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Interview: Pisa-Papst: "Je teurer ein Land zum Leben ist, desto besser muss Schule sein"

Interview

Pisa-Papst: "Je teurer ein Land zum Leben ist, desto besser muss Schule sein"

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    Lässt sich nicht vom schönen Schein beeindrucken: Andreas Schleicher blickt tief in die Bildungssysteme der Länder.
    Lässt sich nicht vom schönen Schein beeindrucken: Andreas Schleicher blickt tief in die Bildungssysteme der Länder. Foto: Emilio Naranjo, dpa (Archivbild)

    Das Interview mit Andreas Schleicher haben wir im September 2023 vor Erscheinen der aktuellen Pisa-Studie geführt.

    Herr Schleicher, würden Sie Ihre Kinder gerade gern in Deutschland auf die Schule schicken?

    Andreas Schleicher: Ich denke schon, dass man in Deutschland viele gute Schulen finden kann, selbst wenn das Schulsystem insgesamt sehr verbesserungswürdig ist. 

    Bayern und Sachsen sind in bundesweiten Vergleichsstudien regelmäßig die Länder mit den besten Ergebnissen. Stehen da auch die tollen Schulen?

    Schleicher: Die wirklichen Qualitätsunterschiede findet man zwischen den Schulen – und sogar zwischen den Klassen. Wenn Sie nach Finnland gehen, dann unterscheiden sich die Schulen in den Leistungen ihrer Schüler um fünf Prozent. In Deutschland liegen 50 Prozent der Leistungsvariabilität zwischen den Schulen. Die Bundesländer insgesamt unterscheiden sich da gar nicht so gravierend. 

    Interessant, weil Bayern ja immer, wenn eine für Deutschland wenig erfreuliche Bildungsstudie erscheint, auf seine eigenen Ergebnisse abstellt und sich als erfolgreiche Ausnahme lobt.

    Schleicher: Es gibt viele Stärken im bayerischen Schulsystem, das muss man klar sagen. Aber heute muss ein Land wie Bayern sich nicht nur an den restlichen Bundesländern messen, sondern an der Weltspitze. Je teurer ein Land zum Leben ist, desto besser muss es sein. Ein Land wie Deutschland oder auch Bayern muss sich fragen: Wie kommen wir an diese

    Mit der Weltspitze misst man sich in Bayern gerne.

    Schleicher: Oh, dorthin gibt es immer noch einen ziemlich großen Abstand. Es hat enorme Fortschritte gegeben nach dem Pisa-Schock. Aber heute ist vieles an Reformdynamik wieder draußen. Bei der Digitalisierung etwa tut Deutschland sich sehr schwer. Die Frage ist: Wie können wir junge Menschen für ihre Zukunft vorbereiten, statt uns an der Vergangenheit auszurichten? Das Bildungssystem ist immer noch sehr auf die Vermittlung von Fach- und Fertigwissen fokussiert, aber Kompetenz? Da gibt es noch große Schwierigkeiten – auch in Bayern. 

    Das bayerische Abitur wird hochgelobt.
    Das bayerische Abitur wird hochgelobt. Foto: Karl-Josef Hildenbrand, dpa

    Sind deutsche Schülerinnen und Schüler aufs Leben vorbereitet, wenn sie den Abschluss in der Tasche haben?

    Schleicher: Eben nicht. Sie haben sicherlich sehr viel gelernt. Aber die Welt belohnt Sie heute nicht mehr dafür, was Sie wissen, Google weiß alles. Die Welt belohnt Sie dafür, was Sie mit dem, was Sie wissen, tun können. Da hapert es in Deutschland. Kann ich mein Wissen in neuen Zusammenhängen nutzen? Übernehme ich Verantwortung, beweise ich Kreativität, Einsatzbereitschaft? Das sind heute die wichtigen Fragen.

    Wer viel mit Lehrkräften, Eltern und Oppositionspolitikern spricht, bekommt schnell den Eindruck, das Schulsystem befinde sich in der größten Krise seit Jahrzehnten. Würden Sie diesen Eindruck bestätigen?

    Schleicher: Man kann durchaus von Krise sprechen. Die Welt verändert sich deutlich schneller als unser Schulsystem. Wir haben heute Universitätsabsolventen, die es schwer haben, einen guten Job zu finden. Auf der anderen Seite sagen die Arbeitgeber: Wir finden keine Leute mit den Fähigkeiten, die wir brauchen. Oder schauen Sie auf die Lehrkräfte: Es gibt kein Land, das Lehrer so gut bezahlt wie Deutschland außer Luxemburg, und trotzdem laufen die Lehrer weg. In England etwa ist es viel einfacher, in den Lehrerberuf hineinzugehen und dann auch wieder umzusteigen. Das ist doch heute normal, dass die Leute auch mal ihre Karriere ändern wollen. Wenn man aber ein starres System hat, das nur einen Ausbildungsweg für Lehrkräfte zulässt, muss man sich vielleicht überlegen, ob man die Lehrerbildung mal etwas flexibler gestaltet. 

    Ist es dann gar nicht so schlecht, wenn wegen des Lehrermangels zwangsläufig Quereinsteigende aus ganz anderen Branchen an Schulen eingestellt werden?

    Schleicher: Genau, man sollte offen sein für ein breites Spektrum an Berufsfeldern. Man muss sich anschauen: Wer sind diese Leute, wie können wir deren Fähigkeiten einsetzen? Sie kennen die reale Welt meistens besser als Lehrkräfte, die ihr ganzes Berufsleben an einer Schule verbracht haben. Geld, Raum, Zeit, Personal, das sollte in Deutschland kreativer kombiniert werden. Die Schulen sollten mehr selbst entscheiden. In den Niederlanden treffen die Schulen fast 90 Prozent aller Entscheidungen selbst, in Deutschland sind es 17 Prozent. Ich glaube, dass Schulen mehr Verantwortung übernehmen können. Sie können mehr projektorientierten Unterricht anbieten, Lehrende aus verschiedenen Fachbereichen zusammenbringen. 

    Sie haben Lehrkräfte einmal mit Mitarbeitern eines Fast-Food-Restaurants verglichen. Weshalb?

    Schleicher: Wer nur lernt, Hamburger zu braten, wird nie zum Meisterkoch. Ähnlich ist es mit Lehrkräften. Sie sollten einen Arbeitsplatz bekommen, der innovativ ist - und nicht dazu ausgebildet werden, vorgefertigte Lehrpläne wieder und wieder aufzuwärmen. Das braucht heute keiner mehr. ChatGPT kann das alles. Lehrkräfte müssen neue Unterrichtskonzepte entwickeln, auf die Schüler eingehen. 

    Müssen sie also – um in der Küche zu bleiben – ein Büfett anbieten, auf dem jeder Schüler etwas für sich findet?

    Schleicher: Darum geht es. Wir können heute nicht mehr allen Schülern dasselbe anbieten. Wir müssen uns überlegen: Was kann man für sie tun? Wo wollen sie hin? Wie können wir sie auf ihrem eigenen Weg begleiten? Das ist es, was den Lehrerberuf spannend macht. 

    Auch Waldorfschulen nehmen an der Pisa-Studie teil.
    Auch Waldorfschulen nehmen an der Pisa-Studie teil. Foto: Uwe Zucchi, dpa (Symbolbild)

    Haben Sie persönlich mal überlegt, Lehrer zu werden?

    Schleicher: Ich habe ja früher Naturwissenschaften studiert und in der Medizintechnik gearbeitet. Mein Interesse an Bildung ist im Zivildienst entstanden, wo ich an einer Schule für Lernbehinderte tätig war. Das hat mich absolut begeistert und ich habe mir gesagt: In diesem Themenfeld kannst du etwas bewirken.

    Sie selbst haben eine Waldorfschule besucht, weil Sie als nicht geeignet fürs Gymnasium eingestuft wurden. Was hat das mit Ihnen gemacht?

    Schleicher: So gut kann ich mich da nicht mehr erinnern. Aber was mir an der Waldorfschule von Anfang an gut gefallen hat: Ich hatte Lehrkräfte, die sich wirklich für mich interessiert haben. Viele Schulfächer, die nicht so theoretisch waren - Handwerken etwa -, haben mir Spaß gemacht. Wie man richtig lernt, habe ich durch die Musik erfahren. Ich habe dort im Jugendorchester gespielt und dann plötzlich gesehen: Mensch, wenn du dich da anstrengst, dann wird das auch was. Das hat sich später auf andere Fächer übertragen. Die Tatsache, dass die Waldorfschule jungen Menschen ermöglicht, ihre Stärken zu entwickeln, hat bei mir sehr viel bewirkt.

    Und deswegen haben Sie auch Ihre eigenen drei Kinder in Ihrer Wahlheimat Frankreich auf die Waldorfschule geschickt?

    Schleicher: Ja, in den ersten Jahren. Später sind sie dann auf die reguläre französische Schule gegangen. 

    Sie sind der Erfinder der Pisa-Studie, die Deutschland im Jahr 2001 erstmals den berühmten Schock verpasst hat. Was hat Pisa Ihrer Meinung nach im deutschen Schulsystem bewirkt?

    Schleicher: Pisa hat dem Schulsystem den Spiegel vorgehalten. Man hat vorher viele Dinge als selbstverständlich angenommen. Man dachte: Deutschland ist das Land der Dichter und Denker, dass wir schon gut dastehen. Dann hat sich gezeigt: Das gilt für einige Schüler, aber für viele nicht – Stichwort Chancengerechtigkeit. Nach der Studie hat man sehr viel datengestützter und faktenorientierter gearbeitet, war bereit, Dinge zu hinterfragen. Schon vor Pisa war klar, dass es in Deutschland an der frühkindlichen Betreuung fehlt. Aber niemand hat das ernst genommen, nach dem Motto: Sollen sich die Eltern doch selbst um ihre Kinder kümmern. Nach der Studie haben plötzlich alle gesehen: Mensch, überall auf der Welt gibt es ein gutes Angebot an frühkindlicher Bildung, und danach wurde dann auch gehandelt. Deutschland war ein sehr nach innen gerichtetes Bildungssystem. Heute richtet sich das Interesse schon danach: Was können wir lernen von der Welt?

    An Augsburger Grundschulen wurden eigene Klassen für ukrainische Kinder eingeführt.
    An Augsburger Grundschulen wurden eigene Klassen für ukrainische Kinder eingeführt. Foto: Silvio Wyszengrad

    Im Gegensatz dazu werden Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte oft als Problem im Klassenzimmer angesehen. Bringt es auch Vorteile, Kinder aus vielen verschiedenen Nationen in einer Klasse vereint zu haben?

    Schleicher: Ich finde schon. Man kann den Unterricht so viel packender machen, wenn man die kulturelle Vielfalt nutzt. Wie hat ein Kind in Pakistan die Welt erfahren? Diese Frage kann spannend sein für andere Kinder. Und wenn es heute darum geht, globale Kompetenz zu entwickeln, dann hilft es, die Welt aus verschiedenen Sichtweisen zu analysieren. Dazu muss man natürlich als Lehrkraft ein Gefühl dafür haben, was Kinder aus verschiedenen Kulturkreisen mitbringen und wie man das gut einsetzen kann. Aber dafür ist Sprache die absolute Grundlage. Wenn diese Grundlage fehlt, wird alles schwierig.

    Plädieren Sie dafür, in Deutschland eine Kindergartenpflicht einzuführen?

    Schleicher: Ich glaube schon, dass man darüber nachdenken sollte und sich fragen muss: Wie kann man sicherstellen, dass alle Kinder mit einer guten sprachlichen Basis in die Schule kommen? Das Gute ist ja, dass alle Kinder Sprachen spielend lernen. Sicherlich können sich einige Eltern gut darum kümmern. Aber wo das nicht der Fall ist, hat die Gesellschaft die Pflicht, zu helfen. Auch viele der Grundlagen, die im 21. Jahrhundert so wichtig sind – die Entwicklung von sozialer und emotionaler Kompetenz, Kreativität, Empathie, Mut – können wir später im Leben nur sehr schwer lernen. Es ist falsch zu sagen, Kinder könne ja jeder betreuen. Frühkindliche Bildung ist die schwierigste und sicher die wichtigste Aufgabe im Bildungssystem. Und ausgerechnet Erzieherinnen und Erzieher werden schlecht bezahlt. 

    Zum Schluss noch mal eine persönliche Frage: In welchem Land wären Sie heute am liebsten Schüler?

    Schleicher: Es kommt darauf an, worauf man Wert legt. In Singapur ist die Erwartungshaltung sehr hoch und ich finde es immer spannend, dass jedes Kind dort relativ gute Leistungen bringt. Wenn ich ein Schüler aus einem nicht so günstigen sozialen Umfeld wäre, wäre ich dort sehr gut aufgehoben. In Estland wäre ich auch gerne: diese innovative Schulumgebung, Lehrkräfte, die jeden Tag für mich da sind, die auch Dinge neu machen. Es gibt viele tolle Bildungssysteme – und wie gesagt: Es gibt auch viele tolle Schulen in Deutschland.

    Zur Person Andreas Schleicher, 59, leitet das Direktorat für Bildung bei der OECD in Paris. Als Schüler gewann er mit einer Spracherkennungssoftware bei "Jugend forscht", studierte später Physik, Mathematik und Statistik. Schleicher lebt mit seiner Ehefrau in

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