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Interview: Polens früherer Außenminister: „Deutschland hielt Putin nie für eine Bedrohung“

Interview

Polens früherer Außenminister: „Deutschland hielt Putin nie für eine Bedrohung“

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    Polens Außenminister Radoslav Sikorski.
    Polens Außenminister Radoslav Sikorski. Foto: Tobias Hase, dpa (Archivbild)

    Sie haben in der Vergangenheit oft vor der Aggression von Russlands Präsident Wladimir Putin gewarnt. Nahm der Westen den Osten zu wenig ernst?

    Radoslaw Sikorski: Natürlich nahmen wir in Polen die Zeichen der Gefahr früher wahr. Wir sind schwächer und näher dran. Als Putin begann, in den Schulen eine Mischung aus zaristischer und sowjetisch-imperialer Ideologie lehren zu lassen, wussten wir, wohin das führen würde. Ich erinnere mich an einen Briefwechsel mit Frank-Walter Steinmeier. Wir waren uns einig über das Wesen des Putinismus. Aber es ging um die Frage, wie wir dagegen angehen sollten.

    Er meinte, wir dürften nicht überreagieren und damit den Fehler von 1914 wiederholen, als wir uns in einem unnötigen Krieg wiederfanden. Ich habe ihm gesagt, dass Putin gestoppt werden muss. Mit der Einnahme der Krim hat er ein Tabu gebrochen, indem er unter dem Vorwand, nationale Minderheiten zu schützen, Grenzen mit Gewalt verändert hat. Aber Deutschland konnte es sich leisten, auf unsere Warnungen nicht zu hören. Wenn sich die Lage verschlimmert, sind wir es, die an vorderster Front stehen.

    Das klingt beinahe etwas frustriert.

    Sikorski: Keine Sorge, wir sind daran gewöhnt. Wegen Putin entdeckt Westeuropa gerade, dass auch Osteuropa eine Geschichte hat. Russland erobert ein Gebiet zurück, das es schon einmal erobert hatte, als die Ukraine und Polen noch Teil des polnisch-litauischen Staatsgebildes waren. Einige der deutschen Politiker lernen nun sogar, dass die Russen früher bereits versucht haben, die

    Polen forderte schon lange mehr Abschreckung gegenüber Putin

    Sind Sie erstaunt, wie wenig Bewusstsein dafür herrscht?

    Sikorski: Es ist eher ärgerlich. Europa ist noch nicht ganz zusammengewachsen. Wir im Osten müssen noch einiges lernen, und Sie wissen nicht, was wir im Kommunismus durchgemacht haben. Zu diesem Lernprozess gehört, dass die Deutschen erkennen, was in ihrem eigenen Land passiert ist.

    Viele vergessen, dass Deutschland zu einem Viertel ein post-kommunistisches Land ist. Wie die russische Armee in der Ukraine agiert, ist dem, was die Rote Armee nach der Eroberung in Deutschland getan hat, gar nicht so unähnlich. Bereits vor 2014 hatte ich gehofft, man könnte Putin abschrecken durch die Stationierung von mehr Nato-Präsenz in Polen. Das wurde als zu hart abgetan. Dabei vergaß man, dass die BRD während des Kalten Kriegs als Frontstaat 300.000 US-amerikanische Soldaten auf deutschem Boden hatte.

    Ex-Außenminister: Ich bekam Härte der deutschen Regierung zu spüren

    Wie bewerten Sie Deutschlands Rolle damals und aktuell in der Krise?

    Sikorski: Ich bekam 2007 die Härte der deutschen Regierung zu spüren, als ich die Nord Stream-Pipeline kritisiert habe. Das war eine rein politische Investition Russlands. Es ging nie um zusätzliches Gas für Deutschland, sondern darum, die Gaslieferungen umzuleiten, um einen Krieg mit der Ukraine führen zu können, um die

    Haben Sie den Eindruck, dass Berlin auch entsprechend agiert?

    Sikorski: Ich hoffe, dass die Regierung hält, was sie gesagt hat, nämlich dass Deutschland die Ukraine weiterhin und verstärkt militärisch unterstützen wird, bis die Russen die Ukraine verlassen. Zweitens, dass mit denjenigen, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben, ähnlich verfahren wird wie mit jenen auf dem Balkan.

    Und dass wir uns unabhängig von russischer Energie machen. Es wird teuer, aber es ist besser, mehr für Energie zu bezahlen, als die nächsten zwei Jahrzehnte eine Wiederaufrüstung zu erleben, geschweige denn einen Krieg zu führen. Ich erwarte von Deutschland aber vor allem, dass es ernsthaft über die eigene Sicherheit nachdenkt. Die Russen haben atomar bestückte Kurzstreckenraketen in der Region Kaliningrad stationiert, die Berlin erreichen können. Warum ist das in Deutschland kein Thema?

    Sagen Sie es uns.

    Sikorski: Bislang haben die Deutschen Putin grundsätzlich nicht für eine Bedrohung gehalten. Sie haben sich sehr wohl dabei gefühlt, die Außen- und Sicherheitspolitik an die Amerikaner zu delegieren. Das hat es ihnen ermöglicht, mittels einer schönen postmodernen Sprache eine Handels- und Industriepolitik zu betreiben, die das Land sehr reich gemacht hat.

    Polen bietet bislang mehr als 2,5 Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen Schutz. Wie bewerten Sie die Lage?

    Sikorski: Es ist ein interessanter Test für Polen. Erst wurde unsere Solidarität auf die Probe gestellt, den Test haben wir bestanden. Jetzt geht es um die Frage der Effizienz unseres Staates. Ich hoffe, wir werden an der Aufgabe wachsen. Denn viele Flüchtlinge werden in der Nähe der Ukraine bleiben wollen, und die große Mehrheit ist in Privatunterkünften untergebracht.

    Wichtig ist, dass die finanzielle Unterstützung ausreichend ist und die Regierung reibungsloser mit den lokalen Behörden zusammenarbeitet. Aber wir haben in den Schulen keine großen Kapazitäten an verfügbaren Plätzen oder in unseren Krankenhäusern so viele freie Betten. Und Putin hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen.

    Polens Ex-Außenminister fordert von EU Konsequenz im Streit mit Warschau

    Derzeit hält die EU Milliarden aus dem Corona-Aufbaufonds zurück, weil sie die polnischen Gerichte nicht mehr als unabhängig betrachtet. Blockiert Brüssel die Mittel zu Recht?

    Sikorski: Ich bin hin- und hergerissen. Ich wünsche mir einerseits, dass mein Land das Geld so schnell wie möglich bekommt. Andererseits möchte ich, dass Polen eine Demokratie ist. Dabei geht es um Normen und Prinzipien. In meiner Anwesenheit in Straßburg hat Mateusz Morawiecki Ursula von der Leyen versprochen, dass er sich an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs halten und die illegale Disziplinarkammer des Obersten Gerichts auflösen wird. Das war im Oktober und er hat es immer noch nicht getan.

    Mit Rechtstaatsmechanismus könnte Brüssel Zahlungen aus dem EU-Haushalt kürzen oder streichen ...

    Sikorski: Wenn die EU sich jemals wieder erweitern will, muss dieser Mechanismus funktionieren. Vor dem Beitritt mussten wir beweisen, dass wir eine funktionierende Demokratie sind. Leider ist niemandem in den Sinn gekommen, dass man, wenn man die Standards einmal eingeführt hat, sie auch wieder zurücknehmen könnte. Aber es gibt eine Grenze für die Anzahl dysfunktionaler Staaten, die die EU auf einmal tolerieren kann. Wenn wir uns um Länder erweitern wollen, die ebenfalls kommunistisch waren, wie die Ukraine, müssen wir in der Lage sein, sie auch nach ihrem Beitritt wieder in den demokratischen Konsens zurückzuführen, wenn sie vom Weg abkommen.

    Sie bezeichnen Polen als dysfunktionalen Staat?

    Sikorski: Teile der Regierungspartei haben selbst gesagt, dass die Justizreformen gescheitert sind. Ihr Ziel war es, die Verfahren vor den polnischen Gerichten zu beschleunigen. Jetzt dauern sie doppelt so lang. Was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass große Teile der Bevölkerung kein Vertrauen mehr in die Unparteilichkeit und den unpolitischen Charakter der Justiz haben. Das ist ein Scheitern.

    Noch vor kurzem warnten viele Politiker vor einem Polexit. Besteht Ihrer Meinung nach weiter die Gefahr eines polnischen EU-Austritts?

    Sikorski: Der Brexit in Großbritannien ist passiert, weil eine winzige europafeindliche Gruppe in der Regierungspartei bereit war, die Partei und sich selbst zu zerstören, um ihren Willen durchzusetzen. Wir haben die gleiche Situation in Polen. Der Grund, warum die EU die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds noch nicht bezahlt hat, liegt darin, dass die Fraktion des Justizministers, die über genügend Stimmen verfügt, um die Regierung zu stürzen, lieber die Macht verliert, als sich den vereinbarten EU-Regeln zu beugen. Aber nächstes Jahr stehen Wahlen an. Ich hoffe, dass wir gewinnen und die Institutionen reparieren können. Unser öffentliches Fernsehen ist nach russischem und ungarischem Vorbild nur noch ein Sprachrohr für die Regierungspartei. So kann es in einer Demokratie nicht weitergehen.

    Zur Person: Radoslaw Sikorski, 59, war erst Verteidigungs- und bis 2014 Außenminister Polens. Seit 2019 sitzt er im EU-Parlament und ist Mitglied der konservativen EVP-Fraktion.

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