Frau Lambrecht, die Corona-Pandemie hat zu vielen Einschränkungen von Freiheitsrechten geführt. Jetzt steigen die Zahlen wieder. Brauchen wir einen neuen Lockdown, muss die Bundesnotbremse wieder greifen?
Christine Lambrecht: Die Inzidenzzahlen steigen zwar, aber wir befinden uns in einer ganz anderen Situation als vor ein paar Monaten, als Impfstoff noch rar war. Wir haben mittlerweile eine Impfquote von mehr als 60 Prozent, dazu kommen die Genesenen. Deswegen können wir jetzt nicht mehr nur auf die Inzidenzwerte schauen. Neben der Inzidenz sind jetzt auch die Hospitalisierungsrate und die Impfquote ausschlaggebend. Ich bin überzeugt, dass wir keinen Lockdown mehr brauchen und ihn auch nicht mehr bekommen werden. Aber all denen gegenüber, die sich nicht impfen lassen können, müssen wir uns jetzt verantwortlich verhalten: Kinder unter zwölf Jahren und Menschen mit bestimmten Erkrankungen. Da ist das Gebot der Stunde Impfen, Impfen, Impfen.
Viele Arbeitgeber wissen gerade gar nicht, wie viele ihrer Mitarbeiter überhaupt geimpft sind, das erschwert es, etwa Schutzkonzepte zu erstellen. Braucht es die Pflicht, dass Arbeitnehmer dem Chef ihren Impfstatus mitteilen?
Lambrecht: Die Abfrage über eine Impfung betrifft sensible persönliche Daten, das reicht weit hinein in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Deshalb gibt es diese Abfragen bislang nur, wo sie besonders wichtig sind, etwa in Krankenhäusern oder Arztpraxen. Gegen ein generelles Recht auf Auskunft für den Arbeitgeber habe ich Bedenken verfassungsrechtlicher und datenschutzrechtlicher Art. Ausnahmen kann ich mir nur in bestimmten Bereichen vorstellen, in denen es für den Infektionsschutz unbedingt erforderlich ist. Als Bundesfamilienministerin ist mir dabei der Schutz derjenigen besonders wichtig, die sich selbst nicht durch eine Impfung schützen können: die Kinder unter 12 Jahren. Umso mehr kommt es darauf an, dass die Erwachsenen, die sehr direkten Kontakt mit Kindern haben, geimpft sind. Wir müssen alles dafür tun, um den Präsenzunterricht aufrecht zu erhalten. Kinder und Familien haben in der Pandemie genug gelitten.
Hamburg erlaubt Geschäftsleuten und privaten Veranstaltern im Rahmen der 2G-Regel, nur noch Geimpften oder Genesenen Zutritt zu gewähren, nicht aber negativ Getesteten. Ist das der richtige Weg für die nächsten Monate im ganzen Bundesgebiet?
Lambrecht: In dieser Debatte geht vieles durcheinander. Was in Hamburg praktiziert wird, ist nichts anderes, als dass private Betreiber von Clubs oder Restaurants im Rahmen der Vertragsfreiheit entscheiden, wie sie ihre Angebote gestalten. Wenn sie einen besonders hohen Schutz gewährleisten möchten und sagen, dass nur Geimpfte und Genesene Zugang erhalten sollen, ist das durch die Vertragsfreiheit gedeckt. Im Rahmen der geltenden Bestimmungen des Infektionsschutzes kann das auch überall sonst in Deutschland angeboten werden. Das Besondere an dem Hamburger Modell ist, dass die Vorgaben des Infektionsschutzes für 2G-Angebote gelockert sind, weil dort ein deutlich reduziertes Risiko von Ansteckungen besteht. Das gilt etwa für die Einschränkungen bei der Personenzahl.
Mit welchem Corona-Szenario rechnen Sie für Herbst und Winter. Und welche Maßnahmen könnten helfen, die stagnierende Impfbereitschaft wieder zu erhöhen?
Lambrecht: Eine hohe Impfbereitschaft erreicht man nicht durch staatliche Maßnahmen, sondern durch Überzeugung. Und hier müssen wir noch mal deutlich machen, dass die Impfung sicher ist und sehr zuverlässig vor einer schweren Erkrankung schützt. Diese Gefahr ist für Ungeimpfte sehr real. Wir müssen außerdem noch flexibler werden mit den Impfangeboten.
Halten Sie eine Situation für denkbar, in der doch eine Impfpflicht nötig ist?
Lambrecht: Das Wort der Bundesregierung gilt: Eine Impfpflicht wird es nicht geben.
Sind Kinder die großen Verlierer der Pandemie? Was lernen wir daraus für die Zukunft?
Lambrecht: Die Zeit im Lockdown war eine extreme Belastung für Kinder. Es fehlte der Austausch, die Freundschaften, das gemeinsame Spielen, der Sport - so vieles, was die Kindheit und Jugend ausmacht. Nun ist es unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Kinder und ihre Eltern jetzt auch mal aufatmen können. Darum haben wir ein Corona-Aufholpaket geschnürt: zwei Milliarden Euro für Angebote um Lernrückstände aufzuholen, für Schulsozialarbeit, für Freizeitangebote, Familienerholung, Investitionen in Sprachkitas, Vereinsangebote. Das ist unglaublich wichtig, insbesondere in den kommenden zwei Jahren.
Corona hat auch die Diskussion über familienfreundlichere Arbeitsbedingungen angefacht, etwa über Homeoffice oder neue Flexibilität in der Kinderbetreuung. Was muss dauerhaft bleiben, wo sehen Sie zusätzlichen Handlungsbedarf?
Lambrecht: Wir haben gesehen, dass Firmen, die sich schon vor der Pandemie familienfreundlich aufgestellt haben, viel besser durch die vergangenen Monate gekommen sind als andere. Die mussten sich nicht erst neu mit Homeoffice und flexiblen Arbeitszeiten beschäftigen. Das wird auch ein immer stärkerer Faktor werden, wenn es darum geht, Fachkräfte zu gewinnen und zu halten. Dass familienfreundliche Arbeitsbedingungen eine Chance sind und keine Belastung, ist jetzt hoffentlich vielen Unternehmen bewusst geworden. Die Menschen wollen heute Familie und Beruf partnerschaftlich unter einen Hut bringen. Das erleichtern wir durch unsere Familienpolitik an vielen Stellen.
Was kann, was muss der Staat tun?
Lambrecht: Wir sind gefordert, die passenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Gerade erst haben wir das Elterngeld flexibler gemacht, mit mehr Teilzeitmöglichkeiten und weniger Bürokratie. Ein Meilenstein für gute Kinderbetreuung ist das Gute-Kita-Gesetz, das wir beschlossen haben. Jetzt ist es wichtig, dass wir auch noch das Recht auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter verankern. Darüber verhandelt am Montag der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat. Ganz, ganz viele Eltern warten darauf. Wenn ein Kind in die Schule kommt, ist plötzlich die Betreuung am Nachmittag nicht mehr vorhanden, die es vorher in der Kita gab. Das wollen wir ändern - und damit allen Kindern, unabhängig von ihrer Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern, gute Bildungschancen ermöglichen. Da sollten wir unbedingt zu einer Einigung kommen. Als Bund sind wir den Ländern bereits bei den Investitionen und auch bei der Beteiligung an den Betriebskosten weit entgegengekommen. Jetzt brauchen wir Einigungs- und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten, um eine gute und faire Lösung zwischen Bund und Ländern zu finden.
Wie enttäuscht sind Sie, dass ihre Forderung, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, gescheitert ist?
Lambrecht: Es ist sehr traurig, dass das, über 30 Jahre nach der Kinderrechtskonvention, nicht geklappt hat, dabei waren wir so kurz davor. Am Ende hat bei der Opposition und bei der CDU/CSU die letzte Bereitschaft gefehlt. Aber es ist wichtig, im Grundgesetz abzubilden, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und auch besondere, eigene Rechte haben. Das wird in der kommenden Legislaturperiode nicht einfacher werden, denn es braucht ja eine Zweidrittelmehrheit in Bundesrat und Bundestag.
Auch andere Vorhaben sind nicht umgesetzt worden, der Begriff Rasse wurde nicht aus dem Grundgesetz entfernt, wie Sie es gefordert haben, ebenso ist das Demokratieförderungsgesetz gescheitert…
Lambrecht: Wir hatten ja einen Kabinettsausschuss, der festgestellt hat wie problematisch der Begriff Rasse ist. Deswegen wäre es so wichtig gewesen, eine Formulierung im Grundgesetz zu haben, die ihn ersetzt, aber gleichzeitig den Schutz für die Betroffenen nicht mindert. Wir haben eine gute Lösung gefunden, aber wir konnten unseren Gesetzentwurf nicht im Bundestag zur Abstimmung bringen, weil ihn die Unionsfraktion blockiert hat. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Ebenso wenig nachvollziehbar ist, dass wir die wichtigen Initiativen, die sich gegen Rechts einsetzen, nicht dauerhaft fördern können. Auch hier hat die Unionsfraktion blockiert. Wer den Kampf gegen die Demokratiefeinde ernst nimmt, muss auch die Menschen, die diesen Kampf Tag für Tag vor Ort führen, unterstützen. Da stellt sich mir wirklich die Frage, ob manche ihre Bekenntnisse gegen Antisemitismus und Rassismus wirklich ernst meinen oder ob es sich nur um Sonntagsreden handelt.
Wir haben viel über Fairness gesprochen. Läuft dieser Wahlkampf fair? Welche Fouls haben Sie gesehen?
Lambrecht: Wir als SPD führen einen fairen Wahlkampf. Uns geht es um Inhalte und die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Wer trägt in der Gesellschaft welche Lasten? Wo kommt das Geld her für unsere Zukunftsaufgaben, für den Klimaschutz, für Bildung und Forschung? Damit sollten wir uns in den verbleibenden Wochen beschäftigen.
Die Union probiert es gerade mit einer Rote-Socken-Kampagne…
Lambrecht: Wir haben als SPD klar gesagt, dass es bestimmte Voraussetzungen gibt, unter denen wir eine Koalition eingehen können oder auch nicht. Die Menschen können sich darauf verlassen, dass die SPD weder die innere, noch die äußere, noch die soziale Sicherheit aufs Spiel setzen wird. Wer SPD wählt, bekommt Olaf Scholz als Kanzler. Er wird eine Regierung bekommen, die sozialdemokratische Politik macht mit stabilen Renten, einem Mindestlohn von 12 Euro, 400.000 neuen Wohnungen. Und er bekommt eine Regierung, die am transatlantischen Bündnis festhält und fest verankert ist in der EU, in der NATO, in den Vereinten Nationen. Deutschland wird mit einer SPD-Regierung ganz sicher keine Abenteuer eingehen.
Sie kandidieren nach 23 Jahren nicht mehr für den Bundestag. Was waren die Sternstunden?
Lambrecht: Ich komme aus der Anti-Atomkraftbewegung, als ich dann 2001 mit dabei war, als der Atomausstieg beschlossen wurde, war das schon ein besonderer Moment. Und es gibt viele weitere wichtige Vorhaben, die wir als SPD in der Regierung gegen alle Widerstände vorangetrieben und zum Erfolg gebracht haben. Dass in der Familienpolitik so viele neue Möglichkeiten geschaffen wurden, dass in den Vorständen und Aufsichtsräten Frauenquoten eingeführt wurden, dass wir als eines der letzten Länder Europas einen Mindestlohn eingeführt haben und zuletzt auch die Grundrente, dass wir durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz klimafreundlicher geworden sind, da hat die SPD schon viel bewegt in den vergangenen zwei Jahrzehnten.
Und was waren die größten Enttäuschungen dieser Zeit?
Lambrecht: Ich war es ja gewohnt, dass hart gerungen wird im Bundestag. Aber die Auseinandersetzungen waren nie persönlich. Das hat sich verändert, seit die AfD im Bundestag ist: Diese persönlichen Angriffe und dieses Verächtlichmachen ganzer Menschengruppen hat mich sehr belastet. Mein Kampf gegen Rechts ist dadurch aber noch engagierter geworden, weil ich gesehen habe, was passiert, wenn der verlängerte Arm dieses Hasses im Parlament sitzt.
Ein Bundestagsmandat ist ja nicht Voraussetzung für ein Ministeramt. Würden Sie gern weitermachen?
Lambrecht: Ich brenne für Politik, ich bin 56 Jahre alt und es gibt noch richtig viel zu tun in diesem Land. Für mich zählt jetzt erst einmal, dass die SPD bei der Wahl am 26. September so stark wie möglich wird. Danach sehen wir weiter.