Herr Masala, Deutschland geht nun genau jenen Schritt, den viele lange gefordert haben und den der Kanzler stets ausgeschlossen hat: Es liefert Schützenpanzer vom Typ Marder an die Ukraine. Beginnt damit eine neue Phase in der deutschen Außenpolitik?
CARLO MASALA: Nein, eine neue Phase in der deutschen Außenpolitik beginnt damit nicht. Aber es ist ein Tabu durchbrochen worden, selbst wenn es nur Schützenpanzer sind. Letzten Endes war das aber ein logischer Schritt: Die Nato-Staaten und auch alle EU-Staaten sind der Meinung, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss. Dann kommt man nicht drum herum, über Panzerlieferungen zu diskutieren. Deshalb war es auch erwartbar, dass nun über Kampfpanzer wie den Leopard gesprochen wird.
Kann die Lieferung des Marder-Panzers den Kriegsverlauf entscheidend beeinflussen?
MASALA: Keine Waffe wird imstande sein, den Krieg zu entscheiden. Es kommt immer darauf an, wie sie eingesetzt wird und welche Taktik man damit verfolgt. Aber natürlich können Waffen den Kriegsverlauf beeinflussen. Russland hat in den vergangenen Wochen eine extrem große Anzahl an Panzern sowjetischer Bauart in die Ukraine verlegt, es hat 300.000 Männer zwangsrekrutiert – dieser Strategie der Quantität können Sie nur mit Qualität begegnen. Deshalb müssen wir über qualitativ hochwertigere Panzer sprechen. Und die können, wenn sie vernünftig eingesetzt werden, natürlich etwas bewirken.
Kanzler Olaf Scholz hat die Lieferung von Panzern auch deshalb stets abgelehnt, weil er die Gefahr einer Eskalation des Krieges sah. Was ist aus dieser Befürchtung geworden?
MASALA: Die Tatsache, dass die Bundesrepublik jetzt Schützenpanzer liefert, deutet darauf hin, dass die Einschätzung heute eine andere ist. Meines Erachtens war es ein Fehler von Olaf Scholz, sich sehr frühzeitig auf diese Aussage festzulegen – ohne dass jemand wusste, wodurch sie begründet ist. Wie kam er zu der Annahme, dass die Lieferung von Schützenpanzern und Kampfpanzern eine Eskalation nach sich ziehen würde? Ohnehin haben wir und auch alle anderen Nato-Partner in der Zwischenzeit der Ukraine Systeme bereitgestellt, die in ihrer Zerstörungskraft und in ihrer Bedeutung für die ukrainischen Gegenoffensiven ab Sommer 2022 wesentlich wichtiger waren. Der Flugabwehrpanzer Gepard hat mehr Zerstörungskraft als der Marder – der Marder ist ein Schützenpanzer, der Infanteristen von A nach B transportiert, eine gute Panzerung hat und natürlich kämpfen kann. Aber der Gepard ist eine Höllenmaschine, wenn es um die Bekämpfung von Bodenzielen geht. Scholz' Argumentation hat also längst keinen Sinn mehr gemacht. Und das scheint er nun zu korrigieren.
Sieht Wladimir Putin den Westen nicht ohnehin längst als Kriegspartei? Zumindest betont er das in seinen Reden immer.
MASALA: Das ist genau der Punkt. Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Lieferung von Waffensystemen und dem Eintritt Deutschlands in den Krieg. Völkerrechtlich werden wir nur dann Kriegspartei, wenn deutsche Soldaten in Uniform aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen.
Und um das Völkerrecht schert sich Putin ohnehin nicht ...
MASALA: Politisch kann uns Wladimir Putin jederzeit zur Kriegspartei erklären. In seinen letzten Reden hat er immer darauf hingewiesen, dass angeblich der Westen einen Krieg gegen Russland führt.
Ist diese Marder-Lieferung auch ein Zeichen an Putin, dass man das Gerede von der angeblichen Gesprächsbereitschaft satt hat?
MASALA: Zumindest bei den USA und bei Frankreich, aber auch bei anderen Staaten hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass erstens Putin diesen Krieg auch gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt und diese terrorisiert. Es sind hunderte Raketen allein in den vergangenen Wochen überall in der Ukraine niedergeprasselt. Und das Zweite ist, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt gar keine Verhandlungsoption mit Putin gibt. Er wird Gesprächen nur dann zustimmen, wenn seine Maximalforderungen erfüllt werden. Auch der französische Präsident Macron hat lange geglaubt, dass Russland bereit wäre, auf seine Kriegsziele zu verzichten, wenn man nur die richtigen Angebote in Richtung Moskau lanciert. Inzwischen hat er realisiert, dass das nicht der Fall ist.
Wie schätzen Sie die deutsche Unterstützung für die Ukraine insgesamt ein? Lange musste sich Berlin anhören, zu wenig zu helfen.
MASALA: Man kann Deutschland nicht den Vorwurf machen, dass es zu wenig macht. Finanziell ist Deutschland einer der größten Unterstützer der Ukraine. Aber auch Waffen hat Deutschland inzwischen in großer Zahl geliefert. Deutschland war nur sehr, sehr zögerlich bei schweren, tödlichen Waffen. Was es aber gibt, ist ein Widerspruch zwischen den Reden von Olaf Scholz, in denen er ankündigt, dass Deutschland eine Führungsrolle einnehmen wird, und der Realität, dass deutsche Waffenlieferungen immer erst dann möglich sind, wenn andere vorgeprescht sind. Ich halte es zwar für richtig, dass Deutschland keine Alleingänge macht. Aber es könnte ja durchaus die Initiative ergreifen, um andere europäische Staaten zur Lieferung von Waffen zu bewegen. Dann ist man Führungsmacht.
Polen etwa erhofft sich so eine Führung bei der Frage nach Kampfpanzern, auch Großbritannien macht Druck. Wird sich Scholz in dieser Frage bewegen?
MASALA: Ich glaube, dass es am Ende auf die Lieferung von Kampfpanzern hinausläuft, aber das werden wir in den nächsten Tagen sehen. Ein wichtiges Datum, das wir dabei im Blick haben sollten, ist der 20. Januar.
Wieso genau dieser Tag?
MASALA: Am 20. Januar findet die nächste Sitzung der Ukraine-Kontaktgruppe statt, also die sogenannte Ramstein-Konferenz. Dort wollen 50 Staaten ihre Waffenlieferungen koordinieren. Aktuell ist da sehr viel in Bewegung, der Druck auf Deutschland steigt. Frankreich hat angeboten, kleineren europäischen Staaten seinen Leclerc-Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen, wenn diese „Leos“ an die Ukraine liefern. Die Briten könnten den Challenger-Panzer liefern. Und die Polen sind bereit, den „Leo“ zu liefern, brauchen dazu aber die Exportgenehmigung von Deutschland.
Der Termin im Januar ist auch deshalb wichtig, weil die Zeit drängt vor der zu erwartenden Frühjahrsoffensive …
MASALA: Ja, absolut, man muss die Zeit im Blick behalten. Das gilt auch für die Marder-Lieferung, die ein Flugabwehrsystem beinhaltet. Wie es heißt, soll die Ausbildung der ukrainischen Kräfte im ersten Quartal abgeschlossen sein. Auch bei Kampfpanzern müsste man rasch handeln. Der Frühling ist die Zeit, in der sowohl russische als auch ukrainische Offensiven erwartet werden. Zeit ist also ein kritischer Faktor.
Während des orthodoxen Weihnachtsfestes hat Wladimir Putin eine Feuerpause vorgeschlagen, die nicht gehalten hat. Wie beurteilen Sie diesen Vorstoß?
MASALA: Ich habe von Anfang an geglaubt, dass das nur ein billiger Trick von Putin ist. Er hätte gerne der Ukraine den schwarzen Peter zugeschoben, wenn die nicht auf das Angebot eingegangen wäre. Sicher war es kein Zufall, dass er die Feuerpause an dem Tag verkündet hat, an dem die Franzosen öffentlich gemacht haben, Spähpanzer vom AMX-10 RC zu liefern. Putin wollte den Versuch unternehmen, den Skeptikern von Waffenlieferungen in Europa auf diese Weise noch mal Munition zu geben. Sie sollten glauben, dass man auf diese Waffenruhe aufbauen könne. Aber es war eine Finte.
Bald findet ein gemeinsames Manöver zwischen Belarus und Russland statt. Glauben Sie, dass der dortige Machthaber Alexander Lukaschenko stärker in den Krieg eingreifen wird?
MASALA: Bis vor zwei Wochen hätte ich gesagt, dass das Risiko für Lukaschenko zu hoch ist und er nicht aktiv in den Krieg eintreten wird. Heute halte ich das Risiko für Lukaschenko immer noch für extrem hoch. Ich bin mir aber nicht mehr sicher, ob er nicht vielleicht doch im Frühling von Belarus aus in den Krieg eingreifen wird, um auf diese Weise ukrainische Kräfte im Norden zu binden. Die würden Wolodymyr Selenskyj dann für mögliche Offensiven der Russen im Osten oder im Süden der Ukraine fehlen.
Sie haben einmal in einem Interview gesagt: „Russland wird diesen Krieg militärisch nicht gewinnen können. Putin kann es sich aber auch nicht leisten, ihn zu verlieren.“ – Welche Möglichkeiten bleiben da noch?
MASALA: Das Ziel muss sein, russische Truppen in der Ukraine so weit zurückzudrängen, dass in den Moskauer Zirkeln die Einsicht reift, dass dieser Krieg mehr Kosten als Gewinne verursacht. Nur diese Zirkel können Putin beeinflussen.
Warum glauben Sie, dass Russland den Krieg nicht gewinnen kann?
MASALA: Selbst wenn eine Situation eintreten sollte, in der die reguläre ukrainische Armee nicht mehr in der Lage ist, russischen Angriffen standzuhalten, wird der Kampf in der Ukraine meines Erachtens nicht aufhören. Der Krieg wird in einen Partisanenkampf übergehen, der für Moskau noch höhere Kosten verursachen würde. Russland kann also möglicherweise die ukrainische Armee schlagen, aber das heißt nicht, dass es den Konflikt gewinnt.
In Deutschland gibt es bei gar nicht mal so wenigen Menschen die Überzeugung, die Ukraine müsse den Krieg beenden, um weitere Tote zu vermeiden. Obwohl die Ukraine Staatsgebiet verlieren würde, obwohl die Russen schlimme Gräueltaten an Zivilisten angerichtet haben. Was denken Sie über solche Forderungen?
MASALA: Ich halte solche Meinungen für schäbig.
Woher kommt so ein Denken?
MASALA: Das ist zum großen Teil der Erfolg russischer Propaganda. Es sind ja nicht nur Querdenker und Radikale, die glauben, dass die Ukraine eigentlich Russland gehört. Schauen Sie sich an, wie selbst in der etablierten Politik über die Krim geredet wurde: Es gab das Narrativ, dass die Halbinsel schon immer russisch gewesen sei, das hat sich bei vielen Menschen festgesetzt.
Es ist auch immer wieder von einem amerikanischen Stellvertreterkrieg die Rede …
MASALA: Das ist zum einen ein großer Anti-Amerikanismus. Zum anderen aber auch – und ich sage das mal wohlwollend – die Sehnsucht nach einem normalen Leben. Diese Leute glauben, dass die Ukraine ihre Staatlichkeit opfern muss, damit wir in Deutschland endlich wieder unser normales Leben weiterführen können.
Ausnahmezustand reiht sich ja auch gerade an Ausnahmezustand. Glauben Sie, dass die Stimmung schon bald weiter kippt?
MASALA: Nein, das glaube ich nicht. Wir haben gesehen, dass der angebliche „Wut-Winter“ nicht gekommen ist. Ja, mehr als 50 Prozent der Deutschen lehnen die Lieferung von Panzern ab. Aber letzten Endes ist die Bereitschaft, die Ukraine zu unterstützen, noch immer sehr hoch. Teile der deutschen Gesellschaft sind resilienter und wehrhafter, als ich es ihr zugetraut hätte.
Darf ich Ihnen noch eine persönliche Frage stellen: Sie mühen sich als Wissenschaftler seit vielen Monaten, den Krieg und seine Hintergründe zu erläutern, und werden dafür in den sozialen Medien als Kriegstreiber beschimpft. Was macht das mit Ihnen? Verlieren Sie nie die Lust?
MASALA: Klar, es gibt Tage und Phasen, wo ich mir denke: Wozu mache ich den ganzen Quatsch, wenn mir solche Sachen unterstellt werden? Ich habe keinen missionarischen Auftrag und es ist auch nicht meine Pflicht, den Krieg zu erklären. Aber ich habe den Beruf eines Wissenschaftlers immer so verstanden, dass er analysiert, dass er versucht, der Öffentlichkeit ein Interpretationsangebot zur Verfügung zu stellen. Deshalb werde ich das auch weitermachen.
Zur Person
Carlo Masala, 54, ist Professor für internationale Politik an der Bundeswehr-Universität in München und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesakademie für Sicherheitspolitik sowie des Nato Defence College. Der ausgewiesene Militärexperte ist zu einer der wichtigsten öffentlichen Stimmen geworden, wenn es darum geht, die aktuelle geopolitische Lage einzuschätzen.