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Interview: Röttgen: "Dass der Ukraine die Munition ausgeht, ist ein europäisches Versagen"

Interview

Röttgen: "Dass der Ukraine die Munition ausgeht, ist ein europäisches Versagen"

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    Der CDU-Politiker Norbert Röttgen blickt mit großer Spannung auf die USA-Reise von Kanzler Olaf Scholz.
    Der CDU-Politiker Norbert Röttgen blickt mit großer Spannung auf die USA-Reise von Kanzler Olaf Scholz. Foto: Georg J. Lopata, Imago Images

    Herr Röttgen, der Bundeskanzler trifft US-Präsident Joe Biden in Washington zu einem Arbeitsbesuch. Sie werden Olaf Scholz vermutlich keine Ratschläge erteilen, aber was ist Ihre vordringlichste Erwartung an dieses Treffen?
    NORBERT RÖTTGEN: Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind die USA als wichtigste europäische Sicherheitsmacht auf den Kontinent zurückgekehrt. Das war keineswegs selbstverständlich und ist in erster Linie Joe Biden zu verdanken, der so transatlantisch und pro-europäisch denkt und handelt, wie man es sich als Europäer von einem US-amerikanischen Präsidenten nur wünschen kann. Es ist fundamental in unserem Interesse, die USA als Sicherheitsmacht in Europa zu halten, aber dafür müssen wir selbst mehr für unsere eigene Sicherheit tun. Denn die Amerikaner sind mehrheitlich nicht mehr bereit, den Löwenanteil unserer Verteidigung zu bezahlen. Es wäre daher extrem wichtig, dass Olaf Scholz mit dem eindeutigen Nachweis nach Washington reist, dass wir dies verstanden haben. Volle Auftragsbücher und eine Ausweitung der Produktionskapazitäten der europäischen Rüstungsindustrie wären so ein Nachweis.

    Es könnte im Herbst bei der US-Präsidentschaftswahl zur Neuauflage des Duells zwischen Amtsinhaber Joe Biden und seinem Vorgänger Donald Trump kommen. Trump gibt sich als guter Freund des russischen Präsidenten Putin – würde eine erneute Wahl des Republikaners am Ende die Chance auf eine friedliche Beilegung des Ukraine-Konfliktes erhöhen?
    RÖTTGEN: Donald Trump hat angekündigt, binnen 24 Stunden seiner Wiederwahl den Krieg in der Ukraine zu beenden. Da Putin zu ernsthaften Verhandlungen nicht bereit ist, muss man davon ausgehen, dass ein solcher Deal auf Kosten der Ukraine gehen würde. Aber die Konsequenz wäre keineswegs eine Rückkehr zu Frieden - im Gegenteil. Eine freie Ukraine, die unabhängig über ihre Zukunft in der EU und im westlichen Staatenbündnis entscheidet, ist mit Putins imperialistischen Russland unvereinbar. Er würde weiter mit allen Mitteln versuchen, die Ukraine zu destabilisieren. Angesichts der massiven russischen Aufrüstung spricht viel dafür, dass er über kurz oder lang wieder angreifen würde.

    Die entscheidende europäische Sicherheitsmacht sind die USA, doch die wenden sich zunehmend dem indo-pazifischen Raum zu. Und das könnte sich verstärken, sollte Trump wiedergewählt werden. Sie plädieren schon lange dafür, dass sich Deutschland und die gesamte EU sicherheitspolitisch und technologisch stärker aufstellen, um diese Entwicklung zu kompensieren. Sehen Sie da in den letzten zwei Jahren der Regierung unter Herrn Scholz Fortschritte?
    RÖTTGEN: Ich sehe Fortschritte, aber gemessen an der Aufgabe reichen die nicht. Wie die gesamte Unionsfraktion habe ich dem Bundeskanzler stehend applaudiert, als er in Reaktion auf die russische Invasion im Bundestag seine Zeitenwenderede gehalten hat. Wir haben das Sondervermögen mitgetragen, weil es in Zeiten von Krieg in Europa das richtige Signal war und die dringend notwendige Finanzierung von Bundeswehr-Großprojekten ermöglicht hat. Aber dass der Ukraine die Munition ausgeht und es keineswegs sicher ist, dass Russland diesen Krieg verlieren wird, ist ein europäisches Versagen. Bei allem Schrecken, der diesem Krieg innewohnt, hätte in der gemeinsamen Verteidigung unserer Freiheit und Sicherheit die Stunde Europas liegen können. Aber der Kanzler hat diese Chance nicht genutzt. Europa ist als sicherheitspolitischer Akteur nicht entstanden. Dass dies ausgeblieben ist, ist ein historisches Versagen.

    Zur Person

    Norbert Röttgen wurde am 2. Juli 1965 in Meckenheim geboren, er studierte Jura, legte 1993 das zweite Staatsexamen ab und promovierte acht Jahre später. Bereits 1982 trat er in die CDU ein. Seit 1994 sitzt er im Bundestag und war in seiner langen Karriere unter anderem Bundesumweltminister sowie Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, dem er derzeit als ordentliches Mitglied angehört. Er ist verheiratet, hat zwei Söhne und eine Tochter. 

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