Seit Wochen drehen sich die Diskussionen um China, ausgelöst durch die Äußerungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Sind Sie überrascht über die Aufmerksamkeit?
Reinhard Bütikofer: Nein, die Aufmerksamkeit ist verdient, denn die Debatte ist wichtig. Verschiedene Stränge verschlingen sich dabei miteinander. Zum einen ist China dabei, den Austausch mit Vertretern der EU-Mitgliedstaaten zu forcieren, weil man in Peking vom Europäischen Parlament und der EU-Kommission weniger angetan ist.
Wir sind China zu kritisch. Ich sage: Wir sind nüchtern. Nun hofft die chinesische Führung auf mehr Zugeständnisse von anderen Gesprächspartnern.
Und zum anderen?
Bütikofer: Akteure in Paris, Berlin, Madrid, Rom oder Warschau versuchen angesichts der unübersehbaren Verlockungen des großen chinesischen Marktes und unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, ob sie vielleicht noch eine Scheibe China-Handel abschneiden können.
Sie verweisen auf die Besuche zahlreicher EU-Politiker in China.
Bütikofer: Sicher. Indes: während derzeit eine lange Prozession nach Peking stattfindet, wird zugleich um die Gesamtorientierung der europäischen Chinapolitik gerungen. Vor vier Jahren kamen wir zu dem Ergebnis, dass China ein systemischer Rivale ist, also eine Macht, die nach autoritären Regeln unterwegs ist, die auch internationale Beziehungen so gestalten will, dass der Autoritarismus blüht. Man kann das nicht ignorieren.
Macron beansprucht für sich, die Stimme Europas zu sein...
Bütikofer: Wenn er sich voll Hybris selbst zum Obereuropäer ernennt, ändert das nichts daran, dass Europa überwiegend anders tickt als er. Immerhin hat er durch seine abstrusen Äußerungen ein Schlaglicht geworfen auf Punkte, die wir besser zu klären haben. Das ist sozusagen ein Glück im Unglück.
Wer spricht dann für Europa?
Bütikofer: Europa ist ein Chor. Wir sind stolz auf Einheit in der Vielfalt. Da klingt eben nicht alles unisono. Vor dem Hintergrund jeweiliger politischer Traditionen und Prioritätensetzungen wird nicht jeder französische und polnische Regierungsvertreter dasselbe sagen. Der Fortschritt besteht darin, dass die unterschiedlichen Stimmen einen Wohlklang ergeben und kein dissonantes Geschrei.
Wie sieht für Sie der richtige Kurs gegenüber China aus?
Bütikofer: Der fängt mit einer nüchternen Analyse an: China unter der Führung von Xi Jinping wird beherrscht von einem totalitären Regime, das hegemoniale Ambitionen hat, die weit über die eigene Region hinausgehen, und das nicht bereit ist, sich auf das geltende internationale Recht verpflichten zu lassen. Wenn man es auf der Zeitachse betrachtet, ist das heutige China ein Rückschritt – nach innen viel repressiver als vor zehn Jahren, nach außen aggressiver. Aber wegen der gewachsenen ökonomischen und militärischen Stärke gibt es Nationalisten in Peking, denen die Großmacht-Arroganz aus allen Knopflöchern platzt. Wir sollten deshalb China gegenüber nicht als einzelne Länder, sondern in einem Verbund mit Akteuren auftreten, die ähnliche Überzeugungen teilen wie wir. Ich denke etwa an die Japaner, Südkoreaner, Australier, Kanadier und US-Amerikaner.
Nun meinen einige in Europa, man müsse sich in Sachen China von den USA distanzieren. Macron sprach von der Gefahr, dass die Europäer in der Taiwan-Frage Mitläufer werden.
Bütikofer: Das war Unsinn. Wenn wir sagen, wir wollen nicht, dass China Taiwan überfällt, dann folgen wir damit unseren eigenen Werten und Interessen, weil wir solidarisch mit der taiwanesischen Demokratie sind und erhebliche politische und wirtschaftliche Probleme bekommen, wenn China die Insel unter den Stiefel tritt. Sich mit dem Thema zu befassen, heißt nicht nach der amerikanischen Pfeife zu tanzen.
Wie bewerten Sie die Forderung, Europa in der Welt zu einem dritten Pol zu machen?
Bütikofer: Im Sportunterricht wollte ich immer über 1,60 Meter hochspringen können, habe es aber nie geschafft. Der Wunsch ersetzt nicht das Können. Mit der EU ist es ähnlich. Sie hat einfach nicht die Voraussetzungen dafür, eine Supermacht zu sein. Schon mancher französische Präsident hat die begrenzte Grandeur seiner eigenen Nation durch Europa-Illusionen ausgleichen wollen. Aber Europa entwickelt seine Stärke nicht, indem ehemaligen Kolonialmächte gemeinsame Supermacht-Ambition entwickeln, sondern indem wir die Grundmelodie der letzten 70 Jahre – Multilateralismus, internationale Herrschaft des Rechts – weiterentwickeln. Die Idee der EU ist die der Partnerschaft auf Basis des gleichen Respekts. Ich finde das klug.
Warum tut sich Europa so schwer, eine gemeinsame Außenpolitik gegenüber China zu entwerfen?
Bütikofer: Meine Gegenfrage: Seit wann versucht Deutschland, konsequent zu einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik gegenüber China beizutragen? Frühestens seit Angela Merkel aus dem Amt ist. Solange sie Kanzlerin war, folgte die deutsche Chinapolitik der Unterstellung, dass wir einen Löffel hätten, der lang genug ist, um auf alle Ewigkeit mit den Chinesen aus derselben Suppenschüssel zu essen. In Wirklichkeit ist unser deutscher Löffel zu kurz. Da ist dieser schöne Satz, wonach es in Europa nur zwei Arten von Ländern gibt: Kleine Staaten – und Staaten, die noch nicht verstanden haben, dass sie klein sind. Diese Erkenntnis muss uns dazu führen, einen europäischen Löffel zu schnitzen.
Olaf Scholz etwa reiste im vergangenen Jahr allein mit Wirtschaftsvertretern nach Peking. Wo steht er in der China-Frage?
Bütikofer: Das ist nicht immer einfach zu sagen, weil der Kanzler so gerne schweigt. Es ist bekannt geworden, dass er erfreulicherweise mit Blick auf Taiwan europäischem Mainstream folgt: Dass wir entschieden dagegen sind, einseitige Veränderungen des Status quo in der Straße von Taiwan vorzunehmen. Aber dass der Kanzler direkt nach dem Krönungs-Parteitag für Xi Jinping nichts Dringenderes zu tun hatte, als dem Parteikaiser seine Aufwartung zu machen, trug sicher dazu bei, dass andere Staats- und Regierungschefs nun auch nach Peking pilgern. Mit Alleingängen führt man schwer auf den Weg zur Gemeinsamkeit.