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Interview: Kühnert: "Lob von Seehofer zu bekommen, hat doppelten Boden"

Interview

Kühnert: "Lob von Seehofer zu bekommen, hat doppelten Boden"

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    Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, war zu Gast in Günzburg.
    Kevin Kühnert, Bundesvorsitzender der Jusos, war zu Gast in Günzburg. Foto: Michael Kappeler, dpa (Archiv))

    Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier sagt angesichts der jüngsten Kapriolen um den Noch-Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, die Bevölkerung habe den Eindruck, dass die Große Koalition die meiste Kraft dafür aufbringe, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Sehen Sie das auch so?

    Kevin Kühnert: Es ist schwer, nach dem halben Jahr zu einem anderen Eindruck zu kommen. Es ist nicht so, dass gar keine Sacharbeit stattfindet, aber sie ist in der Öffentlichkeit nicht wirklich präsent. Die Wahrnehmung der Koalition ist geprägt durch diesen riesigen Asyl- und Migrationskrach vor der Sommerpause und jetzt von der Causa Maaßen. Es steht alles sehr im Schatten der bayerischen Landtagswahl, was vor allem mit Horst Seehofer und seinem sehr erratischen Auftreten zu tun hat.

    Was kann diese Dauerkoalitionsauseinandersetzung bei den Menschen auslösen?

    Kühnert: Natürlich entsteht bei vielen Menschen das Gefühl, dass es um Themen, die sie im Alltag bewegen – Themen wie bezahlbarer Wohnraum, bessere Bezahlung der Arbeit, sichere Renten – nur noch nachrangig geht. Aus der Berliner Perspektive kann ich sehr wohl sagen: da geht’s schon auch noch drum. Aber Politik hat die Aufgabe, nicht nur Gesetze zu machen und vorzubereiten, sondern in einer Art und Weise darüber zu sprechen, in der Menschen auch was davon mitkriegen. Eine Hälfte des politischen Geschäfts ist Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsschaffung für politische Probleme und die entsprechenden Lösungen. Dieser Teil ist momentan sehr unterbelichtet.

    Bedeutet das, Politik wird dann intransparent, weil sie nicht ausreichend vermittelt wird?

    Kühnert: Diese Regierung arbeitet zum Teil gegen ihre eigenen Interessen. Sie muss doch selbst daran interessiert sein, dass man mitbekommt, was auf den Weg gebracht wird. Vor wenigen Tagen hat das Kabinett das Gute-Kita-Gesetz beschlossen. Da sind 5,5 Milliarden Euro drin zur Verbesserung der Kita-Qualität und zur Senkung der Gebühren. Das wird sehr vielen Leuten helfen. Doch zum übergroßen Teil werden sie es gar nicht mitbekommen haben. Dies hat auch mit dem Gezänk um Maaßen zu tun.

    SPD-Chefin Andrea Nahles ist parteiintern gehörig unter Druck geraten, nachdem sie sich mit Merkel und Seehofer darauf verständigt hatte, dass Maaßen als Staatssekretär ins Bundesinnenministerium geholt wird. Ist die Kritik zurecht erfolgt?

    Nahles nickte die Beförderung von Maaßen zunächst ab.
    Nahles nickte die Beförderung von Maaßen zunächst ab. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Kühnert: Die Kritik an der Entscheidung vom Dienstag ist zurecht erfolgt. Und was Andrea Nahles im Gegensatz zu den beiden anderen Beteiligten geschafft hat, ist etwas Seltenes in der Politik – nämlich einen Fehler zu erkennen, einzugestehen und zu korrigieren. Das hat sie am Freitag gemacht mit der Aufforderung an Merkel und Seehofer, das Thema nochmals neu zu verhandeln, weil offensichtlich die Rückmeldung aus der Bevölkerung so verheerend waren, dass man das nicht durchziehen kann. Da hat sie, wenn auch mit ein paar Tagen Verzug, zu einer goldrichtigen Einschätzung gefunden.

    Jetzt soll der Fall ja noch einmal neu bewertet werden. Muss man da nicht den Eindruck gewinnen, die drei Parteivorsitzenden, die allesamt am Regierungstisch in Berlin sitzen, agieren nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“?

    Kühnert: Irren ist menschlich. Und Politik wird auch von Menschen gemacht. Ich würde Politiker nie dafür kritisieren, dass sie auch mal Fehler machen. Ich würde sie immer dafür kritisieren, wenn sie aus Prinzip nicht bereit sind, Fehler einzugestehen – beispielsweise aus verletzter Eitelkeit heraus. Die Frage im Fall Maaßen wird sein, wie der neue Kompromiss aussieht. Ich würde mir ja persönlich wünschen, dass Herr Maaßen nach den Diskussionen der letzten Wochen zu der Einschätzung kommt, dass es vielleicht an ihm selbst wäre, von seinem Amt zurückzutreten. Das wäre die sauberste aller Lösungen.

    Ist das jetzt nicht auch für Herrn Maaßen zu einem unwürdigen Schauspiel geworden, wie die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD um seine Zukunft schachern?

    Die Wogen in der "Causa Maaßen" schlagen immer noch hoch.
    Die Wogen in der "Causa Maaßen" schlagen immer noch hoch. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Kühnert: Nein. Und man sollte, das, was da passiert ist, auch nicht als Petitesse abtun. In einer Zeit, in der wir es auch mit einem beachtlichen Rechtsruck in der Gesellschaft zu tun haben, hat sich der Chef einer hohen Behörde – des Verfassungsschutzes – politisch verselbstständigt und hat angefangen, politisch zu agitieren. Anders kann man das nicht bezeichnen. Er hat einen Apparat von 3000 Leuten, dessen oberste Aufgabe es ist, Informationen zu beschaffen und auszuwerten. Und zu einem Thema, das die ganze Gesellschaft bewegt – den Vorgängen in Chemnitz–, nutzt er diesen Apparat nicht, sondern bezieht sich rein aus einem Bauchgefühl heraus auf ein Video, was im Netz kursiert, und fängt an, darüber Einschätzungen abzugeben. Es ist nicht das Problem, dass er damit der Kanzlerin widersprochen hat. Aber er hat den Dienstweg nicht eingehalten. Als Geheimdienstchef ist es seine Aufgabe, wenn er Bedenken hat und die belegen kann, sie dem Innenminister oder der Kanzlerin mitzuteilen und zu empfehlen, was dann zu tun ist. Damit hat Maaßen gebrochen. Dann muss man ihm auch unterstellen, dass er mit einer politischen Agenda unterwegs ist – und das ziemt sich nicht in seiner Position.

    In Gesprächen mit Bundestagsabgeordneten der Regierungskoalition ist die Frustration darüber herauszuhören, wie unendlich schwierig das Regierungsgeschäft ist, weil sich die Akteure der Großen Koalition kaum über den Weg trauen. Teilen Sie diese Ansicht?

    Kühnert: Das ist ja ein Stück weit die These, die die Jusos auch schon Anfang des Jahres vorgetragen haben. Wenn zwei Parteien mit relevanten Unterschieden in ihren Programmen von den vergangenen zwölf Jahren acht miteinander regiert haben und jetzt wieder zusammen regieren, dann ist davon auszugehen, dass nicht mehr so fürchterlich viele gemeinsame politische Ziele vorhanden sind. Das heißt: die Konsensfindung wird immer schwieriger in der Zusammenarbeit zwischen der SPD und der Union, weil die Anzahl an Projekten, auf die man sich einigen konnte, sehr überschaubar ist. Vor allem sind wir in einer Zeit, in der permanent neue politischen Entwicklungen stattfinden, die im Koalitionsvertrag noch gar nicht abgebildet waren. Wir sind also in einem ständigen Koalitionsvertragsaushandlungsprozess. Das macht es alles andere als einfach.

    Dann fühlen Sie sich nach einem halben Jahr Große Koalition bestätigt, dass es falsch war als SPD, sich an der Regierung zu beteiligen?

    Kühnert: Das wird, glaube ich, eher die Zeit zeigen. Mir ging es auch in der ganzen Maaßen-Diskussion jetzt nicht darum, die NoGroKo-Kampagne der Jusos bei nächstbester Gelegenheit nochmal aufzugreifen. Das wurde demokratisch entschieden und das akzeptiere ich auch. An meinen Vorbehalten ändert sich grundsätzlich natürlich nichts. Ich desavouiere die Arbeit der Koalition aber deshalb nicht, das hielte ich für einen ziemlich unangemessenen Akt. Offensichtliche Probleme darf man deswegen nicht ausblenden. Dass Union und SPD nicht sonderlich gut zusammenarbeiten, das sieht, glaube ich, jeder.

    Als Sie damals Ihre NoGroKo-Kampagne ins Leben gerufen hatten, haben Sie damit nicht auch indirekt dem Bundespräsidenten widersprochen? Der hat ja die SPD nach den geplatzten Jamaika-Verhandlungen ermahnt, dass sie die Staats- über der Parteiräson stellen muss.

    Kühnert: Die Verweigerung gegenüber einer Großen Koalition ist, wenn man so will, auch eine Art Staatsräson. Nämlich dann, wenn man, wie in meinem Fall, zu der Einschätzung kommt,  dass dieses Regierungsbündnis auf Dauer angelegt der demokratischen Kultur im Land schadet. In den letzten Jahren gibt es eine große Unzufriedenheit bei vielen Menschen darüber, dass für die Gesellschaft wichtige Debatten nicht mehr zwischen den demokratischen Blöcken links und rechts der Mitte diskutiert werden. Denn die beiden großen Tanker, Union und SPD, die diese Debatte anführen müssten, sind in ihrer Koalition zur Zusammenarbeit gezwungen. Somit bleibt der Meinungsstreit der Öffentlichkeit viel zu häufig verborgen. Und dann fangen Leute an, sich auf die Suche zu machen nach Alternativen im wahrsten Sinne des Wortes. Viele haben ein diffuses Bedürfnis nach demokratischem Meinungsstreit. Und nach Parteien, die von der gängigen Linie der letzten Jahre auch mal abweichen. Diese Parteien sucht man außerhalb des Regierungslagers. Das führt dazu, dass unser Politikbetrieb hektischer und nervöser ist, als er eigentlich sein müsste.

    Wem nützt das derzeitige politische Schauspiel in Berlin?

    Kühnert: Das nützt am Ende des Tages niemandem. Das mag die eine oder andere Partei bei Umfragen mit einigen Prozentpunkten nach oben spülen. Aber die Vorgänge der vergangenen Tage sind vor allem dazu geeignet, das Ansehen von parlamentarischer Demokratie insgesamt zu beschädigen. Davon kann sich keine Partei ausnehmen. Es gibt tief sitzende Vorurteile, oftmals auch zu Unrecht, gegenüber Politik. Etwa, dass es in Berlin dafür eigene Spielregeln gibt. Und wenn dann Leute sehen, dass es zumindest eine Überlegung wert ist, jemanden, über den ein negatives öffentliches Urteil gesprochen worden ist, am Ende zu befördern, dann fragen sich die Menschen, ob der Politikbetrieb in Berlin noch alle Tassen im Schrank hat.

    Und all das geschieht in der heißen Phase des Wahlkampfes in Bayern. Welche Auswirkungen hat das hier auf die SPD im Freistaat?

    Kühnert: Keine Landtagswahl ist wirklich unabhängig von den bundespolitischen Entwicklungen. Was man machen kann – und das macht die SPD-Spitzenkandidatin Natascha Kohnen ganz gut – ist ein Stück weit auch einen Gegenpol zum Planeten Berlin zu markieren und deutlich zu machen, was die Leute daran stört. Mit diesem starken Herausstellen von Anstand und Haltung und auch mit dem politischen Stil der Geradlinigkeit, den viele gerade in der Bundesregierung vermissen, kann man ganz gut zeigen, dass Politik auch anders gemacht werden kann.

    Ist die bayerische SPD geradliniger als die Bundes-SPD?

    Kühnert: Ja. Das hat man ganz gut gesehen jetzt – als die bayerische SPD nach dem Maaßen-Kompromiss Druck gemacht hat, weil sie damit nicht einverstanden war. Oder im Sommer, als die Landtagfraktion der Bayern-SPD ihren Europa-Preis an Claus-Peter Reisch, den Kapitän des Seenotrettungsschiffes Lifeline verliehen hat. So etwas macht man ja nicht in der aufgeheizten Atmosphäre, die wir haben, weil man glaubt, dass man dafür von allen Seiten Applaus bekommt. Es geschieht aus einer Haltung heraus, die man schlicht und ergreifend für richtig hält. Und das finde ich ein starkes Zeichen.

    Trotz der von Ihnen attestierten Geradlinigkeit bayerischer Genossen – Sie sind hier in Bayern auf Wahlkampftour und damit in der politischen Diaspora. In aktuellen Umfragen kommt die SPD auf elf Prozent. Mit einer Volkspartei hat das nichts mehr zu tun – oder?

    Juso-Bundesvorsitzender Kevin Kühnert während des Redaktionsgesprächs.
    Juso-Bundesvorsitzender Kevin Kühnert während des Redaktionsgesprächs. Foto: Till Hofmann

    Kühnert: Den Faktor Volkspartei macht immer noch ein bisschen mehr aus als nur die Umfragewerte. Aber selbstverständlich ist niemand mit elf Prozent zufrieden. Der Anspruch ist natürlich ein anderer. Ich bin ja jetzt schon ein paar Tage in Bayern unterwegs. Was halt auffällt, ist: Mir begegnen überhaupt keine Leute, die mir sagen: das Wahlprogramm der Bayern-SPD ist blöd oder Natascha Kohnen ist unfähig und deswegen wähle ich die nicht. Ich werde viel auf Bundespolitik und viel auf Vertrauensverlust angesprochen. Mir wird gesagt: Mein Vertrauen in die SPD hat arg gelitten in den letzten Jahren und ich überlege diesmal, etwas anderes zu wählen. Das ist ein Muster, das relativ häufig auftaucht.

    Heißt das dann, die SPD kann sich in Bayern so viel abrackern, wie sie will, aber es wird nichts bringen?

    Kühnert: Wenn wir nicht glauben würden, dass man daran etwas ändern kann, würden wir nicht so viel von unserer Freizeit da reingeben, für die SPD Wahlkampf zu machen. Die verbleibenden Wochen sollte man dafür nutzen, den Leuten klarzumachen: wer sich nicht mehr angesprochen fühlt von der CSU insbesondere wegen des politischen Stils, der von Söder, Seehofer und Co. repräsentiert wird, der sollte sich nicht nach der nächstbesten Alternative umschauen, sondern nach Leuten, die eine andere Haltung anbieten. Natascha Kohnen nimmt diese andere Haltung ein. Ich bin in der glücklichen Position als Juso-Vorsitzender nicht verpflichtet zu sein, für die SPD durch die Gegend zu fahren und Wahlkämpfe zu machen. Ich fahre dorthin, wo ich überzeugt davon bin, dass ich die richtigen Menschen in meiner Partei unterstütze. Das würde ich nicht überall zwingend machen. Hier mache ich es sehr gerne.

    Aber wenn die SPD am 14. Oktober Pech hat, dann wird sie nach der CSU, nach den Grünen, nach der AfD und nach den Freien Wählern die fünftstärkste Kraft im Landtag. Ist das nicht eine Katastrophen-Perspektive?

    Kühnert: Diese Untergangsszenarien, die bei der SPD sowieso unheimlich gerne im Umlauf sind, helfen nicht weiter. Sie verstellen nur den Blick darauf, worum es jetzt geht. Selten hat es eine so spannende Landtagswahl in Bayern gegeben. Deshalb ist es lohnend, sich darüber Gedanken zu machen. Auch aus strategischen Gründen und der Überlegung, wen ich mit meiner Stimme eigentlich stärke. Es ist allen klar, dass die CSU keine absolute Mehrheit holt.

    Welche Fehler macht die SPD in Bayern, dass sie so schlecht dasteht?

    Kühnert: Auch wenn das manche vielleicht komisch finden mögen vor dem Hintergrund der Umfragewerte: Ich sehe das mit der SPD in Bayern durchaus positiv, wie es hier funktioniert – mit einer unkonventionellen Spitzenkandidatin und einer sehr radikal auf Inhalte fokussierten Programmlichkeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Bayern-SPD sich in den letzten Monaten an den ganzen Metaebenen-Diskussionen, über die wir vorher gesprochen haben und die auch das Vertrauen in Politik unterminieren, großartig beteiligt hätte. Im Gegenteil: Es wurde sehr stark darauf hingewiesen, dass es hier um Wohnraum, um ländliche Räume, um Bildungspolitik geht. Und das ist eigentlich das Vorbildhafteste, was man in Wahlkämpfen tun sollte: über sachpolitische Fragen zu diskutieren.

    Könnte es sein, dass die Spitzenkandidaten der SPD in Bayern – ob in der Vergangenheit Renate Schmidt, Franz Maget, Christian Ude oder jetzt Natascha Kohnen – einen vergeblichen Kampf gegen Windmühlen führen wie dereinst Don Quichotte?

    Kühnert: Aber das ehrt doch Natascha Kohnen umso mehr. Wenn ich unterstelle: Politikerinnen und Politiker treten nur an, wenn sie möglichst sichere Siegeschancen haben und wenn sie wissen, dass die Karriere danach weitergeht, dann widerspricht dieser Logik ja, dass eine für Politikverhältnisse ziemlich junge Frau in einer Situation, in der die Bayern-SPD nicht gut dastand, Verantwortung übernimmt und auch in die Spitzenkandidatur geht in Unkenntnis darüber, ob sie dafür am Ende belohnt wird oder nicht. Sie hat einen nicht optimal aufgestellten Landesverband von ein paar Jungs überlassen bekommen. Die haben ihr die Verantwortung vor die Füße geschmissen. Und die hat sie übernommen und macht das jetzt aus einer politischen Überzeugung heraus.

    Meinen Sie mit den „Jungs“ beispielsweise Florian Pronold, den Vorgänger der Landesvorsitzenden Kohnen?

    Kühnert: Es wird ja jetzt keiner behaupten, dass sie den Laden in vollem Saft übernommen hat. Das würde auch Florian Pronold wahrscheinlich nicht behaupten. Wie das oft ist: Immer dann, wenn es nicht mehr so gut läuft, dürfen die Frauen auch mal übernehmen. Kohnen hat aus der Not eine Tugend gemacht, sie läuft nicht depressiv herum, sondern hat unheimlich Lust darauf, einen inhaltlichen Wahlkampf zu führen.

    Und woher rührt nach Ihrer Einschätzung die Motivation?

    Kühnert: Wer als Sozi in Bayern lebt und über Jahre hinweg sich die Politik der Staatsregierung live und aus der Nähe angucken muss – auch dieses bräsige und selbstgefällige Verhalten, was die mitunter an den Tag legen –, der entwickelt einen hohen Grad an Motivation, daran politisch etwas zu ändern. Gerade wenn es in einem so reichen Bundesland, was Bayern zweifelsohne ist, solche Ungerechtigkeiten gibt, dass beispielsweise 7000 angestellte Lehrer im Sommer für sechs Wochen vor die Tür gesetzt werden, muss man sich vor diesem Hintergrund politisch engagieren.

    Welche Auswirkungen werden die Landtagswahlen zunächst in Bayern und dann in Hessen auf Berlin haben?

    Kühnert: Erhebliche. Das merkt man ja jetzt schon an dieser knisternden Spannung. In Berlin gucken viele darauf, was das innerhalb der CSU auslösen wird. Die meisten würden viel darauf wetten, dass Horst Seehofer danach nicht mehr im Amt sein wird.

    Und Sie?

    Kühnert: Ich würde mit darauf wetten. Da Seehofer das aber vermutlich auch schon seit einigen Monaten antizipieren kann, habe ich den Eindruck, dass er viel Energie darauf verschwendet, sich Gedanken zu machen, wenn er noch mit in diesen Strudel reißen kann. Da sind wohl noch ein paar unbeglichene Rechnungen. All das trägt dazu bei, dass wir diese Unruhe in der Politik in Berlin im Moment haben – weil Leute nicht nur sachpolitisch unterwegs sind, sondern auch aus einem innerparteilichen Kalkül heraus Politik machen. Es ist ja kein Zufall, dass Horst Seehofer die ganze Zeit betont, bei welchen tollen Werten er das Ministerpräsidentenamt übergeben hat.

    Seehofer hat Söder aber sehr auffällig gelobt in jüngerer Vergangenheit – zuletzt auf dem Parteitag der CSU in München vor einer Woche.

    Kühnert: Lob von Seehofer zu bekommen, hat ja immer einen doppelten Boden. Diese zweifelhafte Ehre hat Bundeskanzlerin Angela Merkel auch schon mehrfach erfahren. Ich neige mittlerweile dazu, zu sagen: Fast alles, was Horst Seehofer sagt, beinhaltet auch immer das Gegenteil von dem, was er gesagt hat. Er ist ein beißender Zyniker, wenn man es ihm noch irgendwie positiv auslegen möchte.

    Noch ein Wort zur AfD: Ist es Aufgabe der SPD, diese Partei zu stellen oder ist es geschickter, einfach auf sie gar nicht einzugehen, um sie nicht noch größer werden zu lassen?

    Kühnert: Es geht nicht darum, speziell die AfD zu stellen. Was wir in Zusammenhang mit Chemnitz und den Demonstrationen gesehen haben, ist folgendes: Dort, wo organisierte Leute auf die Straßen gehen, die den Hitlergruß zeigen, die nationalsozialistische Parolen grölen, wo AfD-Funktionäre und Pegida Schulter an Schulter miteinander laufen und alle Hemmungen fallen, dort muss es unter Demokraten bei allen Meinungsunterschieden einen Konsens geben. Der Konsens lautet, dass hier die besorgten Bürger, deren Sorgen man ernst nehmen muss, aufhören. Wer nicht versteht, dass man bei einem Hitlergruß, der in einer Veranstaltung gezeigt wird, nichts, aber auch gar nichts zu suchen hat, dem haben wir auch keine Angebote mehr zu machen.

    Das Interview fand bei einem Redaktionsbesuch Kühnerts in Günzburg statt.

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