Herr Neumann, britische Geheimdienste, aber auch ihre US-Kollegen veröffentlichen über den Ukraine-Krieg sehr offen und zeitnah militärische Informationen. Ist das nicht ungewöhnlich?
Peter Neumann: Es ist nicht neu, dass sich Geheimdienste der Öffentlichkeit bedienen, wenn es aus ihrer Sicht der Sache dient. Im Irak-Krieg haben US- und britische Dienste Informationen zurückgehalten oder verdreht, um den Krieg zu rechtfertigen. Wirklich neu hingegen ist jetzt, dass der britische Geheimdienst täglich detailliert über die Lage in der Ukraine informiert – mit Karten vom Frontverlauf und Analysen. Auch US-Dienste machen das teilweise. Ich glaube, diese Intensität ist auch den beschleunigten Nachrichtenzyklen durch die sozialen Medien geschuldet.
Waren Sie davon überrascht?
Neumann: Überrascht ist vielleicht das falsche Wort. Aber ich hätte nicht gedacht, dass das so offensiv praktiziert wird. Im Ukraine-Krieg sind die Veröffentlichungen von Geheimdiensten zu einem zentralen Bestandteil der Kriegsführung geworden. Über Jahre verfolgte der Westen, wie Moskau hybride Kriegsführung betrieb – also ganz systematisch auch informationelle und psychologische Methoden einsetzte. Jetzt machen wir das auch viel stärker. Das sind natürlich keine unabhängigen Informationen – auch wenn ich sie in Bezug auf die Ukraine für zutreffend halte. Wenn die Erkenntnisse der Dienste aus Sicht der Regierungen jedoch nicht in das Narrativ von einer russischen Armee, die unerwartet große militärische Probleme hat, passen würden, dann würden sie wahrscheinlich nicht so offensiv veröffentlicht werden.
Gibt es nicht auch bei westlichen Diensten die Gefahr von gezielten Desinformationen?
Neumann: Würde es große Diskrepanzen bei den Erkenntnissen der westlichen Dienste geben oder gegenüber Medienrecherchen, würde das schnell ans Licht kommen. Gerade der britische Geheimdienst hat aus dem Desaster im Irak-Krieg gelernt. Ihnen ist klar, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Viele Mitarbeiter, die ich persönlich kenne, leiden bis heute darunter.
Es geht nicht nur um rein militärische Informationen, sondern auch weitergehende Fragen. So sprach der britische Militärgeheimdienst früh von einer „Zermürbungsstrategie“ Moskaus.
Neumann: Tatsächlich gehen die Informationen über die Lagebeschreibung hinaus. Der Frontverlauf beispielsweise ist mit Satellitenaufnahmen relativ klar dokumentierbar . Wenn die Dienste über Strategien reden, wird die Interpretierbarkeit größer. Die Geheimdienst-Analysen gründen auf jahrelangen Beobachtungen, dennoch können diese Analysen unterschiedlich bewertet werden oder auch schlicht falsch sein.
Es gibt die Geheimdienst-Regel, dass die Gefährdung von Informanten umso stärker wächst, je präziser die veröffentlichten Informationen sind. Hat da eine Abwägung zugunsten eines öffentlichen Interesses stattgefunden?
Neumann: Das könnte sein. Allerdings geht es in diesen Fällen in der Regel um Erkenntnisse, die elektronisch gewonnen werden – also durch Satellitenaufnahmen oder Abhöraktionen. Dabei wird niemand gefährdet. Anders wäre es, wenn ein Geheimdienst eine Kontaktperson im Umfeld von Präsident Putin platziert hätte. Diese Quelle wäre so wertvoll, dass man sich hüten würde, seine Enttarnung zu riskieren.
Ist das ein Signal an Moskau, in der Art von „wir wissen genau, was ihr in der Ukraine treibt“?
Neumann: Vor allem aus Sicht der USA ist das so. Das ist ein Mittel der Kriegsführung – so wie Panzer und Raketen. Die US-Dienste haben vor dem Krieg sogar ein Datum für den Überfall Russlands genannt. Im Krieg gab es dann eine Warnung vor dem Einsatz von Chemiewaffen durch die russischen Truppen, mit dem Zusatz, dass Moskau dann alles auf die Ukraine schieben werde. Das ist Abschreckung: Es signalisiert, dass Washington genau weiß, was der Kreml in Erwägung zieht. So soll auch der Propaganda Moskaus der Boden entzogen werden.
Wie wichtig waren Geheimdienstinformationen für die schnelle Verhängung von Sanktionen gegen Russland?
Neumann: Die Rolle der Geheimdienste war dafür schon vor Beginn des Krieges sehr wichtig. Später, im Falle der Massaker von Butscha und anderen Orten, dürften die Beweise – darunter Abhörprotokolle – dazu beigetragen haben, dass viele Zweifler, die dem Westen grundsätzlich misstrauen, die Verantwortung Russlands für plausibel halten.
Die Forderungen nach Abschaffung der Geheimdienste sind deutlich leiser geworden. Liegt das jetzt nur am Krieg oder an der Angst vor Terrorismus?
Neumann: Ich glaube schon. Ich habe immer gesagt, dass die Geheimdienste wichtig sind. Gerade die Linke malte lange ein Bild von Diensten, die entführen oder gar morden. Doch die westlichen Dienste verwenden mehr als 80 Prozent ihrer Kapazitäten für das Sammeln von Informationen. Es geht darum, den Analyseabteilungen die Erkenntnisse aus offenen und verdeckten Quellen zur Verfügung zu stellen, sodass Regierungen bessere Entscheidungen treffen können. Das funktioniert manchmal gut, manchmal weniger gut.
Hat die neue Sicht auf die Dienste etwas mit der von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende zu tun?
Neumann: Grünen-Politiker haben mir gesagt, dass sie gerade selber nicht glauben können, wie sie seit dem Ausbruch des Krieges sprechen. Nach drei Jahrzehnten erwacht Deutschland aus dem Traum, dass das Land nur von Freunden umgeben ist und alles immer friedlich bleibt. Sicherheit wird aber nicht nur durch Politik und Diplomatie gewährleistet, man braucht auch Bündnisse, intakte Streitkräfte und eben effektive Geheimdienste.
Wo steht der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND)? Ist er schlagkräftig genug?
Neumann: In Großbritannien und anderen Ländern wird anerkannt, was der BND gerade leistet. Der Dienst hat mit den Abhörprotokollen nicht nur die wichtigsten Beweise dafür vorgelegt, dass Butscha auf das Konto der Russen geht, sondern damit auch nachgewiesen, dass die Taten zu einer Terrorstrategie des Kremls gehören, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Der BND verfügt noch immer über viel Expertise zu Russland, die zum Teil noch aus Zeiten des Kalten Krieges stammt.
Was muss beim BND in Zukunft noch besser werden?
Neumann: Der BND muss ähnliche Fähigkeiten ausbilden und auch Befugnisse erhalten wie die Kollegen in den Geheimdiensten der USA, Großbritanniens oder Frankreichs. Das ist unerlässlich für die Zusammenarbeit. Keiner sollte vergessen: In den letzten Jahren wurden praktisch alle rechtzeitig entdeckten, in Deutschland geplanten Terroraktionen durch Erkenntnisse der amerikanischen NSA aufgedeckt, die an den BND weitergeleitet wurden. Und das waren nicht wenige.
Sie forschen schon seit vielen Jahren über internationalen Terrorismus. Ist das, was Russland jetzt in der Ukraine macht, – mit Söldnern aus Russland, Syrien und Tschetschenien – nicht auch eine Form von Terrorismus?
Neumann: Terror funktioniert durch symbolhafte Aktionen mit dem Ziel einzuschüchtern. Schon die deutsche Wehrmacht setzte zwischen 1941 und 1943 in der Ukraine auf diese Art von Terror gegen die Zivilbevölkerung. Am Beispiel Butscha: Moskau will die Ukrainer mit den Gräueltaten demoralisieren und deren Widerstand brechen. Ich sehe darin einen Akt der Verzweiflung des Kremls, angesichts des aus russischer Sicht unerwartet schlechten Kriegsverlaufs. Die Folge ist jedoch, dass der unbedingte Wille der Ukrainer, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, weiter verstärkt wurde und der Westen die Ukraine noch entschlossener unterstützt. Terrorismus scheitert in vielen Fällen daran, dass der Widerstandsgeist der Bevölkerung erheblich unterschätzt wird.
Zur Person: Peter Neumann, 47, ist Politikwissenschaftler und Terrorismusexperte. Neumann lehrt am King’s College in London und ist Autor viel beachteter Bücher über den IS und Al-Kaida.