Frau Triebel, wo in der Ukraine leben Sie?
Brigitta Triebel: Unser Büro befindet sich in Charkiw, das ist nach Kiew mit 1,5 Millionen Menschen die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Die Stadt liegt im Nordosten des Landes, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Vom Konflikt im Donbass, von der sogenannten Kontaktlinie, sind wir rund 300 Kilometer weg.
Und wie lebt es sich im Konfliktgebiet?
Triebel: Von der kriegerischen Auseinandersetzung bekommen wir direkt nur wenig mit. Man merkt es aber deutlich. Es gibt Militärkrankenhäuser in Charkiw sowie Stützpunkte der ukrainischen Streitkräfte. Wenn schweres Kriegsgerät in den Donbass verlegt wird, bekommen wir das natürlich mit. Die Stadt hat außerdem tausende von Binnenflüchtlingen aufgenommen. Offiziellen Angaben zufolge sind es 120.000 Menschen, die integriert werden mussten, die ihre eigenen Geschichten mitbringen. Die Lage im Donbass selbst ist natürlich wesentlich dramatischer. Da bestimmt der kriegerische Konflikt zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten Separatisten das Alltagsleben. Vor allem in den Ortschaften in der sogenannten Grauzone direkt an der Konfliktlinie leben die Menschen unter den sich fortsetzenden Kampfhandlungen, der Strom fällt häufig aus und die Wasserversorgung ist schwierig. Die Menschen dort sind auf Hilfslieferungen angewiesen.
Fühlen Sie sich sicher?
Triebel: Ja. Ich lebe hier mit meiner Familie. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Debatte in Deutschland intensiver geführt wird als hier im Land. Die Ukraine und insbesondere der östliche Teil des Landes befinden sich ja schon seit 2014 in einer sehr, sehr schwierigen Lage und die Menschen sind an Krisen gewöhnt, auch an Phasen der Eskalation in der Auseinandersetzung mit Russland. 2014 kam dieser Konflikt für viele Menschen hier sehr überraschend, viele konnten sich eine solche gewaltsame Konfrontation beider Länder gar nicht vorstellen, viele enge private und berufliche Verbindungen in das nahe Russland wurden plötzlich gekappt. Deswegen habe ich das Gefühl, dass die Menschen nach acht Jahren Konflikt zwar mit allem rechnen, aber solange noch nicht Schlimmeres eintritt, ruhig und abwartend auf die Nachrichten reagieren.
Warum kommt es dann ausgerechnet jetzt zu diesem Säbelrasseln zwischen Russland und den USA?
Triebel: Zunächst einmal würde ich sagen, dass die erneute Eskalation im Ukraine-Russland-Konflikt gar nicht so plötzlich kam. Das gesamte Jahr 2021 war bereits sehr unruhig im Konflikt. So nahmen beispielsweise im Februar die Kampfhandlungen, also die Waffenstillstandsverletzungen, an der Konfliktlinie im Donbass intensiv zu. Im März, April gab es einen ersten russischen Truppenaufmarsch. Über den Sommer hinweg hat sich die Lage nie wirklich beruhigt. Offenkundig gab und gibt es in der politischen Führung Russlands die Überzeugung, dass es im Moment ein passender Zeitpunkt wäre, die eigenen politischen Ziele in diesem Konflikt erneut unter Androhung von Gewalt durchzusetzen. Dabei geht es natürlich auch sehr stark um die Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA. Die Ukraine ist da leider nur der momentane Schauplatz.
Wer hat angefangen: US-Präsident Joe Biden oder der russische Präsident Wladimir Putin?
Triebel: Aus ukrainischer Sicht und auch aus Sicht der Nato hat sich 2021 nichts Grundlegendes verändert. Die Gründe für diese gegenwärtige Eskalation liegen bei der politischen Führung Russlands. Es geht hier nicht nur darum, dass Russland etwas im Konflikt mit der Ukraine erreichen will. Also beispielsweise eine Anerkennung der illegalen Krim-Annexion. Russland versteht sich als Großmacht und versucht gerade mit der anderen Großmacht USA die Einflusssphären abzustecken.
Hat Putin Erfolg?
Triebel: Moskau hat auf seine Weise schon viel erreicht. Ein Nato-Beitritt wird für die Ukraine in absehbarer Zeit sehr schwierig sein. Es gibt einen laufenden Konflikt im Land, das ist für das Bündnis ein Ausschlusskriterium. Putin hat alle Mittel in der Hand, um den Konflikt am Laufen zu halten.
Am Montag beginnen zum Ukraine-Russland-Konflikt Beratungen zunächst zwischen den USA und Russland, später auch bei der Nato. Was kann dabei herauskommen?
Triebel: Die Forderungen Russlands, etwa einen Nato-Beitritt der Ukraine vertraglich auszuschließen, sind nicht zu erfüllen und sie dürfen auch nicht erfüllt werden. Das russische Vorgehen, internationale Regeln – die übrigens Russland selbst anerkannt hat – durch Androhung von Gewalt zu verändern, ist für die USA und Europa nicht zu akzeptieren. Wichtig ist aus ukrainischer Sicht, dass diese Gespräche auf verschiedenen Ebenen überhaupt stattfinden und das nichts ohne das Land entschieden wird. Das ist alles besser als eine weitere militärische Eskalation.
Kommt es zum Krieg in der Region?
Triebel: Ich gehe weiterhin nicht von einem großflächigen Angriff Russlands aus. Dennoch muss man die Lage sehr ernst nehmen und mit weiteren Phasen der Eskalation rechnen.
Es gab die Hoffnung, dass Deutschland in dem Konflikt eine Vermittlerrolle einnehmen kann. Gilt das weiterhin?
Triebel: Die Rolle von Deutschland und von Kanzlerin Angela Merkel war 2014 ganz entscheidend, um die Kämpfe im Donbass auf die Kontaktlinie zu begrenzen. Sie hatte einen erheblichen Einfluss auf die europäische Sanktionspolitik gegenüber Russland, die Ausarbeitung der Minsker Abkommen und den darin vereinbarten Waffenstillstand. Leider wurden die Vereinbarungen bis jetzt kaum umgesetzt, noch nicht einmal der Waffenstillstand hält.
Was heißt das für die Zukunft?
Triebel: Unter der neuen Regierung ist Deutschland weiterhin ein ganz zentraler Partner für die Ukraine. Aus Berlin kommen mit Abstand die höchsten Hilfsleistungen. Den damit verbundenen Einfluss sollte die deutsche Seite auch in Zukunft nutzen. Ob dieses Engagement zu einer Vermittlerrolle im Konflikt führen kann, das wird man in den nächsten Monaten sehen. Es wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit die deutsche Regierung mit der russischen Seite sprechen kann.
Zur Person: Brigitta Triebel, 37, studierte Kultur- und Politikwissenschaft und Ost- und Südosteuropäische Geschichte in Leipzig und Bratislava. Sie promovierte zur Geschichte des Kalten Krieges und leitet seit 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine.