Herr Weselsky, Sie sollen rund 70.000 Kilometer im Jahr mit der Bahn unterwegs sein. Da erlebt man sicher einiges als Chef der Deutschen Lokführer-Gewerkschaft.
Claus Weselsky (lacht): Viele Reisende denken, ich bin der Bahn-Chef und sprechen mich als solchen an. Dann sage ich den Leuten: Moment mal, der Bahn-Chef heißt Dr. Richard Lutz.
Was sagen die Leute dann?
Weselsky: Lutz, den kennen wir nicht. Das ist kein Witz: Ich bin das bekannteste Gesicht der Bahn. Dass mich so viele Leute kennen, hängt natürlich mit den harten Auseinandersetzungen, also Streiks, zusammen, welche die Gewerkschaft GDL mit mir an der Spitze in der Vergangenheit geführt hat.
Was passiert, wenn Sie im Speisewagen sitzen?
Weselsky: Einmal habe ich mich dort an einen Vierer-Tisch gesetzt. Kaum hatte ich Platz genommen, serviert mir der Steward einen grünen Tee.
Sie lieben grünen Tee.
Weselsky (lacht): Meine drei Tischgenossen waren irritiert, schließlich hatte ich nichts bestellt. Und die Herren hatte keiner nach ihren Wünschen gefragt. Das war mir peinlich. Da habe ich mich entschuldigt und den Männern gesagt, Sie dürfen das den Kollegen nicht übel nehmen. Die Leute bei der Bahn kennen mich eben als ihren Gewerkschafts-Chef und stellen mir im Speisewagen ungefragt einen Tee hin. Sie wissen, was ich gerne trinke.
Als es für jede Wagenklasse am Hauptbahnhof ein Restaurant gab
Wenn Fahrgäste glauben, Sie seien der Bahn-Chef, bekommen Sie sicher reichlich Kritik ab.
Weselsky: Viele sagen: Wenn Sie wüssten, Herr Weselsky, was ich heute beim Zugfahren wieder erlebt habe.
Und was sagen Sie dann?
Weselsky: Dass ich die Zustände nicht ändern kann, weil ich den Bahnbetrieb nicht organisiere. Ich bin Gewerkschafter. Was mir auffällt: Viele Menschen verstehen inzwischen, dass die normalen Bahn-Beschäftigten selbst unter dem Missmanagement leiden.
Dennoch werden viele Bahn-Beschäftigte blöd angeredet, manchmal angepöbelt und bedroht.
Weselsky: Das liegt an der allgemeinen Verrohung der Sitten und der Sprache. Die Verrohung im Hirn führt dazu, dass Menschen viel schneller als früher gewalttätig werden. Unsere Sprache wird nicht nur durch Gendern geknechtet, sondern auch durch schlimme Worte. Wenn ich in eine Verkehrskontrolle komme, was schon mal vorkommt, weil ich ein straffer Autofahrer bin, bleibe ich höflich gegenüber Polizisten. Doch Wertschätzung ist oft Mangelware. Diejenigen, die wie Sanitäter Menschenleben retten, werden auch noch angegriffen. Das ist fürchterlich.
Auch politisch verrohen die Sitten durch den Aufstieg der AfD. Wie sehen Sie das als CDU-Mitglied?
Weselsky: Ich äußere mich eigentlich nicht zu parteipolitischen Fragen. Doch in einer Hinsicht muss ich schon in mich hineinlächeln: Das Thema AfD galt immer nur als ostdeutsches Problem. Mehr sage ich dazu nicht.
Vielleicht sagen Sie doch etwas mehr als Ostdeutscher, der in Dresden geboren ist.
Weselsky: Nach den Wahlerfolgen der AfD in Bayern und Hessen begreifen jetzt viele, dass die Wähler der Partei nicht alles Rechtsextreme sind, sondern ihren Protest gegen die aktuelle Politik kundtun. Die etablierten Parteien müssten die AfD stellen und in Sachdiskussionen entzaubern. Doch das tun sie nicht. Sie verweigern die Arbeit. So können sich die Bürger keine Meinung über die Inhalte der AfD bilden. Nach der Wende hat man die PDS ignoriert, stigmatisiert und nicht eingebunden, was ein Fehler war. Wie kann denn ein Land diesen Fehler zweimal machen?
Wie halten Sie das innerhalb der Lokführer-Gewerkschaft? Laden Sie zu Veranstaltungen mit Parteien auch AfD-Politiker ein?
Weselsky: Ich lade auch Vertreter der AfD ein, was für alle lehrreich ist. Denn man erkennt, dass diese Menschen keine Ahnung von der Eisenbahn haben. Solange die AfD nicht als verfassungsfeindlich eingestuft wird, gehe ich auf verkehrspolitische Sprecher der AfD zu. Politiker machen den Fehler, die AfD durch Ausgrenzung zu überhöhen.
Bleiben Sie CDU-Mitglied?
Weselsky (schnauft): Darauf antworte ich nicht.
Vielleicht doch ein wenig.
Weselsky: Ich habe zuletzt mehrfach über einen Austritt nachgedacht.
Noch sind Sie aber in der CDU.
Weselsky: Noch. Ich denke weiter nach. Friedrich Merz ist jedenfalls nicht der richtige Parteivorsitzende. Er ist mir zu abgehoben. Wo ist die soziale Ader von Merz, wo ist seine Verbindung zur Sozialen Marktwirtschaft?
Aber Sie treten jetzt nicht in die Wagenknecht-Partei, die Linke oder gar die AfD ein?
Weselsky: Nein, nein, das mache ich nicht, auch wenn ich einen Realpolitiker wie den linken thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow schätze. Auch Frau Wagenknecht respektiere ich. Die Frau hat eine Haltung und setzt auf Argumente. Ursprünglich dachte ich, dass ich nie in eine Partei gehe. So habe ich in der DDR widerstanden, der SED beizutreten.
Was schwer war.
Weselsky: Die SED war für mich wie die Kirche im Mittelalter: Sie hat Wasser gepredigt und Wein gesoffen. Dennoch war ich kein Widerstandskämpfer in der DDR, wahrte aber Distanz zum System. Ich habe aber schon zu DDR-Zeiten, manchmal zum Entsetzen meiner Mutter, meine Meinung gesagt. Und weil ich das auch nach der Wiedervereinigung tat, habe ich als Lokomotivführer Verantwortung in der Gewerkschaft übernommen. Für mich war die friedliche Wiedervereinigung ein Glücksfall. Ich war nicht angezündet von der SED. Ich habe schon in der DDR gelernt, Nein zu sagen.
So haben Sie 2007 Nein zu den Lockrufen der Deutschen Bahn gesagt.
Weselsky: Die Bahnvorstände wollten mich bestechen und zum Personalvorstand machen. Damals versuchten sie, mich kaltzustellen. Ich habe mir das Angebot angehört und abgesagt. Ich verrate doch nicht für Geld meine Ideale. GDL-Mitglieder hätten mich angespuckt. Da hätte ich mich in die Südsee verziehen und den ganzen Tag tauchen müssen. Und ich werde auch der Versuchung widerstehen, nach dem Ende meiner Tätigkeit als Gewerkschaftsvorsitzender im nächsten Jahr Politiker zu werden, obwohl ich darüber nachgedacht habe.
Warum werden Sie nicht Politiker? An ihnen könnte man sich doch prima reiben.
Weselsky: Dass ich nicht Politiker werden will, hat einen einfachen Grund: Ich lasse mir nicht von irgendjemandem erklären, was die Parteilinie ist. Ich habe eine Meinung. Und wenn meine Meinung durch Sachargumente nicht geändert wird, bleibt diese Meinung bestehen. Mit so einer Haltung kann ich in keiner Partei Karriere machen.
Sie halten auch in Bahn-Tarifrunden an einer einmal geprägten Meinung fest und ziehen durch, auch wenn lange Streiks notwendig sind. Zeigen Sie nun wenigstens bei Ihrer letzten und am 9. November beginnenden Tarifrunde Gnade mit der Bahn und ohnehin geplagten Bahnfahrern?
Weselsky (lacht): Schreiben Sie, Weselsky zeigt in seiner letzten Tarifrunde besondere Härte. Spaß beiseite: Wir wollen in dieser Tarifrunde vor allem die Absenkung der Wochenarbeitszeit für Schichtarbeiter von 38 auf 35 Stunden durchsetzen. Da dies bisher auf erbitterten Widerstand der Bahn stößt, könnte die Tarifrunde etwas stressiger werden, zumal wir auch noch 555 Euro mehr im Monat und eine Inflationsprämie von 3000 Euro fordern.
Was passiert, wenn der Bahnvorstand bei seiner harten Ablehnungshaltung gegenüber Ihren Forderungen bleibt? Gibt es dann den längsten und härtesten Bahnstreik der vergangenen Jahrzehnte?
Weselsky: Ich glaube nicht, dass diese Tarifrunde ohne Streik auskommt. Denn die Bahn hat alles unternommen, um die Beschäftigten auf die Palme zu bringen. Von unseren Mitgliedern höre ich immer wieder nur eines: Sage uns nicht, dass es mit Streiks losgeht, sondern wann es losgeht. Die Beschäftigten der Bahn haben die Messer schon gewetzt und wollen die Auseinandersetzung. Die Bahnbasis kocht.
Sie gelten als letzter echter Arbeiterführer Deutschlands.
Weselsky: Den Ausdruck habe ich nicht geprägt.
Ein Journalist der Berliner Zeitung schrieb, Sie seien inzwischen sogar eine Kultfigur.
Weselsky: Ich bekomme Autogramm-Anfragen und habe Autogramm-Karten. Nicht nur Gewerkschaftsmitglieder wollen Autogramme von mir.
Doch es gab auch harte Zeiten, als Journalisten in der Tarifrunde die Adresse Ihrer Wohnung und auch Ihre berufliche Telefonnummer während einer Streikphase veröffentlicht haben.
Weselsky: Ich habe dann als Gag mein Büro-Telefon auf den damaligen Bahnchef Rüdiger Grube umgeleitet. Das hat Spaß gemacht. Da kamen die Anrufer an der richtigen Stelle raus. Das hat gesessen.
Das mit Ihrer Wohnung war weniger spaßig.
Weselsky: Das hat mir zugesetzt. Ich war hilflos und wusste nicht, wie ich meiner Frau helfen soll, da ich in Berlin und nicht bei ihr in Sachsen war. Da hat mir der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, geholfen. Die Polizei war schnell vor Ort bei unserer Wohnung. Meine Frau ist für zwei Tage in ein Hotel gegangen. Nichts ist passiert. Und solche Vorfälle gab es auch nicht mehr.
Sind Sie ein Moralist?
Weselsky: Auf keinen Fall. Ich bin ein Mensch, der auf die Kraft von Sachargumenten setzt. Wenn ich eine Meinung auf Basis erarbeiteter Sachargumente äußere, ist sie gefestigt. Und dann nehme ich diese Meinung auch nicht vom Tisch, nur weil jemand vorbeikommt, der mehr zu sagen hat als ich. Das gibt es bei mir nicht. Ich bin ein gerechtigkeitsliebender Mensch mit einer konsequenten Haltung. Ich halte es mit Luther und seinem Ausspruch: Hier stehe ich und kann nicht anders.
Weselsky ist also mehr Luther als Marx.
Weselsky: Definitiv.
Sind Sie Christ?
Weselsky: Nein, ich bin nicht getauft. Ich bin Atheist. Wenn mir einer auf die rechte Wange haut, halte ich nicht die linke hin. Doch ich halte viel von den Zehn Geboten. Meine konservative Haltung fußt auf Werten.
Warum funktioniert das Wertesystem „Bahn“ in Deutschland nicht mehr? Was ist mit dem Management des Unternehmens los? Bahnreisen werden aufgrund permanenter Verspätungen zum nervenaufreibenden Abenteuer.
Weselsky: Was das Management betrifft, wurden seit der Ära des Bahn-Chefs Hartmut Mehdorn gravierende Fehler begangen. Mehdorn forderte vom Management Gehorsam. Wer fachlich als Eisenbahn-Experte intern Entscheidungen des Vorstands kritisierte, flog raus. Widerrede war nicht erwünscht.
War Mehdorn der erste Totengräber der Bahn?
Weselsky: Mit ihm fing der Niedergang der Bahn an. Mehdorn hat alles seinem Ziel, eine schwarze Null zu schreiben und die Bahn an die Börse zu bringen, untergeordnet. Heute behauptet jeder, niemand habe Mehdorn angeschafft, die Bahn an die Börse zu bringen. Das ist Unsinn. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder wollte das so. Der Traum war, wir könnten mit der Bahn Geld verdienen und bräuchten für sie nicht so viel Steuergeld.
Was nicht funktionierte.
Weselsky: Ja, das war eine Illusion. Dabei hatte die Bahn 1994 nach der Privatisierung keine Schulden. Sie wurde entschuldet. Heute hat die Bahn knapp 35 Milliarden Euro neue Schulden und damit in etwa doppelt so viele Schulden wie zu Zeiten, als die Behördenbahn privatisiert wurde. Zugleich gibt es in Deutschland das marodeste Gleisnetz in Europa. Und dies, obwohl wir Milliarden in die Bahn investiert haben. Das ist ein Treppenwitz der Geschichte.
Wer ist für das Desaster verantwortlich?
Weselsky: Der politische Eigentümer, also die Bundesregierungen seit 1994. Sie haben das Missmanagement nicht unterbunden. Schröder hat den Börsengang und damit an das große Geld geglaubt. Mehdorn hat mit allen Mitteln diesen Börsengang vorbereitet und ist gescheitert. Nachdem klar war, dass das Schienennetz nicht an die Börse gebracht werden soll, haben mögliche Investoren das Interesse an der Bahn verloren. Das Netz ist die Melk-Kuh der Bahn. Für den Erhalt des Netzes kann man Steuergelder ziehen. Und das passierte auch reichlich. Hier wurden völlig überhöhte Preise verlangt, aus dem Netzbereich rausgezogen und innerhalb des Bahnkonzerns verteilt.
Aber warum ist das Netz derart marode? Hat die Bahn zu wenig investiert?
Weselsky: Insgesamt wurde in die Bahn nicht zu wenig investiert. Es ist nur zu wenig in den Ausbau und Erhalt der Infrastruktur geflossen. Die Bahn hat das Geld anderweitig reingesteckt und baut etwa in Uruguay mit an einer Eisenbahnlinie. Für das marode Netz der Bahn ist damit nicht nur der Bund als Eigentümer, sondern auch das Bahn-Management selbst schuld, weil es die zur Verfügung gestellten Mittel falsch investiert hat. Zugleich hat die Bahn vom Staat zu wenig Geld bekommen, um einen wirklichen Umschwung hinzubekommen.
Was werfen Sie Bahn-Spitzenmanagern der vergangenen Jahrzehnte noch so alles vor?
Weselsky: Bahn-Führungskräfte haben Millionengehälter eingestrichen. Doch sie haben ein System von Angst und Schrecken installiert. Mehdorn hat alle Führungskräfte zu Ja-Sagern gemacht. Wer fachlich Widerstand geleistet hat, wurde geschasst. Und Mehdorns Nachfolger Grube hat nichts an diesem System geändert. Grube hat nur alles weggelächelt. Für mich war Grube ein Prinz Charming, der unter keinen Umständen irgendwo anecken wollte.
Und macht es der heutige Bahn-Chef Lutz besser?
Weselsky: Herr Lutz ist Teil des Systems, das die Bahn runtergewirtschaftet hat. Lutz ist ein Ziehsohn von Diethelm Sack, der von 1991 bis 2010 Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn und für Finanzen zuständig war. Sack ist der Erfinder des genialen Finanzkreislaufes. Er hat dafür gesorgt, dass Steuergelder in die Infrastruktur, aber auch in den ganzen Konzern fließen, sodass nicht genügend Gelder etwa für das Netz, also Weichen und Schienen, zur Verfügung stehen. Deshalb ist die Bahn heute so marode. Lutz war lange Sacks Stellvertreter. Er setzt dessen Politik fort. Eine andere Sache empört mich noch mehr.
Was empört Sie so?
Weselsky: Die Bahn-Verantwortlichen behaupten jetzt, sie könnten nichts dafür, dass das Gleisnetz so schlecht ist. Gleichzeitig signalisieren sie den Fahrgästen, dass es noch schlimmer wird, weil nun gebaut werde. Und bis es besser werde, dauere es sehr lange, lautet die zweite Bahn-Botschaft. Die Strategie ist durchschaubar: Die Manager schieben den Zeitpunkt der Lösung der Probleme so weit in die Zukunft, bis sie längst nicht mehr in Amt und Würden sind. Die Bahn-Manager geben nur ja keine kurzfristigen Versprechen ab, wo man ihnen die Haare lang ziehen könnte, wenn sie ihre Versprechen nicht einlösen. Politiker ticken genauso.
In privaten Unternehmen wären Manager wie die Bahn-Vorstände nach dem derzeitigen Dauer-Chaos mit zum Teil immensen Verspätungen der Züge längst entlassen worden.
Weselsky: Genau so ist. So saß mir einmal der frühere CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer gegenüber und sagte, die Bundesregierung könne es sich nicht leisten, zwei Bahn-Vorstände rauszuschmeißen.
Was haben Sie Scheuer dann gesagt?
Weselsky: Ich habe ihn fragend angeschaut und nur "Ach" gesagt.
Und Scheuer?
Weselsky: Der entgegnete mir dann: Wir haben niemanden, der Bahnvorstand werden könnte.
Ach!
Weselsky: Ich habe Scheuer dann gesagt: Ich fasse es ja wohl nicht. Es ist unglaublich. Die Bahn-Vorstände können machen, was sie wollen, doch die Politik zieht daraus keine Konsequenzen. Die Bahn-Vorstände versuchen den Eindruck zu erwecken, all die Probleme des Konzerns seien von Gott gegeben. Dabei hatte ich große Hoffnungen auf Scheuer gesetzt.
Was hat die Einführung des Deutschlandtickets gebracht?
Stellt sich der jetzige FDP-Verkehrsminister Volker Wissing wenigstens besser an?
Weselsky: Fehlanzeige! Jetzt werden das Netz und die Bahnhöfe zusammengelegt. Doch in der Übergangsphase von drei Jahren passiert gar nichts. Alle Führungsebenen bleiben, wie sie sind. Wir führen wieder zusammen, was zusammengehört. Mehdorn hat Bahnhof und Gleis auseinandergerissen. Denn unser Tafelsilber, die Bahnhöfe, wurden verscherbelt.
Da ist einiges schiefgelaufen unter Mehdorn.
Weselsky: Nehmen wir nun die Überholgleise: Wir haben viel zu wenige – und wenn, an der falschen Stelle. Nun will die Bahn schrittweise einen Deutschland-Takt einführen. Nach Darstellung des Konzerns sollen Zugverbindungen wie ein Uhrwerk zusammenpassen und die größten deutschen Städte alle 30 Minuten durch regelmäßige Zugverbindungen verbunden werden.
Funktioniert das?
Weselsky: Wir streiten mit der Bahn gerade über die Strecke Berlin–Hannover. Dort will die Bahn auf eine Geschwindigkeit von 300 hochgehen. Doch alle Experten sagen: Das Konzept ist so knapp kalkuliert. Man müsste also in Berlin mit voller Geschwindigkeit losfahren, um – wie angepeilt – eine Stunde später in Hannover zu sein. Doch bei dem Plan gibt es keine Fahrzeitreserven.
Sie werfen also den Bahn-Chefs vor, überehrgeizig zu planen und damit Verspätungen zu provozieren.
Weselsky: Genau, das System ist anfällig. Schon fünf Minuten Verspätung eines Zuges reichen, um den Deutschland-Takt außer Takt zu bringen. Leider setzt sich der Geschwindigkeitswahn der Bahn-Verantwortlichen fort. Doch Fahrgäste wollen etwas ganz anderes: Sie legen Wert darauf, dass sie pünktlich in einen Zug ein- und auch wieder aussteigen können. Fahrgäste kommen auch damit klar, dass die Bahn nur 200 fährt, dafür über Zeitpuffer verfügt und pünktlich ist.
Doch die Unpünktlichkeit nimmt zu. Man reist zu einem Termin am besten am Abend vorher an und übernachtet, was ins Geld geht.
Weselsky: Zuletzt haben nur 58,4 Prozent aller ICE- und IC-Züge pünktlich ihr Ziel erreicht. Wenn man umsteigen muss, bekommt man oft den Anschlusszug nicht. Umsteige-Bahnhöfe wie Mannheim werden zur Falle. So fliegen viele lieber gleich von Stuttgart nach Berlin, weil die Verbindung stabiler ist. Wenn es auf einer modern ausgebauten Strecke zwischen München, Nürnberg und Berlin zu Problemen kommt, müssen die Züge über die alte Stecke, also via Frankfurt, umgeleitet werden. Ich habe dann die Bahn-Verantwortlichen gefragt, was passiert, wenn diese Umleitungsstrecke ausgelastet ist. Ich bekam darauf keine Antwort.
Die Bahn-Kunden verstehen das alles nicht mehr und reagieren zum Teil nur mit Sarkasmus auf die chronisch unpünktliche Bahn-Welt.
Weselsky: Die Bahn-Welt versteht niemand mehr, weil dieser Bahn-Vorstand mit seiner PR-Abteilung alles unternimmt, damit die wahren Hintergründe nicht zum Vorschein kommen. Dabei sind zum Teil seit Jahrzehnten bei der Bahn arbeitende Manager dafür verantwortlich, dass das Umsteigen nicht mehr klappt und Züge unpünktlich sind. Unser Bahn-System ist nicht mehr zuverlässig.
Im Ausland lacht man zum Teil über die Deutsche Bahn.
Weselsky: Doch trotz des Versagens erwecken wir als Deutsche den Eindruck, wir würden die Eisenbahn retten. So stand 2018 Herr Scheuer im Verkehrsministerium im großen Saal auf dem Podium und schwadronierte, jetzt würden Milliarden in das Eisenbahnsystem fließen. Dann sagte Scheuer zu dem in der ersten Reihe sitzenden Schweizer Generalkonsul: Da werden wir Ihnen mal zeigen, wie Eisenbahn geht. Wenn ich der Generalkonsul gewesen wäre, wäre ich aufgestanden und gegangen.
Die Schweiz investiert schließlich viel mehr Geld in die Bahn. Entsprechend gut funktioniert das System.
Weselsky: In der Schweiz fährt die Bahn perfekt. Von kleinen Dörfern aus kommt man mit Nahverkehrszügen pünktlich etwa nach Bern und kann bis nach Mitternacht verlässlich zurückfahren. Das ist ein Traum. Der öffentliche Nahverkehr ist perfekt durchgestylt. Selbst wenn man sich beim Wandern überschätzt, steht ein Postbus in entlegenen Regionen bereit, um einen zurückzubringen.
Eine Bahnfahrt im Rollstuhl: Luca Ram lässt sich nicht vergessen
Die Schweizer könnten uns zeigen, wie Bahnfahren funktioniert.
Weselsky: Absolut. Nehmen wir nur die Bahnstrecke von Berlin nach Köln. Es ist die Hölle, diese Strecke mit dem Zug zu fahren. Nordrhein-Westfalen hat sich zur Bahn-Falle schlechthin entwickelt. Hamm ist zur berüchtigtsten Bahnstadt in Deutschland geworden. Dort werden Züge getrennt und wieder zusammengeführt. Mittlerweile lassen das die Verantwortlichen oft, weil es jedes Mal zu einem Desaster führt.
Die Beschäftigten der Bahn können einem leidtun.
Weselsky: Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die Faxen dicke. Sie träumen nicht einmal mehr davon, dass es besser wird. Sie sehen seit Jahrzehnten, wie der Zustand der Bahn immer schlechter wird.
Was würden Sie machen, wenn Sie wirklich Bahn-Chef wären?
Weselsky: Zunächst würde ich alle Aktivitäten des Konzerns einstellen, die nichts mit der Eisenbahn in Deutschland zu tun haben. Ich würde auch dafür sorgen, dass die für die Infrastruktur bestimmten Steuergelder auch wirklich nur in diesen Bereich fließen und nicht anderweitig versickern. Und ich würde wieder Führungskräfte heranziehen, die anders als heute etwas von der Eisenbahn verstehen, also auch an der Basis Erfahrungen gesammelt haben. Früher hatten Führungskräfte noch eine Vergangenheit als Rangierleiter oder Lokführer. Diese Führungskräfte wussten, worüber sie reden.
Sie monieren auch, Bahnvorstände würden kaum Zug fahren und sich mit dem Auto kutschieren lassen.
Weselsky: Wenn ich Bahn-Chef wäre, würde ich als Erstes die Firmenwagen abschaffen. Denn die Bahn-Manager wissen gar nicht, was draußen in den Zügen los ist. Unter Bahn-Führungskräften tobt ein Wettstreit, wer den besseren Dienstwagen fahren darf.
Doch etwa Bahn-Personalvorstand Martin Seiler sagt doch, dass er Zug fahre.
Weselsky: Als er sich damit brüstete, habe ich ihm gesagt: Herr Seiler, das ist wie bei mir, als ich früher in der DDR in der Armee war: Wenn der General kam, wurde der Rasen grün angestrichen, die Granitkanten wurden noch mal weiß geschmiert, damit alles aussah wie aus dem Ei gepeilt. Und der General schritt nur die Wege ab, die präpariert waren. Dann habe ich Herrn Seiler klargemacht: Wenn Sie Zug fahren, sitzt vorn kein normaler Lokführer drin, sondern mindestens ein Teamleiter. Und die gesamte Strecke weiß, dass ein Bahn-Vorstand im Zug sitzt. Zuvor wird der Zug überprüft, ob die Technik wirklich funktioniert. Wenn der Vorstand Zug fährt, funktioniert die Kaffeemaschine und das Bier ist kalt. Bahn-Vorstände fahren dann mit dem Zug durch eine Geisterwelt. Eisenbahner sprechen von Sonderzügen nach Pankow.
Wenn man Ihren Ausführungen folgt, müssten die Bahn-Vorstände ausgetauscht werden.
Weselsky: Natürlich müssten die Bahn-Vorstände ausgetauscht werden. Doch es passiert nichts. Wenn Journalisten kritisch berichten und etwa Bahn-Chef Lutz mit guten Argumenten attackieren, was passiert dann?
Ja, was passiert dann?
Weselsky: Nichts. Die Bahn-Vorstände können weiter machen, was sie wollen. So haben sie für sich die Boni-Systeme derart umgestellt, dass sie höhere Festgehälter bekommen, die also nicht an den Erfolg gekoppelt sind. Auch wenn sie wie jetzt eine schlechte Leistung abliefern, sind ihre hohen Gehälter gesichert. Da könnte man verrückt werden.
Claus Weselsky, 64, stammt aus Dresden. Seine Familie bewirtschaftete einen Bauernhof. Später arbeiteten seine Eltern als Straßenbahnfahrer. Weselsky absolvierte nach der Polytechnischen Oberschule eine Ausbildung zum Schienenfahrzeugschlosser und Lokomotivführer bei der damaligen Deutschen Reichsbahn. Weil er kein SED-Mitglied war, blieb er länger als andere Rangierlokführer. Erst ab 1982 dufte Weselsky Güterzüge und später auch Personen- und Schnellzüge fahren. Nach der Wende engagierte er sich in der wiedergegründeten Gewerkschaft der Lokomotivführer, kurz GDL. 2006 stieg der Gewerkschafter zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der GDL und 2008 zum Chef der Organisation auf.