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Interview: Marina Weisband zum Ukraine-Krieg: „Vergebung wird von Tag zu Tag schwieriger“

Interview

Marina Weisband zum Ukraine-Krieg: „Vergebung wird von Tag zu Tag schwieriger“

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    Marina Weisband ist in Kiew geboren und kam als „Tschernobyl-Kind“ nach Deutschland. Die frühere Piraten-Politikerin verfolgt fassungslos, was gerade in ihrem Heimatland passiert.
    Marina Weisband ist in Kiew geboren und kam als „Tschernobyl-Kind“ nach Deutschland. Die frühere Piraten-Politikerin verfolgt fassungslos, was gerade in ihrem Heimatland passiert. Foto: Rüdiger Wölk, Imago Images

    Haben Sie heute schon mit Ihren Verwandten in Kiew telefoniert?

    Marina Weisband: Meine Mutter hat die Frühschicht übernommen, weil ich erst um vier Uhr morgens aus Berlin zurückgekommen bin. Wir wechseln uns ab, ich werde dann später am Abend mit ihnen reden.

    Was sagen Sie Ihren Angehörigen in Kiew?

    Weisband: Ich versuche, sie aufzubauen und ihnen Mut zu machen. Im Moment ist die größte Befürchtung in Kiew, dass der Westen die Ukraine allein lässt. Dass man die ukrainische Sache für verloren erklärt und mit oberflächlichen Hilfen und Solidaritätsbekundungen arbeitet. Aber dass man das, was eigentlich gebraucht wird, nicht angeht.

    Was wäre das?

    Weisband: Aus Sicht der Ukrainer:innen zwei Dinge – eine Flugverbotszone und ein sofortiges Energie-Embargo. Ich muss mich auch gegenüber meiner eigenen Familie gegen eine Flugverbotszone aussprechen, weil sie unabsehbare Folgen hätte. Das fällt mir nicht leicht und kommt nicht gut an. Aber ich muss gleichzeitig versichern, dass Deutschland alles in seiner ökonomischen Macht Stehende tut, um Putin aufzuhalten.

    Ein Energie-Embargo in ein paar Monaten kommt Ihnen zu spät?

    Weisband: Man braucht es jetzt, weil jetzt die Menschen sterben. Es gibt das Vorurteil, dass Sanktionen Monate brauchen, bis sie wirken. Das stimmt nicht notwendigerweise, sondern hängt mit der Natur der Sanktionen zusammen. Ein vollständiges Energie-Embargo hat mehr mit Erwartungsmanagement zu tun. Im Moment erwartet Putin, dass Deutschland abhängig ist von seinen Energielieferungen und deshalb nichts gegen ihn unternehmen wird. Diese Erwartung müssen wir ihm nehmen. Das verschiebt alles in seinem Weltbild, in seiner Kalkulation, und lässt den Preis dieses Krieges ganz anders aussehen. Wir müssen ihn in eine Situation zwingen, in der das Führen Russlands als Staat und das Führen dieses Krieges unvereinbar werden.

    Müssen wir in Deutschland dafür einen Wirtschaftseinbruch und Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen?

    Weisband: Zu behaupten, dass es einen solchen Einbruch und Massenarbeitslosigkeit geben wird, ist populistisch und überhaupt nicht klar. Ich glaube: Wenn wir ein wirklich hartes Embargo beschließen, sprechen wir von nicht mehr als ein paar Wochen. Wir können das Embargo ja an Waffenstillstandsverhandlungen knüpfen. Sobald ein Waffenstillstand erzielt wird, geben wir die Gelder wieder frei. Es ist unpopulär zu sagen, dass jemand seinen Job verlieren könnte. Aber dort findet ein Massensterben von Frauen, Männern und Kindern statt! Das sind Menschen wie wir alle. Wenn ich einen Job verliere, kann ich einen anderen finden. Aber wenn ich sterbe, bin ich tot.

    Ist es ein Krieg Putins oder Russlands?

    Weisband: Putin wirft nicht selbst die Bomben ab, verhaftet Demonstranten oder schießt fliehende Menschen ab. Hinter ihm steht eine breite Wählerbasis, die gerade begeistert in seinen Krieg einstimmt. Natürlich sind die Leute gehirngewaschen durch acht Jahre Propaganda, haben keinen Zugriff zu objektiven Informationen. Entlastet sie das? In Deutschland hat man damals entschieden: Nein. Aber selbstverständlich sind nicht alle Russen schuld. Ich bin ja selbst russischsprachig. Ich liebe Russland, liebe russische Kultur, lese meiner Tochter russische Bücher vor. Man darf weder die Menschen in Schutz nehmen, die hinter dem Krieg stehen und mit einem „Z“ herumlaufen, noch darf man alle Russen pauschal verurteilen.

    Ist vor dem Hintergrund der aktuellen Schrecken ein versöhnliches Zusammenleben von Ukrainern und Russen noch denkbar?

    Weisband: Vergebung wird von Tag zu Tag schwieriger. Ich habe hier in Deutschland den Luxus, die Situation recht rational und distanziert betrachten zu können. In der Ukraine herrscht mittlerweile eine unbändige Wut auf alle Russen. Das war am Anfang nicht so. Da hatten die Leute noch Mitgefühl mit den russischen Soldaten. Das wandelt sich, je mehr Städte in Trümmern liegen, je mehr gezielt Kinder bombardiert werden, je mehr auf Fliehende geschossen wird. Es wird sehr lange dauern, bis eine Versöhnung stattfinden kann.

    Wie wichtig ist es, dass Menschen in Deutschland auf die Straße gehen und sich solidarisch mit der Ukraine zeigen?

    Weisband: Für die Menschen in der Ukraine ist das sehr wichtig. Sie sind dankbar und hoffen, dass sich das überträgt auf die deutsche Regierung, damit sie schnell und entschlossen handelt, um diesen Krieg zu beenden. Von der deutschen Regierung sind sie maßlos enttäuscht.

    Haben Sie Angst, dass man in Deutschland abstumpft und sich an Kriegsnachrichten gewöhnt?

    Weisband: Ja, davor habe ich Angst. Denn das passiert in jedem Krieg. Auch in Syrien waren am Anfang alle geschockt, und dann wurden die Bilder alltäglich. Es ist ein psychologischer Effekt: Wir können nicht die ganze Zeit schockiert sein. Das schafft unser Hormonhaushalt nicht. Aber für die Ukrainer ist das eine große Gefahr. Akzeptieren, dass sich der Krieg über Monate oder Jahre zieht? Das ist eine zynische Haltung. Für die Menschen, die da unter den Bomben liegen, wird es null Prozent leichter im Laufe der Zeit. Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Und wenn wir im Status quo verharren, wird der Nachrichtenzyklus weiterziehen. Dann wird es Wichtigeres geben – die Lebensmittelpreise, die nächste Corona-Welle … und das Schicksal der Ukraine wird in den Hintergrund rücken. Damit belohnen wir Putin, weil wir ihm und allen autoritären Führern in der Welt sagen: Ihr könnt machen, was ihr wollt.

    Zur Person: Die 35-jährige Marina Weisband wurde als Piratenpartei-Politikerin bekannt und engagiert sich heute bei den Grünen. Ihre Familie verließ 1994 Kiew auf Rat von Ärzten, die bei Weisband Folgen der Tschernobyl-Katastrophe diagnostizierten.

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