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Interview: Russische Protest-Ikone Owsjannikowa: "Wagenknecht ist die Advokatin des Teufels"

Interview

Russische Protest-Ikone Owsjannikowa: "Wagenknecht ist die Advokatin des Teufels"

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    Die durch ihren Kriegsprotest im russischen Fernsehen bekannt gewordene Journalistin Marina Owsjannikowa.
    Die durch ihren Kriegsprotest im russischen Fernsehen bekannt gewordene Journalistin Marina Owsjannikowa. Foto: Annette Riedl, dpa

    Unsere erste Frage ist so einfach wie kompliziert: Wie geht es Ihnen?
    MARINA OWSJANNIKOWA: Okay. Wir sind sicher. Ich bin "Reportern ohne Grenzen" und Frankreich unendlich dankbar, die uns gerettet haben, die mich aus Russland herausgezogen haben, nicht nur mich, sondern auch mein Kind. Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen, denn ich hatte wirklich 10 Jahre Gefängnis vor mir. Das Gericht war schon im Anmarsch. Bis zum Prozess blieben nur noch neun Tage, und wir flohen. 

    Sie sind auf der Flucht, werden Sie verfolgt?
    OWSJANNIKOWA: Nein, ich werde nicht verfolgt. Also nicht wirklich. Im Prinzip stehe ich auf der internationalen Fahndungsliste, aber die Europäer werden mich wohl nicht verhaften.

    Müssen Sie ständig ihren Aufenthaltsort wechseln?
    OWSJANNIKOWA: Nein, ich habe in Frankreich politisches Asyl beantragt. Ich werde es bald erhalten. Also hoffe ich, dauerhaft in Frankreich leben zu können. Nach Deutschland komme ich nur auf Einladung zu verschiedenen Veranstaltungen, wie zum Beispiel zum Jahrestag des Kriegsbeginns.

    Sie haben es gewagt, im russischen Fernsehen gegen den Krieg in der Ukraine mit einem Plakat zu demonstrieren. Sie platzten in eine Sendung und hielten es in die Kameras. Sie konnten ahnen, welche Konsequenzen das für Sie haben würde. Warum haben Sie es dennoch getan?
    OWSJANNIKOWA: Weil es mir nicht mehr möglich war, zu schweigen. Tag für Tag diese Dissonanz, was Putin uns sagte und was in Wirklichkeit passierte. Russland hatte einen brutalen Krieg in der Ukraine angefangen. Es war notwendig, der ganzen Welt die Wahrheit zu sagen, dass der König nackt war. Er hatte zwar diese Propagandafabrik um sich herum gebaut, aber das alles war Pappkulisse. Diese Propagandafabrik arbeitet nach der Art von Goebbels, es gibt nur Schwarz und Weiß. Die Öffentlichkeit wird ständig manipuliert. Nach gut drei Wochen Krieg hielt ich es nicht mehr aus. Eigentlich wollte ich in der Moskauer Innenstadt protestieren, aber dann hat mein Sohn mir die Autoschlüssel weggenommen, ich konnte nicht hin. Und dann hatte ich diese Idee in meinem Kopf, dass ich einen Live-Protest veranstalten könnte.

    Und Sie haben nicht doch noch Angst bekommen und die Idee fallen gelassen?
    OWSJANNIKOWA: Natürlich hatte ich Angst. Aber es ging nicht mehr. Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter Russin. Ich hatte das Poster an einem Sonntag auf einem Küchentisch gemalt. "No War" stand in Englisch oben. Darunter in Russisch: "Den Krieg beenden. Glauben Sie der Propaganda nicht." Am Montag, dem 14. März 2022, nahm ich es mit in den Sender, eingerollt und versteckt im Ärmel meiner Jacke. Und dann zog ich es durch.

    Sie haben selbst jahrelang für Putins Propaganda-Maschine gearbeitet. Hat es Sie nicht gestört, Propaganda zu machen und Lügen zu verbreiten?
    OWSJANNIKOWA: Putin hat in 20 Jahren alle unabhängigen Medien zerstört. In Russland kann ein Journalist nirgendwo ein unabhängiger Fernsehjournalist sein. Es gibt die wenigen mutigen Kollegen, die gegangen sind und auf YouTube einen Kanal haben. Ich konnte das nicht oder habe es mich nicht getraut – aus wirtschaftlichen Gründen. Ich wusste, dass ich gehen musste, aber ich hatte nicht genug Kraft. Bequeme Arbeitszeiten, gute Bezahlung, Krankenversicherung. Ich hatte zwei Kinder, sie mussten ernährt werden. Ich hatte eine schwierige Scheidung und so weiter. Die Probleme eines gewöhnlichen Menschen. Und tatsächlich konnte man nirgendwo hin. Es gab kein Ziel. Es gab keine anderen Optionen. Das gesamte Fernsehen in Russland steht unter staatlicher Kontrolle.

    Was denken die Russen über den Krieg? Sie wissen doch, dass sie Propaganda serviert bekommen und dass die Opferzahlen gewaltig sind.
    OWSJANNIKOWA: Alle Umfragen hier zeichnen das Bild einer starken Unterstützung für den Krieg. Sie werden unter den treuen Unterstützern durchgeführt. Diejenigen, die gegen den Krieg sind, werden nicht gefragt oder trauen sich nicht, das in den Umfragen zu sagen. Daher denke ich, dass die wirkliche Unterstützung für den Krieg, die wirkliche Zahl der Kriegsbefürworter jetzt in diesem Stadium nicht mehr als 10 Prozent beträgt. Wahrscheinlich ist es ungefähr die gleiche Zahl wie die der aktiven Kriegsgegner. Und die Mitte dazwischen ist diese schwankende Mehrheit. Sie haben sich versteckt, sie wissen nicht, wem sie folgen sollen. Wenn Russland anfängt, das Kriegsspiel zu gewinnen, bewegen sie sich nach dem Kriegsspiel. Und wenn die Kriegsgegner zu gewinnen beginnen, werden sie den Kriegsgegnern folgen. 

    Ihr Plakat war sechs Sekunden lang im russischen Fernsehen zu sehen. Diese sechs Sekunden haben Ihr Leben für immer verändert. Bereuen Sie manchmal Ihren eigenen Mut?
    OWSJANNIKOWA: Nein, es tut mir nicht leid. Ich bedauere es nicht. Natürlich habe ich mein ganzes Leben ruiniert. Ich habe alles verloren, sowohl mein Zuhause als auch einen Teil meiner Familie und Heimat. Der Krieg hat mein Leben zum zweiten Mal auf den Kopf gestellt, denn das erste Mal haben russische Truppen mein Haus in Grosny in Tschetschenien dem Erdboden gleichgemacht. Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Flüchtling. Zum zweiten Mal in meinem Leben. Aber ich bereue es nicht. 

    Warum nicht?
    OWSJANNIKOWA: Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, der ganzen Welt die Wahrheit zu zeigen. Ich hoffe, dass dieses Opfer nicht umsonst war, und dass die Russen ihre Augen öffnen und ihre Meinung ändern können. 

    Was werden Sie als Nächstes tun? Ihr Buch „Zwischen Gut und Böse“ ist gerade fertig geworden und erscheint in mehreren europäischen Ländern.
    OWSJANNIKOWA: Ich plane, mich bei Menschenrechtsaktivisten zu engagieren. Etwas, das mit Meinungsfreiheit zusammenhängt, mit politischen Repressionen gegen Journalisten in Russland. Derzeit sind 19 Journalisten in Russland wegen politischer Anschuldigungen inhaftiert. Ich beabsichtige, für ihre Freilassung zu kämpfen. Dass mein Buch in Russland erscheint, ist sehr unwahrscheinlich. Es ist wohl unmöglich, einen Verlag zu finden. 

    Frau Owsjannikowa, in Deutschland wird heftig über den Krieg und vor allem über die Frage gestritten, wie stark die Bundesrepublik die Ukraine mit Waffen unterstützen sollte. Wird diese Debatte in Russland wahrgenommen?
    OWSJANNIKOWA: Ja, das wird sie, aber natürlich sehr einseitig in den offiziellen Medien. Sahra Wagenknecht ist die Lieblingspolitikerin von Putins Fernsehpropagandisten. Das russische Fernsehen begann unmittelbar nach der Annexion der Krim, sie für die eigenen Zwecke zu nutzen. Es gab weltweit nur wenige Politiker, die so eindeutig mit Putin sympathisierten. Politiker wie

    Zum Abschluss wieder eine einfache wie komplizierte Frage – kann es mit Wladimir Putin Frieden in der Ukraine geben?
    OWSJANNIKOWA: Der gesamte Westen sollte sich gegen Putin versammeln, weil er ein Kriegsverbrecher ist. Friedensgespräche mit Putin sind derzeit ausgeschlossen. Wir sollten über die vollständige Demontage des Putin-Systems sprechen. Nur dann wird Russland zumindest etwas Hoffnung auf eine bessere Zukunft haben und es echten Frieden mit der Ukraine geben. 

    Zur Person

    Marina Owsjannikowa machte im März 2022 weltweit Schlagzeilen, als sie vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges im staatlichen russischen Fernsehen Erster Kanal ein Anti-Kriegs-Plakat hochhielt. Ihr neues Buch "Zwischen Gut und Böse – Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte" erschien bei Langen Müller Verlag, (208 S., 20,00 Euro).

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