In Krisenzeiten kommt dem Journalismus eine besondere Rolle zu. Es geht darum, objektiv zu informieren und Dinge einzuordnen. Wie ist das bisher gelungen?
Frederik von Castell: Gerade am Anfang des Krieges hatte ich den Eindruck, dass es eine sehr eilige Berichterstattung gab. Dass man vieles gezeigt hat, was zu diesem Zeitpunkt nicht überprüfbar war und in ein bestimmtes Narrativ gepasst hat.
Welches Narrativ war das?
von Castell: Das war die Erzählung von: „Russland kann keinen Krieg, da liegen Panzer ohne Benzin, da werden ganze Panzerbrigaden von Zivilisten aufgehalten.“ Gerade in den ersten Wochen des Krieges wurden solche Bilder unüberprüft verbreitet und auch so betextet. Das fand ich sehr überraschend, weil wir in der Branche in den letzten Jahren angesichts von Terroranschlägen dazugelernt haben. Da gab es Formate, die dargestellt haben, was wir wissen und was wir nicht wissen. Und dann tritt eine Lage ein wie ein Krieg und plötzlich vergessen wir, dass wir sowas können. Vieles wurde dabei miteinander verwoben.
Warum ist das problematisch?
von Castell: Weil mit diesem Material Muster erklärt wurden. Auch wenn man nicht wusste, ob die Bilder echt sind. Wenn man die verschiedenen Bilder miteinander verknüpft, um Muster zu erklären, sich davon aber ein Element als falsch herausstellt, stimmt auch die ganze Geschichte nicht mehr.
Was wäre die bessere Methode?
von Castell: Man müsste sich trauen, auch einmal abzuwarten. Mir wäre es lieber, erst zwei Tage später von etwas zu erfahren und dann aber auch sicher zu wissen, dass es so passiert ist. Lieber nicht informieren als falsch informieren, ohne hier Christian-Lindner-Zitate abwandeln zu wollen. Das klingt einfach, ist aber schwierig. Wenn die Nachrichtenlage drunter und drüber geht, muss man schnell Entscheidungen treffen. Aber man muss sich absichern, um nicht die falschen Entscheidungen zu treffen. Eine gewisse Langsamkeit muss in die Redaktionen zurückkommen. Und man muss sich an sein journalistisches Handwerkszeug klammern.
Zu diesem Handwerkszeug gehört auch, vorsichtig zu formulieren, wenn Unklarheiten bestehen. Gerade in den sozialen Medien gab es aber Kritik, als das Wort „mutmaßlich“ im Zusammenhang mit den Ereignissen in Butscha verwendet wurde.
von Castell: Es ist besonders im Krieg unerlässlich, die journalistischen Standards hochzuhalten. Es ist ein Unterschied, ob ich von „mutmaßlichen Gräueltaten von russischen Soldaten“ spreche oder von Gräueltaten „mutmaßlich von russischen Soldaten“. Dass es diese Taten gibt, ist unbestritten. Das sind keine mutmaßlichen Gräueltaten. Aber was wir alle aushalten müssen, ist, dass wir, solange es nicht zweifelsfrei feststeht, als Journalisten sagen: Es sind Gräueltaten, das ist erwiesen, aber sie sind mutmaßlich von russischen Soldaten begangen worden. Erst dann, wenn ich den unwiderlegbaren Beweis habe, dann kann man auch sagen und schreiben: Russische Soldaten sind verantwortlich.
Eine Gratwanderung.
von Castell: Ja, natürlich. Es liegt in der Natur der Sache einer Kriegsberichterstattung, dass man Material häufig nur über Dritte bekommt. Und die sind oft auch Akteure der Kriegsparteien. Und auch wenn man sehr gern in Schwarz und Weiß denken möchte, ist die Ukraine mit ihren Behörden, mit ihren Medien und Entscheidungsträgern eine Kriegspartei. Informationen, die ich beispielsweise vom ukrainischen Verteidigungsministerium bekomme, kann ich nicht als neutral einstufen. Man kann als Redaktion nicht immer eigene Leute direkt vor Ort haben. Deshalb müssen wir auch mal sagen: Wir wissen es noch nicht. Das Urteil überlassen wir den Zuschauern und den Leserinnen und Lesern. Das sollte unser Job sein. Wir beschreiben, was wir sehen, mit der gebotenen Vorsicht.
Unsere Redaktion hat sich klar dazu positioniert, keine Bilder von Leichen zu zeigen. Andere, wie die New York Times, hatten sogar ein Bild einer getöteten Familie auf dem Titelblatt.
von Castell: Die Debatte um die Frage, ob man solche Bilder zeigen sollte, wird zu wenig geführt. Viele ausländische Medien, eben wie die NYT, zeigen den Schrecken dort vor Ort. Es ist in großen Teilen der deutschen Medienlandschaft nicht denkbar, so etwas zu drucken. Einerseits weil man der Meinung ist, man müsse es dem Leser nicht antun, man kann es auch beschreiben. Andererseits will man nicht sensationslüstern sein, indem man solche Bilder verbreitet. Sensationslust würde ich der NYT hier gar nicht unterstellen, sie wollten das dokumentieren. In Deutschland gibt es ein weiteres Argument gegen solche Bilder, nämlich das des Opferschutzes. Man kann die Personen nun nicht mehr um ihr Einverständnis bitten. Ich finde, das ist ein wichtiges Argument, aber ich glaube, dass es auch nötig wäre, den Tod zu zeigen, aber die Toten unkenntlich zu machen. Es darf nicht sein, dass man über eine Rückwärtssuche die Social-Media-Profile von Opfern recherchieren und deren Leben rekonstruieren kann. Das gehört sich nicht.
Dieser Krieg ist ja wie kein Zweiter beherrscht von Bildern und Videos. Wie lassen sich die verifizieren?
von Castell: Da gibt es einen groben Fahrplan, der auch für Privatpersonen funktionieren kann. Schritt eins wäre, sich das Material anzusehen und sich zu fragen, ob das alles so stimmen kann, was man gerade sieht. Man kann sich ansehen, ob die Jahreszeit auf dem Bild zum behaupteten Inhalt passt, ob man Straßenschilder, Nummernschilder oder Geschäfte erkennen kann, um sicher zu sein, dass das Bild auch an diesem Ort aufgenommen wurde. Wurde das Bild oder das Video geschnitten? Ist das Bild schon einmal, nämlich viel früher, veröffentlicht worden? Das geht über eine Bilderrückwärtssuche.
Haben Sie ein Beispiel für falsche Bilder und Videos im Krieg?
von Castell: Ja, eines, das gerade die Runde macht. Da sieht man auf einem Lastwagen lauter in Plastik eingewickelte Leichen. Von denen aber eine offensichtlich nicht tot ist, weil sie raucht. Die anderen sind auch nicht wirklich tot. Es ist eine gestellte Situation. Es ist schon das zweite Mal, dass dieses Video zweckentfremdet wird. Es stammt eigentlich von einem russischen Rapper. Beim ersten Mal wurde behauptet, das seien die inszenierten Corona-Toten. Jetzt sind es angeblich gefakte ukrainische Leichen. Das Video ist also weder aktuell noch authentisch, hat es aber zum zweiten Mal geschafft, in Telegram-Gruppen viral zu gehen als Beleg für etwas, das es absolut nicht belegt.
Technische Möglichkeiten, um Falschinformationen zu produzieren, werden immer ausgefeilter. Wie groß ist die Sorge, dass Fakes einfach zu gut sind, um sie zu enttarnen?
von Castell: Wir kommen irgendwann an die Grenzen des Erreichbaren in der Verifikation. Ganz so weit ist es aber noch nicht. Aber sogenannte Deep Fakes, also aufwendig gefälschtes Material, ist nicht das größte Problem.
Sondern?
von Castell: Die viel einfachere Desinformation: Das schlichte Aus-dem-Zusammenhang-Reißen von Bildern. Etwa das Foto von Selenskyj, wie er ein Trikot der ukrainischen Nationalelf in die Kamera hält. Auf der Rückseite ist ein Hakenkreuz statt einer Rückennummer zu sehen. Wenn man so ein Bild sieht, muss man sich schlicht fragen: Kann das sein? Kann man bei einem Pressetermin ein Trikot mit einem Hakenkreuz in die Kamera halten, ohne dass wir es mitbekommen hätten? Es dauert zwei Minuten, das Bild zu finden mit der richtigen Rückennummer.
Gefährlicher als die guten Fakes sind also die billigen ...
von Castell: Genau. Wir verbreiten einfach zu schnell Dinge, ohne die Folgen zu bedenken. Jeder, der in diesen Zeiten etwas teilen oder weiterleiten will, von dem er nicht weiß, ob es zweifelsfrei echt ist, sollte sich also fragen: Welchen winzigen Beitrag kann ich leisten, dass es nicht noch aufgeregter und unsinniger wird?
Zur Person: Frederik von Castell ist Redaktionsleiter des medienkritischen Magazins Übermedien. Zuvor arbeitete er als Faktenchecker für die Deutsche Presse-Agentur sowie als Datenjournalist für den Hessischen Rundfunk und den Südwestrundfunk.