Herr Professor Münkler, Bundeskanzler Scholz spricht von einer „Zeitenwende“. Worin genau besteht diese?
Herfried Münkler: Vor allen Dingen in der Umstellung eines generalisierten Vertrauens in ein spezifisches Misstrauen. Wenn man zuvor von einer regelorientierten, wertebasierten Weltordnung ausgegangen ist, dann setzt das natürlich ein gewisses Vertrauen darin voraus, dass es keinen der relevanten Beteiligten gibt, der in großem Stil die Regelbindung der anderen zynisch zum eigenen Vorteil ausnutzt. Was wir jetzt beobachten ist: Diese Unterstellung hat sich als naiv erwiesen. Putin tut genau das. Und was damit an die Stelle dessen tritt, ist generalisiertes Misstrauen. Nicht nur gegenüber Putin, sondern auch gegenüber vielen anderen, zumal den Chinesen.
Und daraus folgt?
Münkler: Die Abkehr von der Vorstellung einer spezifischen Weltordnung, die von Regeln, Werten und Normen getragen wird. Und es folgt ein Sich-Einigeln in Bündnissysteme, deren wirtschaftliche und vor allem auch militärische Selbstbehauptung im Zentrum stehen. Ergo: die dramatische Erhöhung der Militärausgaben.
Wie blank stand denn die wertegeleitete und regelbasierte Außenpolitik vor der Scholz-Rede da?
Münkler: Sie haben darauf vertraut, dass wirtschaftliche Macht aufgrund ihrer langfristigen Folgen die kurzfristigen Effekte militärischer Macht schlagen würde. Und das hat nicht funktioniert. Deshalb würde ich nicht sagen, sie standen ganz blank da, aber sie sind von Voraussetzungen ausgegangen, die sich dramatisch als falsch erwiesen haben. Aber lernen heißt, Annahmen, mit denen man arbeitet, zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu korrigieren. Dabei ist die deutsche Politik jetzt.
Wie bewerten Sie die außenpolitische Position Deutschlands nach dieser Korrektur?
Münkler: Zurückgekehrt und fest eingebunden im westlichen Bündnis. Etwas, was nach innen übrigens noch intensiv kommuniziert werden muss. Wobei es nicht zuletzt darauf ankommt, dass zumindest die Grünen und die SPD innerhalb der Ampel-Koalition dafür die Unterstützung und das Verständnis ihrer Wähler finden. Das ist das Riskante bei solchen Kurswechseln.
Sie haben jüngst gesagt, die Weltgemeinschaft können wir uns abschminken. Bis wann war es richtig zu versuchen, Putin in diese einzubinden? Und ab wann spätestens wäre Abschreckung das einzig Sinnvolle gewesen?
Münkler: Das Dilemma ist, dass diejenigen, die auf Worst-Case-Szenarien setzen, danach immer besser dastehen, als diejenigen, die bis zum Schluss versucht haben den Status quo zu erhalten. Vermutlich war die Situation bis zu Putins eigentümlichen Auftritt mit seinen Paladinen, die ihn um Anerkennung der Bezirke Donezk und Luhansk baten, noch offen. Aber ab da war klar, die Entscheidung ist gefallen. Und kommuniziert wurden von Putin dabei öffentlich zwei Dinge. Erstens: Es gibt im engsten Kreis der Macht keinen, der eine andere Politik verfolgt als Putin. Also dessen Botschaft: Ihr Oligarchen könnt Euch abschminken, dass ihr einen anderen an meine Stelle setzen könnt. Und zweitens, Richtung Weltgemeinschaft: Die Entscheidung ist gefallen.
Mit dem Wissen von heute ist es natürlich ein bisschen wohlfeil, mit der Außenpolitik von vorher abzurechnen. Deshalb die Nachfrage: War Merkels Außenpolitik nicht doch richtig in ihrer Zeit, so falsch sie heute anmuten mag?
Münkler: Das kann man sagen. Machiavelli hat das „qualità dei tempi“ – die spezifischen Umstände einer besonderen Zeit – genannt, die dann eine spezifische Politik und einen bestimmten Politikertypus privilegieren. Im Nachhinein lässt sich schon beobachten, dass sich die Weltlage in den 2010er Jahren verändert hat: die Krim-Annexion, der Donbass-Fall und vieles andere mehr. Aber man konnte sich natürlich nicht sicher sein: Ist das jetzt eine definitive Veränderung oder ist das nur eine minimale Kurskorrektur?
Es ist nicht unbedingt leicht nachzuvollziehen, warum Putin ausgerechnet jetzt zu dem Ergebnis kam, es genüge ihm nicht mehr. Der Beitritt der Ukraine zur Nato stand ja nicht unmittelbar bevor. Vielleicht erschien ihm auch nur die Konstellation günstig. Die USA habe sich auf China konzentriert, die Europäer waren mit sich selbst beschäftigt. Der Gegensatz zwischen den USA und Europa war unübersehbar. Einfach eine occasione, die man nicht verstreichen lassen sollte, sondern bei der man zugreifen muss. Damit aber hat Putin sich offenbar verrechnet.
Als Putin den Befehl zum Angriff gab, tagte der Weltsicherheitsrat. Was sagt das über Putin, was über den Weltsicherheitsrat?
Münkler: Es zeigt, dass eine starke regelbasierte Werteordnung einen Hüter braucht. Das waren zu keinem Zeitpunkt nach 1989 die Vereinten Nationen selber. Das waren de facto die USA. Aber die haben erstens relativ viele Fehler und Ungeschicklichkeiten gemacht und dann ist ihnen zweites eben diese Rolle zu teuer geworden. Eine Ordnung, die hochgradig normativ aufgeladen ist, aber keinen Hüter hat, ist im Prinzip gefährdet. Das hätte man früher wissen können. Jedenfalls habe ich zum Beispiel das seit drei, vier Jahren immer wieder geschrieben und gesagt.
Putin droht immer unverhohlener mit seinem nuklearen Potenzial. Wie geht es weiter?
Münkler: Putin hat sich verschätzt. Er ist wohl davon ausgegangen, dass es eine schnelle militärische Operation gibt, dass man in Kiew die Regierung auswechselt, eine prorussische Regierung einsetzt und dass eine relevante Gruppe der Ukrainer die Russen als Befreier begrüßt. Genau das ist nicht der Fall. Wahrscheinlich kann man das auch erklären: Denn Autokraten haben Leute um sich, die ihnen nicht widersprechen. Weshalb Autokraten mit der Zeit immer dümmer werden.
Im Augenblick ist das Fuchteln mit dem Nuklearpotenzial eher ein Gestus gegenüber dem Westen als eine tatsächliche Bedrohung. Diesen Alarm-Zustand hatte Putin auch während der Annexion der Krim ausgerufen. Die Situation könnte sich aber zuspitzen, wenn die Russen sich in der Ukraine in einem endlosen Krieg festfressen. Auch, weil der Westen jetzt militärisches Equipment und entsprechende Waffen liefert, mit dem die Ukrainer Panzer und Hubschrauber vernichten können. Das könnte zu einer Eskalation führen, die Putin dann nicht aus einer Position der Stärke, sondern der Schwäche in Gang setzt. Das darf man nicht unterschätzen.
Zu was ist Putin fähig, wenn er alles dahingehend sieht?
Münkler: Das Scheitern eines Autokraten ist eine riskante Sache. Aber man kann darauf vernünftigerweise nicht reagieren, indem man sagt: Ach, geben wir ihm seinen Willen, sonst wird er noch gefährlicher. Das hätte dann Lerneffekte für ganz andere. Was man westlicherseits im Auge behalten muss, ist Putins Gesichtsverlust in Grenzen zu halten. Und zwar so lange das noch geht. Aber je länger dieser Krieg dauert und je weniger er die Russen zu dem angestrebten Ergebnis führt, desto unvermeidlicher wird der Gesichtsverlust sein. Das heißt: Mit jedem Tag länger wird die Chance, für Putin aus der Sache noch rauszukommen kleiner werden.
Wie naiv ist es zu glauben, dass die EU jetzt endgültig ihre Lektion lernt und ihre Verteidigungspolitik auf die Kette kriegt?
Münkler: Ich würde sagen: Die haben das schon gelernt. Und diese fundamentale Veränderung, die Scholz jetzt vollzogen hat, ist ein irreversibler Vorgang. Ich meine, 100 Milliarden Euro müssen überhaupt erst einmal verplant werden. Bis das bei der Truppe ankommt, wird es Jahre dauern. Das ist nichts, was von jetzt auf gleich über die Bühne geht. Das sind Positionen, hinter die keiner mehr zurückkann. Auch aus einem anderen Grund: Selbst wenn Putin gewinnt, wird er eine zerstörte Ukraine haben. Die wird wirtschaftlich wie Blei an ihm hängen, bedeutet, dass er auch danach gefährlich und unberechenbar ist.
Was lernt China gerade?
Münkler: Die Chinesen beobachten, haben Taiwan im Hinterkopf und sehen, wie so etwas ablaufen kann. Und überlegen sich vermutlich, ob die taiwanesische Bevölkerung ähnlich heroisch Widerstand leisten würde wie gerade die ukrainische Bevölkerung. Von daher werden sie abschätzen, wie der Westen und die USA reagieren könnten. Weiterhin können Xi Jinping und die chinesische Führung sich in Ruhe zurücklehnen und sagen: Na, wenn die Sanktionen wirklich so greifen, wie der Westen behauptet und die Russen aus den globalen Wirtschaftskreisläufen ausgeschlossen werden, dann bleibt denen nichts anderes übrig, als sich in unsere Arme zu flüchten. Danach sind wir der Herr der Lage. Die Chinesen werden beobachten, welcher Machtsort langfristig dominieren wird: militärische oder wirtschaftliche Macht.
So. Und dann wäre da noch der Klimawandel. Besser werden die Aussichten auch hier nicht.
Münkler: Nein. Wenn der Krieg noch lange dauert, ist nicht auszuschließen, dass die Frage der Begrenzung des Klimawandels ganz weit nach hinten gerät. Das wäre die zweite Katastrophe.
Zur Person: Herfried Münkler, 69, ist Politikwissenschaftler und Autor. Er lehrte bis 2018 am Sozialwissenschaftlichen Institut der Berliner Humboldt-Universität.
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