Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Staatskonzern Gazprom zu Lieferungen nach Deutschland und Österreich angewiesen, um Gasspeicher für den Winter aufzufüllen. Die Gaspreise sinken. Ist die Krise vorbei?
Michail Krutichin: Es ist eine vorgetäuschte freundliche Geste in Richtung Europa. Und es ist die Demonstration dessen, dass Putin das Kommando über Gazprom hat. Wie auch bereits in den vergangenen Wochen, Monaten, Jahren benutzt er Gazprom als politisches Instrument. Die Wunden, also die Verluste, die Gazprom zuletzt erfahren hat, werden damit nicht gedeckt.
Wie sicher sind Preise und Versorgung?
Krutichin: Was Gazprom sagt und tut, wirkt sich auf die Futures-Preise aus, die immer sensibel reagieren. Es wirkt sich ebenfalls auf die Spekulationen auf den Finanzmärkten aus, wo diese Futures gehandelt werden. Die Speicher aber sind bereits ausreichend gefüllt, damit ein normaler Winter normal hinter sich gebracht wird. Außer dem Gas von Gazprom gibt es in manchen europäischen Ländern eigenes Gas, man könnte auch Erdgas aus Norwegen kaufen, zudem gibt es die Möglichkeit, Flüssiggas zu importieren. Die Europäer werden nicht frieren.
Erfüllt Gazprom alle seine Verträge?
Krutichin: Gazprom und die russische Regierung sagen geradezu bei jedem Schritt, dass sie alles erfüllen. Und es stimmt, da gibt es wirklich nichts zu beanstanden. Doch man macht lediglich „Dienst nach Vorschrift“, neue Verträge werden kaum abgeschlossen. Dabei hat Gazprom für gewöhnlich immer etwa 20 Prozent mehr Gas geliefert, als in langfristigen Verträgen ausgemacht worden war. Denn Gazprom hat gut auf dem Spotmarkt verkauft, wo Gas direkt gehandelt wird. Plötzlich und unerwartet erklärte es allerdings, dass es den Handel auf dem Spotmarkt im vierten Quartal dieses Jahres und das ganze kommende Jahr einstellen wird. Und das, obwohl die Preise momentan sehr hoch sind. Es lässt sich lukrative Geschäfte entgehen. Mit Absicht.
Warum lässt sich Gazprom absichtlich sichere Einnahmen entgehen?
Krutichin: Weil es sich nicht wie ein kommerzielles Unternehmen verhält. Gazprom schadet sich bewusst selbst. Der Grund ist ein politischer. Denn Gas ist vorhanden, man könnte problemlos mehr liefern. Erst vor kurzem erklärte Putin, dass zehn Prozent mehr Gas drin wären. Das Gas aber müsste durch Nord Stream 2 fließen. Das war die Bedingung. Das Kalkül des Kreml dabei: Wenn die Europäer wollen, dass wir nachgeben, sollen die Europäer erst selbst nachgeben und die Zertifizierung der Ostseepipeline beschleunigen. Das ist Erpressung. Damit setzt Russland Gazprom als politisches Instrument ein. Lassen Sie uns zum Beispiel auf den Winter 2014/2015 schauen, in dem Gazprom die Gaslieferungen nach Europa um 50 Prozent drosselte, weil die Europäer damit angefangen hatten, Gas an die Ukraine zu liefern. Das gefiel dem Kreml freilich nicht. Bei diesem politischen Spiel verlor Gazprom viereinhalb Milliarden Euro.
Dass Russland Gas als Waffe einsetzt, weist Putin scharf zurück. Blickt Moskau tatsächlich mit Sorge auf die Klimapolitik in Europa, die mit Häuserdämmung und Umstieg auf Ökostrom langfristig zu deutlich weniger Gasimporten führen soll?
Krutichin: Erst seit kurzem hat die russische Führung verstanden, dass die europäische Abwendung von fossilen Energieträgern eine Herausforderung für Russland darstellt, ja eine Gefahr. Früher schien das alles in sehr weiter Ferne zu liegen. Nun aber erkennt der Kreml: Die Europäer meinen es ernst, sie schaffen konkrete Arbeitspläne, sorgen für die Finanzierung ihrer Vorhaben. Widerwillig fängt man in Moskau an, sich an den Kopf zu fassen. Russland hat für den Export nichts anderes anzubieten als Öl und Gas. Die jüngsten Auftritte Putins enthielten eben die Aufforderung: Drosselt euer Tempo! Und wenn ihr euch doch beeilt, lassen wir euch frieren.