Herr Röttgen, der Nahe Osten steht an der Schwelle zu einem großen Krieg. Wie deuten Sie die Zeichen – bleibt es beim Kampf Israel gegen die Hamas oder werden andere Staaten und Akteure mit hineingezogen?
NORBERT RÖTTGEN: An einem Flächenbrand hat in der gesamten Region – außer der Hamas und dem Iran – niemand ein Interesse. Das macht etwas Hoffnung, dass eine Ausweitung verhindert werden kann. Der Plan der Hamas und des Iran ist ja klar und für alle politischen Akteure in der Region lesbar.
Und zwar?
RÖTTGEN: Durch unvorstellbar entsetzliche Gewalt der Hamas soll Israel zu einer Gegenreaktion gezwungen werden, die selbst Bilder der Zerstörung produziert und so die arabischen Bevölkerungen mobilisiert. Damit soll die Annäherung zwischen Israel und arabischen Staaten wie Saudi-Arabien aufgehalten werden. Für Israel stellt das ein Dilemma dar, denn das Land muss seine Sicherheit wiederherstellen und gleichzeitig versuchen, den teuflischen Plan der Hamas zu durchkreuzen, indem es die Bevölkerung in Gaza bestmöglich schützt. Einen Weg aus dem Dilemma zu finden, ist die große Aufgabe, die jetzt vor Israel liegt und auch vor denen, die Israel dabei unterstützen wollen.
US-Präsident Joe Biden hat erklärt, dass die Palästinenser in der Perspektive einen eigenen Staat brauchen. Was heißt das für die Politik Israels nach dem Ende der Kämpfe gegen die Hamas?
RÖTTGEN: Einige Jahre lebte Israel in der Illusion, man könne den Nahostkonflikt und die Palästinensische Frage wegsperren und verdrängen. Diese Illusion hat die Hamas mit einem unvorstellbar brutalen Gewaltexzess zerstört. All die komplizierten Fragen im Nahen Osten sind wieder offen und sie sind alle unbeantwortet. Wir stehen jetzt an einer Gabelung, an der es entweder zu einem Flächenbrand kommt oder der Grundstein für eine politische Lösung gelegt wird. Allen ist klar, den Israelis am allermeisten, dass auch die militärische Zerschlagung der Hamas dauerhaft nur etwas bringt, wenn es im Anschluss eine politische Perspektive für die Palästinenser gibt.
Auch Deutschland hat an der Zwei-Staaten-Lösung festgehalten, an die keiner mehr recht glaubte. Sollte die Idee mit deutscher Unterstützung neu belebt werden?
RÖTTGEN: Wenn ich politische Perspektive sage, meine ich genau das. Aus meiner Sicht sind dafür – neben Israel natürlich – die arabischen Länder am wichtigsten. Es gibt aber auch eine europäische und deutsche Verantwortung, sich nicht wieder abzuwenden, wenn die Gewalt abebbt. Wie genau eine Lösung der palästinensischen Frage aussehen kann, ist zurzeit nicht zu beantworten. Die Gewalt wird lange nachwirken. Aber sie zeigt auch, dass es Sicherheit dauerhaft nur durch politische Verständigung mit den Palästinensern geben kann.
Der jordanische König hat ein Treffen mit Joe Biden kurzfrisitig abgesagt. Hat Sie das überrascht?
RÖTTGEN: Man muss einfach sehen, wie stark der politische Druck in den arabischen Gesellschaften ist. Dort herrscht Empörung über Israel, den Westen und es gibt natürlich eine Solidarisierung mit der palästinensischen Sache. Die Hälfte der jordanischen Bevölkerung sind Palästinenser. Und dann kam auch noch die Falschmeldung über die Bombardierung eines Krankenhauses in Gaza dazu. Dem jordanischen König blieb nichts anderes übrig, als abzusagen. Leider ist damit genau das eingetreten, was die Hamas will – nämlich Diplomatie und Verständigung zu zerstören.
Muss sich Deutschland auf eine Flüchtlingswelle aus dem Gaza-Streifen einstellen und ist es überhaupt denkbar, dass Deutschland diese Schutzsuchenden aufnimmt?
RÖTTGEN: Man sieht jetzt leider, was es für ein Versäumnis war, dass sich die deutsche Außenpolitik mit diesem langen Streifen der Instabilität – der vom Sahel über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Afghanistan reicht – nie strategisch beschäftigt hat. Wenn in Israel und den Nachbarländern schwere Kämpfe ausbrechen, dann ist das natürlich etwas, was Leute potenziell dazu treibt, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Wir müssen klar sagen, dass wir helfen wollen, aber dass die Situation bei uns so ist, dass wir nicht mehr in der Lage sind, größere Zahlen von Menschen aufzunehmen. Unser Engagement muss in der Region stattfinden.
Der Bundeskanzler reiste als einer der ersten Regierungschefs nach den Gräueltaten der Hamas nach Israel, um ein Zeichen zu setzen. Wie kann Deutschland Israel helfen, wenn es das Versprechen der Staatsraison ernst meint?
RÖTTGEN: Alles, worum Israel uns bittet und was wir leisten können, das müssen wir auch tun – das ist im Moment wenig genug. Israel legt großen Wert auf unsere Solidarität und diplomatische Unterstützung. Das ist momentan selbstverständlich, muss aber auch fortbestehen, wenn es eventuell anstrengend wird. Denn nicht alle Länder, die des globalen Südens zum Beispiel, stehen so uneingeschränkt zu Israel, wie wir es tun.
In Deutschland gab es bislang kaum größere Solidaritätskundgebungen für Israel. Woran könnte das liegen?
RÖTTGEN: Ich nehme große Empathie, aber auch eine gewisse Schockstarre wahr, ausgelöst durch die schrecklichen Gräueltaten der Hamas. Wenn die nachlässt, wird hoffentlich auch die Bereitschaft, sich öffentlich zu Israel zu bekennen, größer.
Wie beobachten Sie die pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland? Besteht die Gefahr einer Eskalation?
RÖTTGEN: Demonstrationen sind prinzipiell legitim, Judenhass und Gewalt sind es nicht, sondern abscheulich und abstoßend. Alle notwendigen Instrumente sind vorhanden, um solche Szenen auf deutschen Straßen zu verhindern. Sie müssen in voller Konsequenz genutzt werden. Das geht vom Verfassungsschutz über die Polizei bis hin zur Strafverfolgung.
Der Kanzler hat der Ukraine ein Winterpaket versprochen. Taurus-Raketen kommen darin nicht vor. Sollte Deutschland diese Marschflugkörper liefern?
RÖTTGEN: Wir dürfen der Ukraine diese Unterstützung nicht weiter vorenthalten. Dass der Kanzler das gegenteilig entscheidet, halte ich für einen schweren moralischen und politischen Fehler. Er basiert auf einem Misstrauen gegenüber der Ukraine, das grundlos und auch verletzend ist. Wenn Deutschland und die USA – was Panzer, Flugzeuge und Langstreckenraketen anbelangt – rechtzeitig im Frühjahr geliefert hätten, dann wäre die militärische Lage in der Ukraine sehr wahrscheinlich heute eine andere. Stattdessen müssen wir uns wohl auf einen unabsehbar lang andauernden Stellungskrieg vorbereiten. Das ist etwas, woran all diejenigen, die sich für Frieden und ein Ende des Tötens einsetzen, kein Interesse haben können.
Man gewinnt als Beobachter von außen den Eindruck, die Front in der Ukraine sei festgefügt. Keine Seite kann in diesem Abnutzungskampf Durchbrüche erzielen. Wie hoch ist ihrer Einschätzung nach die Wahrscheinlichkeit, dass wir es am Ende mit einem eingefrorenen Konflikt zu tun bekommen?
RÖTTGEN: Das lässt sich derzeit überhaupt nicht abschätzen. Aber was sich verfestigt, ist die Einsicht, dass die Ukraine weiter unsere Unterstützung braucht. Nur sehe ich keine Aktivitäten, die uns längerfristig in die Lage versetzen würden, diese Unterstützung auch leisten zu können. Die eigenen Vorräte der nationalen Armeen gehen zur Neige und Industriekapazitäten sind nicht wirklich ausgedehnt worden.
Was folgt daraus?
RÖTTGEN: Man kann eigentlich jetzt schon die Situation voraussehen, dass der Westen den Ukrainern sagt: Wir haben nichts mehr. Das ist eine bedrohliche Entwicklung, die eintreten wird, wenn jetzt nicht endlich gehandelt wird. Das hat darum höchste Dringlichkeit.
Zur Person
Norbert Röttgen wurde am 2. Juli 1965 in Meckenheim geboren, er studierte Jura, legte 1993 das zweite Staatsexamen ab und promovierte acht Jahre später. Bereits 1982 trat er in die CDU ein. Seit 1994 sitzt er im Bundestag und war in seiner langen Karriere unter anderem Bundesumweltminister sowie Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, dem er derzeit als ordentliches Mitglied angehört. Er ist verheiratet, hat zwei Söhne und eine Tochter.