Die Debatte um die Impfpflicht wird in Politik und Gesellschaft sehr emotional geführt. Wie erleben Sie die Diskussion aus Ihrem Blickwinkel als Mediziner?
Eckhard Nagel: Die eigene Gesundheit ist immer ein emotionales Thema. Das kennen wir alle, wenn eine Krankheit bei uns Sorgen und Spekulationen auslöst. Zur rationalen Einschätzung hilft uns das ärztliche Gespräch. Und dieses Gespräch im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist von ganz zentraler Bedeutung für jede medizinische Behandlung. Deshalb haben wir uns in der Impfdebatte keinen Gefallen getan, als wir die Impfung zu einem kleinen Pieks heruntergeredet haben, den man noch nebenbei beim Einkaufen mitnehmen kann.
Warum ist dieser sehr einfache Zugang zur Impfung ein Problem?
Nagel: Impfen ist eine wichtige Schutzmaßnahme für die Gesundheit. Deshalb hätten wir heute eine ganz andere Ernsthaftigkeit, mit der sich die Menschen mit der Impfung auseinandersetzen, wenn wir von Anfang an das ärztliche Gespräch in den Mittelpunkt gestellt hätten. Hier können die Menschen auch ihre Sorgen etwa wegen Vorerkrankungen thematisieren. Hier werden sie persönlich aufgeklärt, zum Beispiel, dass man bestimmte Nebenwirkungen sogar positiv bewerten kann. Etwa Fieber nach der Impfung, weil dann das Immunsystem gut reagiert. Und man kann im Gespräch infame Gerüchte aus der Welt schaffen, wie etwa die Falschinformation, dass die aktuellen Impfstoffe unfruchtbar machen könnten. Doch leider erleben wir in der Debatte um die Impfpflicht, dass uns gerade in der Frage des Arzt-Patienten-Verhältnisses eine Wende um 180 Grad droht.
Wo sehen Sie eine Bedrohung für das Arzt-Patienten-Verhältnis?
Nagel: In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich dieses Verhältnis eindeutig hin zur uneingeschränkten Vorrangigkeit der Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten entwickelt. Dazu gehört auch, auf eine medizinische Leistung zu verzichten und zum Beispiel einen Eingriff abzulehnen. Das ist zwar nicht die Regel, aber wir haben immer wieder solche Situationen, wenn der weitere Verlauf einer Erkrankung nicht ganz sicher vorhergesagt werden kann. In solchen Situationen legen wir als Ärztinnen und Ärzte nicht nur großen Wert darauf, den Willen der Patienten zu respektieren, sondern wir haben uns im ärztlichen Gelöbnis dazu verpflichtet. In dieser Tradition stehen auch eine Reihe von juristischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte, die die Selbstbestimmung speziell in Konfliktfällen stets weiter gestärkt haben. Diese Tradition in der medizinischen Versorgung, die der Entscheidung des Einzelnen oberste Priorität einräumt, geht in eine ganz andere Richtung als die jetzt diskutierte Impfpflicht.
„Befürchte, eine Impfpflicht treibt die Gesellschaft auseinander“
Sie würden anstelle einer Impfpflicht auf eine bessere Beratung des Einzelnen setzen? Geht es in der Debatte nicht vor allem um die Folgen der Pandemie für die gesamte Gesellschaft?
Nagel: Für die Ärzteschaft ist es keine Schwierigkeit oder Besonderheit, über eine Corona-Impfung aufzuklären. Ich setze voll darauf, dass die deutsche Ärzteschaft und die Patientinnen und Patienten in diesem Land ein so starkes Vertrauensverhältnis haben, dass die überwiegende Mehrzahl der noch nicht geimpften Menschen sich für eine Impfung entscheidet. Zum eigenen Schutz, aber auch zum Schutz der Allgemeinheit. Der Eigenschutz ist medizinisch unumstritten, was schwere Krankheitsverläufe angeht. Beim Schutz, andere anzustecken, haben wir in den verschiedenen Phasen der Pandemie erleben müssen, dass die Erwartungshaltung an die Impfstoffe zu hoch war und sich bei vielen eine Enttäuschung breitgemacht hat. Die Hoffnung auf einen verantwortungsvollen Wegfall persönlicher Schutzmaßnahmen hat sich trotz einer hohen Impfquote nicht erfüllt. Aber die Impfungen haben sehr vieles erleichtert. Deshalb ist das Gespräch zwischen Ärzten und Patienten ganz wichtig, um die Sorgen, Ängste, Enttäuschungen und auch die Verärgerung thematisieren zu können. Deshalb lautet mein Plädoyer: Wir müssen miteinander reden. Nur wenn wir eine gemeinsame Gesprächsebene finden, kommen wir als Gemeinschaft gestärkt aus dieser Krise. Ich befürchte, eine Impfpflicht treibt die Gesellschaft dagegen auseinander.
Nun fordert der Gruppenantrag des FDP-Gesundheitspolitikers Andrew Ullmann auch eine Verpflichtung zum Beratungsgespräch. Würden Sie diesen Punkt unterstützen?
Nagel: Ja, eine Verpflichtung zum Beratungsgespräch ist eine klare Ansage, die der Staat machen kann. Die Solidargemeinschaft kann erwarten, dass sich alle ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen. Denn es geht nicht nur um die Gefährdung des Lebens von einzelnen Menschen, sondern auch um die Gefährdung des sozialen Miteinanders. Ich glaube tatsächlich, dass jeder die Pflicht hat, sich damit auseinanderzusetzen und im Zweifel fachlichen Rat einholen soll. Auf der anderen Seite gibt es eine Pflicht, die Menschen über die neuen Entwicklungen, Erfolge der Impfstoffe und auch mögliche Nebenwirkungen oder Gegenanzeigen zu informieren. Genau das gehört zum Alltag ärztlicher Gespräche. Auf diejenigen, die aus sozialen Gründen den Zugangsweg zum Gesundheitswesen nicht selbstständig nutzen, müssen wir zugehen. Den zweiten Teil des Gruppenantrags, die Impfpflicht für Erwachsene erst ab einem bestimmten Alter einzuführen, halte ich jedoch für äußerst problematisch.
Medizinethiker warnt vor Altersdiskriminierung bei Impfpflicht
Warum? Die diskutierte Altersgrenze ab 50 Jahren entspricht statistisch dem deutlich höheren Risiko, mit Corona auf der Intensivstation zu landen …
Nagel: Auch wenn es gut gemeint ist: Hier besteht die Gefahr eines fatalen Missverständnisses. Wir sollten klar und eindeutig jede Form der Altersdiskriminierung ausschließen. Wenn jemand mit 60 Vorbehalte hat, warum soll man ihn anders behandeln, als wenn er 31 wäre? Ich habe viele Patienten, die jünger als dreißig sind und für die es in gleicher Weise sehr gute Gründe gibt, sich impfen zu lassen. Mit Ausnahme der Volljährigkeit als gesetzlich festgelegter Zeitpunkt vollständiger Autonomie erscheint jede Altersgrenze irritierend. Mit begrenzten Ressourcen auf der Intensivstation zu argumentieren, ist zwar verständlich, aber höchst problematisch. Hier sind wir im Umkehrschluss schnell bei Diskussionen, ab welchem Lebensalter bestimmte medizinische Leistungen noch erbracht werden sollen. Auch das würde womöglich das Gesundheitswesen entlasten, ist aber aus ethischer Sicht zutiefst inakzeptabel. Es darf nicht sein, dass bei Erreichen eines bestimmten Alters eine Behandlung nicht mehr zur Verfügung gestellt wird. Und deshalb halte ich den Gedanken, dass man sich umgekehrt ab einem bestimmten Alter verpflichtend behandeln lassen muss, um Ressourcen zu schonen, für falsch. Solchen Modellen sollten wir auf keinen Fall folgen.
Mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht hatten die Regierungsparteien keine ethischen Skrupel, ausgerechnet jene in den Kliniken und Heimen zur Impfung zu verpflichten, die mit ihrer Arbeit eine Hauptlast der Pandemie tragen. Selbst geimpfte Pflegekräfte fühlen sich diskriminiert. Zu Recht?
Nagel: Da bin ich etwas anderer Meinung. Ich habe mich sehr für die Masern-Impfpflicht eingesetzt, als bei kleinen und kleinsten Kindern lebensgefährliche und dauerhaft schädigende Erkrankungen und auch die Todesfälle zunahmen. Auf der anderen Seite nahm die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder gegen Masern impfen zu lassen, merklich ab. Ein wesentlicher Unterschied zur Debatte um die Corona-Impfungen ist, dass sich die Masern-Impfpflicht an die Verantwortung der Eltern richtet. Denn ein zwei- oder dreijähriges Kind kann nicht selbstbestimmt beurteilen, ob und inwieweit diese Impfung für es gut ist oder nicht. Zugleich war es nötig, die Masernimpflicht einrichtungsbezogen auf die Beschäftigten etwa von Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten auszuweiten. 2020 gab es übrigens kaum Diskussionen oder Widerstände, sondern die Notwendigkeit wurde von den Mitarbeitenden anerkannt. Ich glaube deshalb, dass die einrichtungsbezogene Corona-Impfpflicht auch im Gesundheitswesen und den Pflegeeinrichtungen von den Mitarbeitenden akzeptiert werden sollte: Denn es gehört zu diesen Berufsbildern dazu, dass man sich so gut es geht selbst schützen sollte und ebenso die Menschen, die man behandelt, selbst wenn dies der eine oder die andere als Zumutung empfinden mag. Aber auch hier müssen wir selbstverständlich mit den Betroffenen reden. Und zwar nicht direkt über den Arbeitgeber, sondern über Vertrauenspersonen und mit Mitteln der professionellen Konfliktlösung. Hier schlicht mit Entlassungen oder harten Sanktionen zu drohen, halte ich für nicht gerechtfertigt.
Zur Person: Professor Eckhard Nagel ist Direktor des Instituts für Medizinmanagement der Uni Bayreuth. Der 61-Jährige Transplantationsmediziner und frühere Chefarzt am Klinikum Augsburg war 15 Jahre Mitglied des Deutschen Ethikrats und seines Vorläufers.