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Interview: Patrick Sensburg: „Ohne Reserve geht es nicht“

Interview

Patrick Sensburg: „Ohne Reserve geht es nicht“

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    Reservistinnen und Reservisten bei einer Gelöbnisfeier. Ohne sie wäre die Bundeswehr kaum denkbar.
    Reservistinnen und Reservisten bei einer Gelöbnisfeier. Ohne sie wäre die Bundeswehr kaum denkbar. Foto: Matthias Bein, dpa

    Herr Sensburg, wir sehen seit mehr als zwei Monaten einen russischen Angriffskrieg in Europa, der mit großer Brutalität geführt wird und zehntausende Opfer fordert. Hätten Sie sich so etwas vorstellen können?

    Patrick Sensburg: In diesem Umfang nicht, weil ich es auch für keinen rational nachvollziehbaren Krieg halte. Ich habe allerdings schon vor langer Zeit davor gewarnt, zu glauben, dass es in Europa keine Kriege mehr geben kann. Davor gewappnet zu sein, dafür gibt es die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Viele Generäle und auch Politiker haben gesagt, den großen vaterländischen Krieg – also zwei Nationen gegeneinander – gibt es nicht mehr. Aber genau so einen Krieg haben wir jetzt und er kann sich auch auf uns ausdehnen.

    Der Präsident des deutschen Reservistenverbandes, Patrick Sensburg (CDU), fordert eine bessere Ausrüstung für die Bundeswehr, aber auch für Reservistinnen und Reservisten.
    Der Präsident des deutschen Reservistenverbandes, Patrick Sensburg (CDU), fordert eine bessere Ausrüstung für die Bundeswehr, aber auch für Reservistinnen und Reservisten. Foto: Vincent Mosch

    Militärexperten und Politiker schließen eine Ausweitung des Ukraine-Krieges auf Nato-Gebiet nicht mehr völlig aus. Sogar die Angst vor einem Atomkrieg wächst. Reservistinnen und Reservisten Ihres Verbandes könnten dann in Kampfhandlungen verwickelt werden. Wie groß ist die Sorge bei Ihren Mitgliedern?

    Sensburg: Die Sorge ist nicht größer oder geringer als in der normalen Bevölkerung auch. Es gibt in Deutschland rund zehn Millionen Männer und Frauen, die den Status Reservist haben. Das ist ein Spiegel der Gesellschaft. Die Reserve hat sich zunächst darauf eingestellt zu helfen, wenn es um eine Flüchtlingswelle aus der Ukraine oder die Sicherung kritischer Infrastruktur der Bundeswehr geht. Derzeit stellt sich nicht die Frage, ob wir in einen Bündnis- oder Verteidigungsfall geraten. Aber die Aggression geht eindeutig von Russland aus, Moskau zündelt auch in anderen Teilen Europas – zum Beispiel an der Grenze zu Moldawien, in Bosnien-Herzegowina oder Serbien.

    Inwiefern haben sich die Aufgaben der Reservisten geändert, seit die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt wurde?

    Sensburg: Zum einen sind Reservisten sehr stark im Bereich der Truppe engagiert, also da, wo aktive Soldatinnen und Soldaten im Urlaub, auf Lehrgängen oder im Auslandseinsatz sind. Da ersetzen sie den einzelnen Soldaten. Reservisten nehmen auch an Auslandseinsätzen teil – aber natürlich freiwillig. Das war in Afghanistan so und ist jetzt in Mali, im Kosovo oder bei UN-Missionen der Fall. Sie sind seit kurzem auch der Kern der neu geschaffenen Heimatschutzregimenter. Ich habe ja einen Satz geprägt, den ich so oft wiederhole, dass ihn manche nicht mehr hören können: Ohne Reserve geht es nicht. Ich denke da an Fachleute für die Cyberabwehr und allgemein an den Personalmangel in der Truppe und an ihre Durchhaltefähigkeit.

    Reservisten und Soldaten studieren bei einem Marsch auf den Brocken gemeinsam Karten. Patrick Sensburg fordert, dass eine Milliarde Euro aus dem Paket für die Bundeswehr der Reserve zu Gute kommt.
    Reservisten und Soldaten studieren bei einem Marsch auf den Brocken gemeinsam Karten. Patrick Sensburg fordert, dass eine Milliarde Euro aus dem Paket für die Bundeswehr der Reserve zu Gute kommt. Foto: Matthias Bein, dpa

    Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat 2019 eine neue „Strategie der Reserve“ vorgestellt. Kernpunkt: bessere Ausrüstung für Ausbildung und Übungen. Was ist daraus geworden?

    Sensburg: Daran fehlt es deutlich. So wie bei der aktiven Truppe. Es gibt einen Mangel bei der persönlichen Ausrüstung, an Funkgeräten, an Fahrzeugen aller Art und an Waffen samt Munition. Bei den Reservisten gibt es die Sorge, dass nicht für jeden eine Waffe zur Verfügung steht. Dann müsste man sich bei jeder Übung eine Waffe aus einem Waffenpool besorgen. So kann man aber kein Land verteidigen.

    Sie haben eine Milliarde Euro aus dem Sondervermögen für die Bundeswehr gefordert, um die Ausrüstung für die Reservisten zu verbessern.

    Sensburg: Das muss zusätzlich zu den bisherigen Mitteln für die Reserve schon drin sein. Wir stellen ein Drittel der Truppe – 200.000 Soldaten, 100.000 Reservisten. Ich habe darüber bereits mit der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am vergangenen Wochenende gesprochen. Eine weitere Forderung steckt nicht in dieser Milliarde drin und muss zusätzlich kontinuierlich erfüllt werden. Wir brauchen mehr Stellen für Reservisten-Übungen. Zurzeit haben wir 4500 Stellen, also könnten 4500 Reservisten pro Jahr jeden Tag üben. Das ist viel zu wenig. Wir fordern 10.000 Stellen. Ein Reservist soll im Schnitt drei Wochen pro Jahr üben. Nur bei 10.000 Stellen für die Reserve könnten alle Reservisten auch ihre Fähigkeiten trainieren und damit beibehalten und weiterentwickeln.

    Sie kennen die Truppe, haben Wehrdienst geleistet, sind Oberst der Reserve. Was hat Sie am meisten gestört bei der Bundeswehr?

    Sensburg: Anfang der 90er Jahre gab es ein anderes Gesellschaftsbild. Zu der Zeit war der Anteil von Drill höher. Drill muss auch sein. Aber heute sind Ausbildung und Bildung hochwertiger – auch international gesehen. Das hätte ich mir schon damals gewünscht. Und natürlich moderne Waffensysteme.

    Nach dem Schock über den Krieg fordern nun viele, dass die Bundeswehr schlagkräftiger werden muss. Andere kritisieren ein Klima der Militarisierung. Wie wird die Bundeswehr in der Gesellschaft gesehen?

    Sensburg: Tatsächlich ist die Akzeptanz der Truppe in der Bevölkerung heute hoch. Wichtig dafür sind die Hilfseinsätze im Innern – bei Hochwasser, Stürmen oder in der Corona-Krise. Aber auch, dass die Soldatinnen und Soldaten in Uniform gratis Bahn fahren dürfen. Das hat die Bundeswehr sichtbarer gemacht.

    Welche Auswirkungen hat der Ukraine-Krieg? Wie sollte die Truppe in Zukunft ausgerichtet sein?

    Sensburg: Der Krieg in Europa erinnert die Menschen daran, dass es noch immer gefährliche Aggressoren gibt. Es ist wie bei der Feuerwehr – wenn es in der Nähe brennt, ist man froh, dass sie da ist. Es wird in Zukunft nicht um möglichst viele Auslandseinsätze gehen, sondern darum, die staatliche Integrität unseres Landes zu schützen. Die Bundeswehr muss hierzu in die Lage versetzt werden, erst dann kann man an weitere Aufgaben denken.

    Sie haben gefordert, dass die Personalstärke deutlich wachsen muss. Ist das ohne Wehrpflicht möglich?

    Sensburg: Ich war der Einzige in der Union, der gegen die Abschaffung der Wehrpflicht gestimmt hat. Damals war die Stimmung so, dass man glaubte, man sei nur noch von Freunden umgeben und dass es nur noch Frieden geben werde. Das habe ich damals schon als Fehleinschätzung bewertet.

    Was hat der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg falsch gemacht?

    Der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg auf einem Bild aus dem Jahr 2012. Patrick Sensburg kritisiert den Ausstieg aus der Wehrpflicht, die der CSU-Politiker umsetzte.
    Der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg auf einem Bild aus dem Jahr 2012. Patrick Sensburg kritisiert den Ausstieg aus der Wehrpflicht, die der CSU-Politiker umsetzte. Foto: Marius Becker, dpa (Archivbild)

    Sensburg: Die Aussetzung der Wehrpflicht war ein großer Fehler und hat weder zur Haushaltskonsolidierung beigetragen, noch hat es die Bundeswehr professionalisiert. Es fehlt immer noch an Personal, Material und Haushaltsmitteln. So eloquent Guttenberg im Auftritt war, so wenig hat er die Tiefe der Thematik Verteidigungs- und Sicherheitspolitik durchdrungen.

    Halten Sie die Wiedereinführung der Wehrpflicht für realistisch?

    Sensburg: Jetzt müssen wir erst einmal darüber reden, wie die 100 Milliarden sinnvoll ausgegeben werden sollen. Davon hört man derzeit nicht viel von der Bundesregierung. Es geht natürlich um eine moderne Ausrüstung. Aber es geht nicht nur um den Kampfjet F35, den schweren Transporthubschrauber, Drohnen oder Korvetten – Waffen alleine reichen nicht. Wir brauchen mehr gut ausgebildete Soldaten und Reservisten, die in der Lage sind zu kämpfen. Dass die Truppenstärke eine wesentliche Rolle spielt, sehen wir gerade in der Ukraine.

    Wie viele sollten es sein?

    Sensburg: 350.000 aktive Soldaten wäre eine gerade ausreichende Zahl. Wenn wir das ohne Wehrpflicht wuppen – umso besser. Wenn nicht, brauchen wir sie. Dann muss es eine gesellschaftliche Debatte über die Notwendigkeit der Wehrpflicht geben, denn wenn die Deutschen sie nicht wollen, wenn sie sich nicht verteidigen wollen, dann geht es nicht.

    Zur Person: Patrick Sensburg, 50, ist Präsident des deutschen Reservistenverbandes. Der Professor für öffentliche Verwaltung und CDU-Politiker war 2009 bis 2021 Mitglied des Bundestags.

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