Es gibt viele Bücher über die jüdische Geschichte. Jetzt haben Sie ein weiteres geschrieben. Was war Ihre Motivation, was hat Ihnen gefehlt?
Michael Wolffsohn: Vielschichtigkeit. Meistens sind diese Bücher schwarz oder weiß. Gute Juden oder böse Juden. Immer nur Ideal- oder Zerrbild, selten das Realbild. Sowohl von Juden als auch Nichtjuden. Das Wort „Geschichte“ besteht, abgesehen von der Vorsilbe, aus „Schicht“, Geschichte besteht also aus vielen Schichten. Einschichtigkeit bzw. Eindimensionalität in der Darstellung von Geschichte ist also eine handwerkliche Ursünde.
Was ist denn anders am Ansatz für Ihr Buch „Die andere jüdische Weltgeschichte“?
Wolffsohn: Ich fasse heiße Eisen an und widerlege Antisemitismus unaufgeregt durch Fakten. Ich zeige, dass diejenigen, die Juden verfolgten und verfolgen, sich ins eigene Fleisch schneiden. Nicht nur ins jüdische. Einige Beispiele: Fluch und Segen des Antisemitismus. Gibt es, unabhängig von Thilo Sarrazin, „Jüdische Gene“? Oder einige Überschriften: „Gott, Herzl oder Hitler?“ Oder: „Körperlichkeit und Sex“. Oder: „Existenz auf Widerruf“. Oder: Warum der Davidstern eigentlich gar kein jüdisches Symbol ist. Oder: Moses war Ägypter. Ich räume mit der Legende auf, dass es Juden in der Islamischen Welt viel besser ging als in der christlichen – und mehr.
Hat sich für Sie während der Arbeit an dem Buch etwas Grundlegendes an Ihrer Sicht auf das Judentum verändert?
Wolffsohn: Nein, denn ich fing zu schreiben an, nachdem ich vorher intensiv geforscht hatte. Es soll ja Autoren geben, die erst lernen, bevor sie andere belehren. Ich mag auch das Pädagogische nicht, das die Leser quasi zwingt, meine Sicht zu übernehmen. Deshalb sind meine Bewertungen in diesem Buch kursiv gesetzt.
Sie haben in Israel gelebt, länger lebten Sie aber in der Diaspora, in Ihrem Fall Deutschland. Ging das immer ohne innere Zerrissenheit?
Wolffsohn: Zerrissenheit ist das falsche Wort. Vielschichtigkeit der Kulturen und Wahrnehmungen wäre zutreffend. Ich halte das für einen enormen Gewinn. Nicht nur Jüdisches und Jüdisches betreffend. Zwei ist eben mehr als eins.
Sie schreiben, „ohne Judentum kein Christentum, ohne Judentum plus Christentum kein Islam.“ Warum werden diese Zusammenhänge oft so gründlich ausgeblendet?
Wolffsohn: Weil viele nur das im Kopf speichern, was sie gelesen haben wollen. Die Quellen sind eindeutig. Es gehört zu den Absurditäten öffentlicher Debatten, dass die Benennung des Faktischen als Ketzerei oder Sensation wahrgenommen wird. Kasperletheater ist das, keine inhaltliche Auseinandersetzung.
Die Wortmeldungen von Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern über Antisemitismus in Deutschland sind in den letzten beiden Jahren zahlreicher geworden. Geht die Debatte in die richtige Richtung?
Wolffsohn: Wäre dies der Fall, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben. Ich nehme diesbezüglich fast nur Platten und Plattitüden wahr. Kaum jemand hört da noch hin oder liest die immer gleichen gedankenlosen Gedanken.
Die jüdisch-österreichische Schriftstellerin Eva Menasse beklagt Hysterie und Symbolpolitik beim Thema Antisemitismus. Besser wäre es, so findet sie, mehr Energie darauf zu verwenden, extremistische und gewaltbereite Judenhasser zu stoppen. Liegt sie damit richtig?
Wolffsohn: Beides ist nötig. Die Wiederholung der altbekannten – ich wiederhole – gedankenlosen Gedanken ist kontraproduktiv. In der konkreten Verfolgung von Antisemitismen und Antizionismen gibt es, jenseits der Worte, zu wenige Taten. Auch die Justiz ist dabei alles andere als mustergültig. Von der deutschen Nahostpolitik ganz zu schweigen. Den Mullah-Iran peppeln und projüdische plus proisraelische Bekundungen passen nicht zusammen. Oder doch: Dem Iran gelten die Taten, den Juden schöne Worte.
Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland scheinen sich nach der Abwahl von Benjamin Netanjahu verbessert zu haben. Wie sehen Sie das Verhältnis?
Wolffsohn: Jede Personalisierung ist oberflächlich und falsch. In Deutschland wird gerne übersehen, dass man heute sicherheits- und wirtschaftspolitisch auch von Israel abhängig ist. Stichwort IT-Wirtschaft, Anti-Terror-Kampf und neuerdings Drohnen plus Raketenabwehr.
Israel erlebt derzeit wieder eine Welle von schrecklichen, ziellosen Anschlägen auf Passanten. Was spielt sich da gerade ab?
Wolffsohn: Jenseits der einzelnen Terroristen handelt es sich erstens um einen innerpalästinensischen Kampf. Hamas plus Islamischer Jihad inklusive iranische Unterstützung auf der einen Seite und Fatah mit Präsident Mahmud Abbas auf der anderen Seite. Also zwischen denjenigen, die lieber auf Terror setzen und den politisch Vorgehenden. Historisch haben bislang bei den Palästinensern immer die auf Gewalt Setzenden die Oberhand behalten. Zum Nachteil des Palästinensischen Volkes. Dessen Traum vom eigenen Staat wird durch Gewalt immer unrealistischer.
Was heißt das für die Palästinenser?
Wolffsohn: Palästinensische Gewalt hat seit jeher – sprich, seit 1882 – immer den zionistischen bzw. israelischen Falken geholfen. Zur Tragödie der Palästinenser gehört historisch und bis heute die Unfähigkeit der meisten ihrer politischen Repräsentanten, Politik und nicht Gewalt-Politik zu betreiben. Sobald sie umdenken, wird sich das Blatt zu ihren Gunsten wenden. Danach sieht es jetzt nicht aus. Den innerpalästinensischen Kampf zwischen den Anhängern von Gewalt- und politischer Politik sehen wir bei den palästinensischen Staatsbürgern Israels, also den israelischen Arabern. Eine ihrer Parteien ist ja Partner der jetzigen Koalition. Also eine Pro-System-Partei. Aber eben nur eine. Die anderen arbeiten im System Israels gegen das System.
Sie halten die Zwei-Staaten-Lösung für völlig unrealistisch. Was könnte die Alternative sein?
Wolffsohn: Das habe ich in meinem Buch „Zum Weltfrieden“ ausführlich beschrieben und erklärt. In aller Kürze: Frieden durch Föderalismus. In Israel je ein Parlament plus Regierung für Juden und die Araber und darüber ein nationales Parlament plus eine nationale Regierung, die für Sicherheit nach innen und außen sowie für Außenpolitik zuständig ist. Eine „Bundesrepublik Israel“. Diese bildet einen Staatenbund mit der „Bundesrepublik Westjordanland“. Hier haben Araber und Juden ebenfalls ihre eigene Legislative plus Exekutive. Die Bundesrepublik Westjordanland bildet mit dem Königreich Jordanien und dem Gaza-Streifen eine Föderation. Für Details verweise ich auf „Zum Weltfrieden“.
In einem der Unterkapitel Ihres neuen Werkes geht es um „Bedeutsame Juden“. Dazu zählen Sie auch den ukrainische Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Moskau ausgerechnet ihn und seine Regierung, ja jetzt sogar das ganze Land „entnazifizieren“ will?
Wolffsohn: Noch eine der vielen Putin-Lügen. Die Ukraine war früher sehr antisemitisch. Heute ganz anders. 2019 haben 73 Prozent der Ukrainer einen Juden zum Präsidenten gewählt: Selenskyj. Er ist inzwischen eine Ikone. Die Mehrheit der Ukrainer hat sich längst selbst entnazifiziert.
Viele denken bei den Bildern aus Butscha an schwarz-weiß Aufnahmen von Gräueltaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Wie ergeht es Ihnen?
Wolffsohn: Als Historiker denke ich da an deutlich mehr Gräueltaten. Das macht keine einzige besser. Jede ist verbrecherisch.
Michael Wolffsohn, 74, ist deutsch-jüdischer Historiker. „Eine andere jüdische Weltgeschichte“ ist beim Verlag Herder erschienen.