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Interview: Politologin warnt vor Parteienverdrossenheit nach Kanzler-Machtwort

Interview

Politologin warnt vor Parteienverdrossenheit nach Kanzler-Machtwort

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    Politikwissenschaftlerin Ursula Münch: "Das schafft Verdruss."
    Politikwissenschaftlerin Ursula Münch: "Das schafft Verdruss." Foto: Jürgen Heinrich, Imago

    Frau Professor Münch, mit der Entscheidung, alle verbliebenen drei Atomkraftwerke bis April laufen zu lassen, hat Olaf Scholz als erster Kanzler seit Jahrzehnten vom Machtinstrument der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht. War das ein politischer Offenbarungseid oder nur ein taktisch geschickter Kniff, damit alle Beteiligten in dieser Streitfrage das Gesicht wahren konnten?

    Ursula Münch: Das ist mehr als nur Taktik. Der Bundeskanzler war sich sicher bewusst, welchen öffentlichen Eindruck er hervorruft und welche Diskussionen entstehen, wenn er zu diesem letzten Mittel greift. Sich auf Richtlinienkompetenz beziehen zu müssen und diesen Brief zu schreiben zeigt, dass er offensichtlich keine andere Handhabe mehr gesehen hat, in der Kürze der Zeit auf andere Weise einen Kompromiss herstellen zu können. Es ist zwar noch kein Offenbarungseid, aber doch ein Armutszeugnis, das einen sorgenvoll auf diese Bundesregierung blicken lässt.

    Was bedeutet das für die Stabilität der Koalition?

    Münch: Die Frage der Stabilität der Koalition entscheidet sich bei der Abstimmung im Bundestag, ob das nötige Gesetz für die Verlängerung des Betriebs der drei Kernkraftwerke tatsächlich die parlamentarische Mehrheit bekommt und wie geschlossen sich die Grünen verhalten. Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin ist zwar höchst verärgert, aber die Grünen werden sehr wahrscheinlich nicht die Koalition infrage stellen wollen. Der Bundeskanzler hat im Kabinett bereits sein schwerstes Geschütz abgefeuert. Aber seine Richtlinienkompetenz gilt nur in der Bundesregierung und nicht gegenüber dem Parlament. Wenn er die Abstimmung nun auch noch mit der Vertrauensfrage verknüpfen müsste, wäre das ein dramatisches Zeichen. Aber dazu wird es kaum kommen, dazu ist die Frage, ob zwei oder drei Atomkraftwerke vier Monate länger laufen, schlicht nicht bedeutend genug.

    Erleben wir eine Koalitionskrise? Oder ist es nur eine weitere Phase des Dauerstreits, an den sich viele gewöhnt haben?

    Münch: Trotz der fröhlichen Worte vom Aufbruch im Koalitionsvertrag war von vornherein klar, dass viele Probleme entstehen, wenn eine Regierung aus so unterschiedlichen Koalitionspartnern besteht wie die Ampel-Koalition. Vor allem die FDP ist widerwillig in diese Regierung gegangen. Die jetzige Eskalation zeigt, dass innerhalb der Regierung offensichtlich die nötige Gesprächsbasis und Bereitschaft dafür fehlen, sich entgegenzukommen. Nachdem dabei der Eindruck entsteht, dass sich die Minister der Grünen und

    Helmut Schmidt war stolz drauf, dass er nie von der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat. Angela Merkel hat nur einmal damit offen gedroht, im Streit mit dem damaligen CSU-Chef Horst Seehofer um die Einwanderungspolitik. Was bedeutet der Schritt von Scholz historisch?

    Münch: Das Vorgehen von Olaf Scholz ist extrem ungewöhnlich. Die meisten Kanzler außer Konrad Adenauer haben allenfalls damit gedroht; schließlich sind Minister keine Untergebenen, denen der Regierungschef Befehle erteilen könnte – zumindest nicht, wenn sie einer anderen Partei angehören. Eigentlich ist die Richtlinienkompetenz ein Instrument, auf dessen möglichen Einsatz höchstens im kleinen Kreis verwiesen wird, um eine Einigung zu erreichen. Wenn der Regierungschef dann tatsächlich dazu greifen muss, ist das ein Eingeständnis, dass man nicht anders zu einer Einigung kommt und nicht mit der Kraft des Arguments zu Kompromissen finden kann. Und es zeigt, dass die anderen Partner zu widerborstig sind. Der jetzige Gebrauch ist offensichtlich auch eine Folge des Umstands, dass wir noch niemals eine Bundesregierung aus so unterschiedlichen Partnern hatten. Und es zeigt, dass es selten in Deutschland um so existenzielle Fragen ging wie in der aktuellen Situation, die eine echte Multi-Krise darstellt.

    Müssen wir uns an einen neuen Regierungsstil gewöhnen? Erst wird gestritten und dann entscheidet der Chef?

    Münch: Olaf Scholz könnte zwar eine Vorlage für künftige Fälle geschaffen haben. Aber ein Bundeskanzler ist kein klassischer Chef mit Weisungsbefugnis, sondern, wie man sagt, ein „Primus inter Pares“, der Erste unter Ranggleichen, also der Vorsitzende der Bundesregierung. Es ist nicht zu erwarten, dass der Kanzler künftig nur auf seine Richtlinienkompetenz verweisen muss und die anderen spuren. Dazu sind die Koalitionspartner viel zu selbstbewusst. Jeder legt Wert darauf, eine eigenständige Kraft zu sein. Was die Koalition zusammenhält, ist das Wissen, dass keiner der Partner von Neuwahlen profitieren würde und es auch in einer Jamaikakoalition zu ähnlichen Konflikten zwischen Grünen und FDP käme.

    Ist das Machtwort von Scholz nicht ein wichtiges Signal an die Bevölkerung, die Regierung tut alles für die Energiesicherheit?

    Münch: Die breite Bevölkerung dürfte die Entscheidung des Kanzlers kaum als echten Befreiungsschlag empfinden. Es war schon vorher klar, dass die beiden Kernkraftwerke in Bayern und Baden-Württemberg als Reserve zur Verfügung stehen sollen. Jetzt kommt ein niedersächsisches Kernkraftwerk hinzu, dessen Beitrag umstritten ist. Obwohl es immer mehr Warnungen gibt, dass die Lage im nächsten Winter noch viel dramatischer sein könnte als heute, soll mit der Kernkraft im April 2023 Schluss sein. Im Grunde wird das Problem also nur aufgeschoben.

    Zur Person: Ursula Münch, 61, ist Politikwissenschaft-Professorin und seit 2011 Direktorin der renommierten Akademie der Politischen Bildung in Tutzing am Starnberger See.

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