Sie haben lange in Israel gelebt, haben dort viele Freunde und Bekannte. Wie nehmen Sie das Geschehen wahr?
Michael Wolffsohn: Wie jeder menschlich denkende und fühlende Mensch. Jenseits persönlicher Gefühle: Ich bin entsetzt, dass der Mensch so sehr des Menschen Wolf sein kann wie jetzt die palästinensischen Terroristen. Wehe, wenn sie losgelassen. Übrigens, nicht das erste Mal aufseiten der Palästinenser. Eben diese palästinensischen Verhaltensweisen seit 1947 haben in Israel zur Dominanz der Allianz von Chauvinisten und religiösen Fundamentalisten geführt. Beidseits höchst unerfreulich. Man muss aber, wie überall und stets, prüfen, was Ursache und was Wirkung ist, beziehungsweise was Aktion und was Reaktion.
Hätten Sie für möglich gehalten, dass es der Hamas gelingen könnte, so massiv auf israelisches Territorium vorzustoßen?
Wolffsohn: Klares Nein. Dass es dazu kam, hat damit zu tun, dass die innerisraelischen Spannungen auch aufs Militär überschwappten. Es ist seit Anfang dieses Jahres vor allem mit sich selbst beschäftigt, weil viele Soldaten ihren Dienst verweigert haben oder verweigern wollen. Ben Gwir, der Minister für Innere Sicherheit, kraftmeiert gegenüber der Polizei und schwächt sie. Und zwar so sehr, wie es kaum jemand ahnte. Auch ich nicht.
Wie erklären Sie sich, dass der Angriff den israelischen Geheimdienst und die Streitkräfte komplett überrascht hat?
Wolffsohn: Wer mit sich selbst beschäftigt ist, achtet weniger auf die Außenwelt. Leider ganz einfach. Hier selbst verschuldet und verursacht durch die auch nach innen polarisierende Politik der Regierung Netanjahu. Genauer: Israels Militär ist – anders als die NVA der Ex-DDR – tatsächlich eine „Nationale Volksarmee“. Israelis waren bis zur jetzigen Netanjahu-Koalition meistens stolz, in der Armee zu sein und jederzeit bereit, zu kämpfen. Nicht weil sie es wollten, sondern weil sie überzeugt waren, dass ihnen die einst geschlossene, nun aufgeschlossene arabische Mehrheit, besonders der palästinensische Dauerterror diese Notwendigkeit aufzwingt. Diese Überzeugung ist unter der jetzigen Netanjahu-Koalition geschwunden. Daher die Weigerung vieler, ihrem Wehrdienst nachzukommen. Daraus folgt die Forderung, die Soldaten durch Argumente und nicht durch Zwang zurückzugewinnen.
Die Hamas hat ganz offen eingeräumt, dass der Iran sie unterstützt. Welche Rolle spielt Teheran in diesem Krieg?
Wolffsohn: Die Entscheidende. Ohne iranisches Geld und Know-how wäre die Hamas, wäre auch der Islamische Dschihad nie so weit gekommen. Die iranische Mullah-Diktatur ist einen Terrorstaat, aber in einer jahrtausendealten Hochkultur. Selbst die Mullahs haben diese nicht kaputt gekriegt - und sie können auch Krieg. Die regionale Strategie des Iran ist geradezu genial, teuflisch genial. Sie umklammert die Feinde aus dem Gazastreifen über den Libanon, die Hisbollah, Syrien unter Diktator Assad, den Irak mithilfe der dortigen Schiiten sowie Jemen, ebenfalls mithilfe der dortigen Schiiten. Nicht zu vergessen ist die aktive Förderung von Sabotage- und Protestaktionen mithilfe der Schiiten im Osten Saudi-Arabiens, wo die Erdöl- und Erdgas-Reichtümer des Landes lagern. Gleiches unternimmt der Iran in Bahrain, wo die schiitische Bevölkerungsmehrheit von der sunnitischen Minderheit beherrscht und unterdrückt wird.
Ist der Westen in der Lage, diese Strategie auszuhebeln?
Wolffsohn: Dieser Meister-Strategie hat die freie Welt leider nichts entgegenzusetzen. Stattdessen geht man dem Konflikt mit dem Iran aus dem Weg. Noch Ende der 1990er Jahre hätte man mühelos das Atompotenzial des Iran zerstören können. Heute wäre dieses Unterfangen hochriskant. Israel hätte es bis vor einem Jahr gekonnt. Jetzt aufgrund der selbst verschuldeten innenpolitischen Schwächung, die erkennbar aufs Militär übergriff, einstweilen nicht mehr.
Unterschätzt der Westen die Gefahr durch den Iran?
Wolffsohn: Das wohl nicht, aber er lässt seinen Kenntnissen über die Gefährlichkeit des Irans keine entsprechend notwendigen Aktionen folgen. Nichts Neues. Das historische Muster: Aus Gutmütigkeit und Bequemlichkeit reagiert der Westen traditionell mit Appeasement. Bis es nicht mehr geht, wenn man nicht untergehen will.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am Sonntag Rache für den Überfall angekündigt. Welche Reaktion der Regierung halten Sie für angemessen und klug?
Wolffsohn: Welches politische Ziel auch immer er und seine möglicherweise bald um die großen Oppositionsparteien erweiterte Regierung erreichen wollen - ohne einen vollständigen militärischen Sieg über Hamas und Dschihad wird es nicht zu erreichen sein. Wahrscheinlich wird aber die internationale Gemeinschaft die Verwirklichung verhindern. Das alte, mörderische Spiel wird weitergehen - und Deutschland spielt das Spiel mit. Tränen statt Taten.
Im Westjordanland ist es bisher relativ ruhig. Fürchten Sie, dass auch die Fatah zu den Waffen ruft?
Wolffsohn: Das ist möglich, auch wahrscheinlich, aber selbstmörderisch. Jeder bisherige „Sieg“ der Palästinenser war eine faktische Niederlage und verschlechterte das Los der Palästinenser. Sobald und wenn sie auf Gewalt verzichten, wird sich ihr Leben verbessern. Mit oder ohne israelischer Besatzung.
Wie könnte es jetzt weitergehen? Droht sich der Schlagabtausch in der Grenzregion zwischen Gaza und Israel zu einem Flächenbrand in Nahost auszuweiten?
Wolffsohn: Dieses Schreckensszenario ist nicht auszuschließen. Kriegsakteure wären dann der Iran sowie seine Marionette, die libanesisch-schiitische Hisbollah-Miliz. Syriens Assad würde vom Iran ebenfalls zwangsverpflichtet. Es gäbe ein entsetzliches Blutbad. Allseits. Und trotzdem, gottlob, würde Israel überleben. Es wäre daher für jene kriegslüsternen, vom Iran geführten Akteure und die Mullahs kollektiver Selbstmord.
Professor Michael Wolffsohn, 76, ist ein deutsch-jüdischer Historiker, der viele Jahre an der Universität der Bundeswehr in München gelehrt hat. Anfang des Jahres erschienen ist eine überarbeitete Neuauflage seines Werkes „Ewige Schuld“ von 1988 im Verlag Langen Müller, 365 Seiten, 24 Euro.