Pater Zollner, verlieren Sie manchmal die Geduld mit Ihrer katholischen Kirche?
Pater Hans Zollner: Ich verliere die Geduld, wenn ich sehe, dass im Grunde einfache Dinge nicht eingesehen werden und Veränderung so quälend lange braucht. Das beginnt schon damit, dass sich Verantwortungsträger, und nicht nur diese, mit dem Thema Missbrauch nicht angemessen auseinandersetzen. Viele sind regelrecht gelähmt und wissen nicht, wie sie beispielsweise mit Betroffenen umgehen sollen.
Viele Betroffene werfen vor allem den Bischöfen vor, auf Zeit zu spielen, nur auf öffentlichen Druck hin zu reagieren – und immer noch zu wenig für sie zu tun.
Zollner: Kirchliche Verantwortungsträger mögen teilweise bewusst so agieren. Aber ich glaube, zum Teil haben wir es auch mit einer strukturellen und subjektiven Überforderung zu tun.
13 Jahre nach Beginn dessen, was man in Deutschland unter "Missbrauchsskandal der Kirche" versteht? Nach diversen Gutachten und Präventionsbemühungen?
Zollner: Meine Beobachtung soll keineswegs eine Entschuldigung sein. Im Gegenteil muss man fragen: Wie kann es zu einer solchen Überforderung kommen? Die Kirchenleitung jedenfalls hätte viel früher auf Transparenz und Rechenschaftspflicht und die persönliche Befähigung Wert legen müssen. Doch so etwas ist in der Kultur der Kirche bis heute nicht verankert.
Wenn Sie im Jahr 2023 noch von einer "Überforderung" der Verantwortlichen sprechen, klingt das alarmierend.
Zollner: Die Überforderung verstärkt sich, wenn man ständig von neuen Gutachten und Studien mit denselben bestürzenden Erkenntnissen hört, die den Eindruck zementieren, dass die Kirche nichts dazu lernt! Aus psychologischer Sicht ist das so zu erklären. Wenn Sie sich mit einer Institution identifizieren, und es kommt ein Skandal nach dem anderen, dann entsteht die Empfindung: Es hört nicht auf! Es kommt Verantwortungsträgern wie Kirchgängern vor wie eine 13-jährige Sturmflut. Bischöfe, Provinziale, wir als Kirche sind ständig einem Nachrichten-Tsunami ausgesetzt, und das hinterlässt Spuren – an denen, die das Missbrauchsthema fernhalten wollen wie an denen, die sich für Aufklärung und Aufarbeitung engagieren. Dabei gibt es Instrumente, diesem Empfinden zu begegnen. Es fehlt bloß der Mut, sie zu ergreifen.
Welche Instrumente meinen Sie?
Zollner: Sich unter den Verantwortungsträgern zu verständigen, offen und ernsthaft alle Karten auf den Tisch zu legen, Fehlverhalten ehrlich zu benennen und persönliche und institutionelle Konsequenzen zu ziehen.
Unter Kirchenleuten ist die Meinung verbreitet: "Wir tun doch schon so viel!"
Zollner: … und sie sagen: "Wir sind die einzigen, die Studien in Auftrag geben und bezahlen! Wir stellen uns dem Medien-Sturm!" Das mag ja sein, aber es ist doch nur ein Element von Aufarbeitung. Neben der Aufklärung der Faktenlage zählt die Einbettung in den historischen oder kulturellen Kontext dazu, der Blick auf die sogenannte Pfarrfamilie: Welcher Umgang miteinander, welche klerikale Kultur haben Missbrauchsfälle durch klerikale Täter befördert? Wie sehr wurden Täter in ihren Gemeinden und Diözesen geschützt und die Betroffenen links liegen gelassen oder sogar beschuldigt? Was Kirchenleute auch nicht verstehen, ist: Betroffene verlangen unterschiedliche Arten von Aufarbeitung.
Welche?
Zollner: Das ist von Person zu Person verschieden. Einige wollen Geld, andere nicht. Einige wollen an die Öffentlichkeit, andere nicht. Einige wollen mit einem Bischof reden, andere nicht. Das sieht man auch an Betroffeneninitiativen, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Hilfreich wäre es, wenn die Kirche ganz deutlich signalisieren würde: "Wir stellen uns der Vergangenheit in Aufklärung und Aufarbeitung." Und: "Wir versuchen, auf die jeweiligen Betroffeneninitiativen und auf die einzelnen Betroffenen einzugehen." Das passiert aber nicht flächendeckend, und die Stimmung bleibt deshalb: "Die Kirche lernt nichts."
In Deutschland schreitet sie in kleinen Schritten voran.
Zollner: In zu kleinen und in zu unterschiedlichen. In Österreich 2010, in Frankreich 2018, in Portugal erst kürzlich haben sich die Bischofskonferenzen je gemeinsam entschieden, unabhängige Kommissionen für den gesamten Aufarbeitungsprozess einzusetzen. Es gab damit von Beginn an gemeinsame Standards und gemeinsame Meldewege – in Deutschland hatte man dazu leider nicht die notwendige Entschiedenheit.
Sie arbeiten in Italien.
Zollner: Hier gibt es kaum Aufmerksamkeit für das Missbrauchsthema, ähnlich wie in Deutschland bis 2010.
Dabei hat doch Papst Franziskus, der Bischof von Rom, Aufarbeitung zur Chefsache erklärt.
Zollner: In der italienischen Gesellschaft haben Sport, Film, Mode und Tourismus eine sehr große wirtschaftliche Bedeutung. Und ich bin überzeugt davon: In allen diesen Bereichen sind verschiedene Formen von Missbrauch an der Tagesordnung. Doch man will nicht, dass man mit dem Scheinwerfer in sie hineinleuchtet.
Eine nennenswerte Studie hat auch die Kirche in Italien nicht vorzuweisen. Müsste der Papst nicht darauf dringen?
Zollner: Die Vorstellung, dass der Papst die italienischen Bischöfe top-down zwingen könnte, etwas zu tun, was sie offensichtlich nicht tun wollen, ist naiv. So funktioniert es nicht, jedenfalls nicht, wenn es wirklich einen Sinn haben soll.
Derzeit läuft in Traunstein ein zivilrechtliches Verfahren, bei dem der kürzlich gestorbene frühere Papst Benedikt XVI. – beziehungsweise sein Rechtsnachfolger – zu den Beklagten zählt. Ihm wird Fehlverhalten vorgeworfen zu seiner Zeit als Münchner Erzbischof. Wie wird die Nachwelt einmal seinen Umgang mit Missbrauchsfällen bewerten?
Zollner: Jetzt über die Einschätzung der Nachwelt zu sprechen, ist reine Spekulation. Festzuhalten ist: Seine Versäumnisse sind unter anderem im Münchner Missbrauchsgutachten klar benannt. Zugleich betonen selbst ihm kritisch gesinnte Journalisten in Nachrufen, dass er sich als Papst mit Missbrauchsbetroffenen traf und viele klerikale Täter entließ. Er erkannte auch, dass es bis zum Jahr 2000/2001 in Vatikan-Ministerien vor allem darum ging, Täter zu schützen. Das war ihm ein Dorn im Auge, dagegen ging er vor. Gleichwohl: Er war sicher nicht fehlerfrei. Das Problem ist dabei nicht, dass man Fehler macht – sondern, dass man sie nicht eingesteht.
Heißt?
Zollner: Es wäre meines Erachtens anlässlich des Münchner Missbrauchsgutachtens besser gewesen, nicht Berater auf die Vorwürfe erwidern zu lassen, sondern gleich selbst zu antworten: "Ich habe Fehler begangen und stelle mich meiner Verantwortung." Kardinal Wetter, der wesentlich länger Münchner Erzbischof war und mehr Fälle zu verantworten hat, tat dies.
Sie hätten sich Gleiches von Benedikt gewünscht?
Zollner: In seiner späteren persönlichen Erklärung deutete er ja an, Fehler gemacht zu haben. Für Missbrauchsbetroffene wäre es sicherlich wichtig gewesen, dass er sich gleich klarer geäußert hätte.
Sein langjähriger Privatsekretär Georg Gänswein schreibt in dem Buch "Nichts als die Wahrheit", das am Mittwoch auf Deutsch erscheint: Er sei von Benedikt beauftragt worden, dessen private Notizen zu vernichten. Ist das nicht problematisch mit Blick auf die weitere Aufarbeitung?
Zollner: Ich kann nachvollziehen, warum das von einigen kritisch gesehen wird. Meines Erachtens wäre es zunächst wichtig zu wissen, um welche Art von Dokumenten es sich tatsächlich handelt: Tagebucheinträge, persönliche Briefe, dienstliche Aufzeichnungen?
Sie haben sich immer wieder für eine staatlich eingesetzte "Wahrheitskommission" eingesetzt.
Zollner: Es gibt sogar Bischöfe, die das fordern. Ich will aber zu bedenken geben: Auch eine Wahrheitskommission allein wird nicht zu Gerechtigkeit und Heilung führen. Daher müsste man, auch von staatlicher Seite, noch eine andere Facette von Aufarbeitung stärken: eine, bei der es um die Begleitung von Betroffenen geht, besonders mit Blick auf deren Gesundheit. Ich zweifele allerdings sehr daran, dass die Bundesregierung und die Länderregierungen bereit sind, sich dem so zu stellen, dass es auch nur annähernd eine ausreichende Ausstattung dafür geben dürfte. So etwas würde viel Geld kosten. Ich war erst in Australien. Dort hat eine Royal Commission mit 500 Millionen Dollar Budget über fünf Jahre lang alle Bereiche der Gesellschaft auf Missbrauch hin durchleuchtet. Das Ergebnis: Es gibt jetzt zum Beispiel im Bundesstaat Victoria eine Kinderschutzstelle. Das ist ein Bundesstaat, in dem 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche leben, organisiert in 62.000 Institutionen, inklusive Schulen. Die zuständige Kinderschutzbeauftragte hat 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – was ist das schon für so viele Kinder?
In Deutschland ringen Bischöfe und engagierte Laien auf dem "Synodalen Weg" um Reformen – um konkrete Maßnahmen gegen Missbrauch in der katholischen Kirche. Am Donnerstag beginnt die fünfte und letzte Synodalversammlung. Was kann noch erreicht werden?
Zollner: Ein Ausgangspunkt für den Synodalen Weg war die Frage, wofür die Kirche steht und wie sie organisiert werden muss, um Missbrauch begegnen zu können. Klar ist: Die Kirche, die ich vor zehn Jahren noch für normal hielt, wird in ein paar Jahren nicht mehr existieren. Meine Sorge ist gerade, dass wir nicht die Veränderungen angehen, die möglich wären.
Was wäre denn sofort möglich?
Zollner: In jeder Diözese, in jeder Ordensgemeinschaft kann ein Bischof, kann ein Provinzial Mittel und Personen so einsetzen, dass Betroffene wirklich angehört, begleitet und unterstützt werden. Dazu braucht man Rom nicht.
Zur Person: Hans Zollner wurde 1966 in Regensburg geboren. Der Jesuitenpater ist Theologe, Psychologieprofessor und Psychotherapeut. Er ist Direktor des Instituts für Anthropologie an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und gilt als einer der führenden kirchlichen Fachleute auf dem Gebiet der Prävention sexuellen Missbrauchs. Zollner berät Papst Franziskus.