markt zu entlasten? Viele fordern, Flächen zu nutzen, die eigentlich brachgelegt werden sollen.
Wiener: Erst einmal ist zu hoffen, dass die Ukraine ihre Exportprobleme in den Griff kriegt. Wenn wir diese 20 Millionen Tonnen in die ärmeren Länder verschifft bekommen, wird die Lage hoffentlich nicht so dramatisch sein wie wir befürchten. Agroindustrie und deren Lobbyisten schreien wie eh und je, die Brachflächen müssten geopfert werden. Europa produziert jedoch nicht für die Ärmsten. Wir sind der High-End-Anbieter. Es gibt eine wissenschaftlich fundierte Erklärung, warum es Brachen geben muss. Studien sagen, wir brauchen diese Brachen, um die Vielfalt zu erhalten, um Nährstoffüberschüsse aufzunehmen und Rückzugsräume für gefährdete Arten und Bestäuber zu ermöglichen. Und das umso dringender an Orten, wo es keine natürlichen Landschaftselemente mehr gibt und Hektar für Hektar wechselweise Mais, Weizen, Raps angebaut wird.
Müssen wir als Verbraucher ebenfalls unseren Konsum überdenken?
Wiener: Langfristig sollten wir unsere Ernährungsgewohnheiten ändern. Es kann ein Befreiungsschlag sein, auf einmal wieder hunderte von verschiedenen pflanzlichen regionale Lebensmittel und wilde Getreidearten zu essen und sich daran zu erfreuen, dass sie alle überall auch anders schmecken. Es geht um mehr Geschmack und mehr Genuss und unsere Gesundheit. Ab und an Fleisch, von einem Tier, das ein gutes Leben gehabt hat, erfreut auch unsere Seele.
Sie sind erst vor drei Jahren in die Politik gewechselt. Wie lautet Ihr Zwischenfazit?
Wiener: Die erste Zeit war wirklich hart, ich stand kurz vor einem Burn-out. Heute bin ich zwar noch immer am Lernen und Verstehen, wie politische Zusammenhänge funktionieren und wo man ansetzen kann, um etwas zu verändern. Aber im Vergleich zum ersten Jahr fühle ich mich wie promoviert und angekommen. (lacht) Wenn du als Neo-Politikerin aus dem Niemandsland mitmischen willst, musst du noch einen Kilometer extra gehen. Der hat sich gelohnt, wie ich finde.
Was hat Ihnen geholfen, sich im Kosmos EU zurechtzufinden?
Wiener: Ich stehe auf solidem Grund, weil ich mich seit 30, 40 Jahren mit Ernährung, Landwirtschaft und Tieren beschäftige. Meine Beziehung zur Natur und zu Lebensmitteln ist keine theoretische, sondern eine lustvolle, freudvolle, sinnliche. Um kochen zu können, musst du in die Küche. Pflanzen, ernten und imkern muss man erlebt haben, um es zu verstehen. Durch das Praktische verstehe ich besser das theoretische und musste nicht bei null anfangen.
Sie streiten für mehr Tierwohl, gesunde Ernährung, bessere Lebensmittel und nachhaltige Landwirtschaft. Wie bewerten Sie die Lage?
Wiener: Wir stehen an einem Scheitelpunkt, der hochgefährlich ist. Es gibt keinen Zweifel, dass wir mit vielfachen Krisen konfrontiert sind und uns unsere eigene Lebensgrundlage zerstören. Das fängt bei klarem Wasser an und geht bis hin zu Umweltgiften, die sich in der Muttermilch anreichern. Die Frage ist jetzt: Wer übernimmt die Deutungshoheit? Sind es dieselben konservativen und oft auch reaktionäre Kräfte, die uns in diesen Sumpf geführt und in den letzten 40 Jahren keinerlei nachhaltige Lösungen auf den Tisch gelegt haben? Oder sind wir gewillt und mutig genug zu sagen: Lass es uns mal anders probieren. Wieso nehmen wir nicht die Natur zum Vorbild und essen ökologisch, giftfrei und resilient, sodass auch unsere Kinder noch echte und lebendige Vielfalt auf ihren Tellern haben werden.
Sie legen sich immer wieder mit der eigenen grünen Fraktion an, etwa bei der Abstimmung darüber, ob die Begriffe Steak oder Wurst künftig nur noch für Produkte aus Fleisch benutzt werden sollten. Die Mehrheit der Grünen war gegen das Verbot, Sie waren dafür, warum?
Wiener: Ich bin schon sehr gut aufgehoben in meiner Fraktion und stolz, Teil von ihr zu sein. Ich meine nur: Wer kreativ genug ist, sich neue Nahrungsmittel auszudenken, sollte auch mutig und kreativ genug sein, den passenden Namen zu finden. Viele Menschen lesen Wurst und denken, es ist Wurst, ohne das Kleingedruckte zu lesen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Urprodukt und einem hochverarbeitenden Endnahrungsmittel. Künstliche Nahrungsmittel machen nichts für das Ökosystem, sie werden patentiert, oft von den gleichen Konzernen, die uns die Massentierhaltung eingebrockt haben. Ich kritisiere alle Surrogate, von Analogkäse über Fake-Produkte wie Kunst-Ei, Kunstschokolade bis zu Kunstfleisch. Wenn man sich und der Mitwelt etwas Gutes tun will und die Natur liebt, dann kocht man frisch mit Grundprodukten, am besten aus der Region. Sternchen gibt es, wenn sie aus ökologischem Anbau stammen.
Das muss man sich erst aber einmal leisten können. Schon jetzt ächzen die Menschen unter gestiegenen Lebensmittelpreisen.
Wiener: Wir haben noch immer die billigsten Preise in Europa. Wir schmeißen 30 Prozent unserer Lebensmittel in den Müll. Wir zahlen als Gesellschaft für die Sünden der Agroindustrie, mit unserer Gesundheit, mit Tierleid oder finanziell mit Steuern. Außerdem dürfen wir nicht die soziale nicht mit der ökologischen Frage vermischen. Wir können nicht sagen, weil manche Menschen schlecht bezahlt werden und sich nicht gesund ernähren können, ist die Lösung, wir essen jetzt alle minderwertig oder bezahlen alle schlecht. Wenn es in einem der reichsten Länder der Welt Menschen gibt, die sich keine gesunden, frischen Lebensmittel leisten können, muss etwas am Wirtschaftssystem geändert werden und nicht am ökologischen System.
Sie stechen als Abgeordnete auch deshalb heraus, weil Sie im EU-Parlament in Straßburg stets Dirndl tragen. Warum bleiben Sie bis heute dabei?
Wiener: Ich finde es schön, als österreichische Abgeordnete in der Vielfalt, die es in Straßburg gibt, einen Teil meiner Individualität, meiner Heimat, zu zeigen, der aber authentisch ist. Mir gefällt besonders gut, dass das Dirndl traditionell immer der Arbeitskittel der Mägde war, also der Macherinnen, die mit ihren Händen gearbeitet haben. Darin erkenne ich mich als Köchin wieder. Plus, ich lasse mir doch nicht meine Heimat und meine Ästhetik in bestimmten Traditionen von irgendwelchen Rechtsradikalen klauen.
Sie sprechen mit großer Passion von Ihrer ehemaligen Arbeit als Köchin. Vermissen Sie sie?
Wiener: Ja, kochen ist Freude. Als Köchin hat mich jeder angestrahlt. Da hörte man Sätze wie: Oh, Frau Wiener, ich will Sie heiraten. Als Politikerin habe ich das noch nie gehört. Im Vergleich zum Kochen, wo man sofort einen realen Wert schafft, ist Politik Kopfarbeit. Du sitzt da und hörst sieben Stunden zu, dann redest du eine Minute und danach liest, denkst und hörst du wieder zu. Man ist ein Augen- und Ohren-Mensch. Wir haben jedoch mehr als zwei Sinne. Kochen verbindet. Wenn man zusammen etwas Gutes isst, bekommt man automatisch gute Laune. In der Politik gibt es große Barrieren zwischen den Fraktionen, da würde ich mich mit einigen gerne mal hinsetzen, essen und lustvoll streiten. Aber so weit kommt es gar nicht. Deswegen mache ich öfters Frühstück und schicke es an Leute, die ich gar nicht kenne, einfach um zu sagen: Wir sind keine Avatare, die für Lobbyisten einen Kampf austragen müssen. Wir sind doch noch Menschen und wollen das richtige und gute unterstützen.