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Katarina Barley: "Konservative Brandmauer gegenüber Faschisten gibt es nicht mehr"

Interview

"Die konservative Brandmauer gegenüber Faschisten gibt es nicht mehr"

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    Katarina Barley ist Vizepräsidentin des EU-Parlaments und weiß, dass in Brüssel viel besser laufen könnte.
    Katarina Barley ist Vizepräsidentin des EU-Parlaments und weiß, dass in Brüssel viel besser laufen könnte. Foto: Sebastian Gollnow, dpa

    Frau Barley, vor kurzem wurde in Brüssel der umstrittene Asylkompromiss geschlossen, bei dem viele Sozialdemokraten schlucken müssen. Was halten Sie davon, Kinder an der Grenze abzuweisen?
    BARLEY: Zunächst zur Einordnung: Es gibt derzeit einen Vorschlag der Kommission und zwei Standpunkte dazu: den des Europäischen Rates, über den alle sprechen. Und dann gibt es den Beschluss des Parlaments. Der sieht anders aus. Auch hier haben wir Sozialdemokrat*innen nicht alle unsere Punkte durchsetzen können, so ist das in der Demokratie. Aber im Parlamentsbeschluss werden Familien mit Kindern bis zwölf Jahren aus dem Grenzverfahren ausgenommen. Jetzt müssen Rat und Parlament miteinander in Verhandlungen gehen und einen gemeinsamen Beschluss fassen.

    Apropos unterschiedliche Standpunkte. Es ist das EU-Klischee: In Brüssel wird so lange verhandelt und nach Kompromissen gesucht, bis Ideen komplett verwässert sind.
    BARLEY: Natürlich ist die Europäische Union eine einzige Kompromissfindung. Das ist auch ihr Sinn und das ist ungeheuer wertvoll. Verhandeln und Kompromisse finden bedeutet, Meinungsverschiedenheiten friedlich zu lösen. Und es muss nicht heißen, dass etwas dadurch schlechter wird. Gerade wir Deutsche neigen dazu, immer zu glauben: So wie es bei uns ist, muss es sein. Dabei ist es gut auch mal zu schauen, wie es in anderen Ländern läuft. Das würde ich rückblickend auch als Ministerin anders machen, also öfter über den deutschen Tellerrand hinausblicken. Es ist mehr Arbeit, klar. Aber oft wird das Ergebnis dadurch besser.

    Besonders nach dem russischen Überfall gab es in der EU erstaunlich viel Einigkeit. Gleichzeitig wächst in vielen Staaten der rechte Rand.
    BARLEY: Die jeweiligen Nationalwahlen müssen gut analysiert werden. In Schweden waren die Sozialdemokraten deutlich stärkste Kraft. Die deutlich schwächeren Konservativen lassen sich aber von Faschisten dulden und kamen so an die Regierung. Allgemein gilt mittlerweile oft: Die Brandmauer der Konservativen gegenüber den Rechtspopulisten und den Faschisten gibt es nicht mehr. Die ist nicht nur löchrig, sondern eingerissen. Das ist in Schweden, Finnland, Italien so. Wer so handelt, darf nicht jammern. Dadurch wird der Rechtsruck selbst heraufbeschworen. Das ist gerade unser größtes Problem in Europa.

    In diesem Kontext fällt zuletzt häufig der Name Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen EVP. Er flirtet mit Rechten wie der Italienerin Meloni. Besorgt Sie das?
    BARLEY: Natürlich. Politik hängt in großem Maß von handelnden Personen ab, und gerade in den Volksparteien ist es entscheidend, wer führt. Besonders in Deutschland erleben wir bei CDU und CSU einen strammen Rechtskurs. Das ist eine politisch strategische Entscheidung, und deswegen ist das hier natürlich Thema. Manfred Weber hat ganz bewusst die Flanke nach rechts geöffnet und macht daraus auch kein Geheimnis. Er will nach der Europawahl mit Rechtspopulisten und denen noch weiter rechts zusammenarbeiten. Insofern ist diese Zusammenarbeit eine einschneidende Positionierung seinerseits.

    Im rechten Lager ist die EU Feindbild und undemokratisches Elitenprojekt. Wasser auf die Mühlen dieser Menschen ist die letzte Europawahl, in der Weber Kandidat für das Amt des Kommissionschefs war. Nach der Wahl ignorierten ihn die Länderchefs und machten kurzerhand Ursula von der Leyen zur mächtigsten Frau Europas.
    BARLEY: Das ist ein Punkt, der in politischen Kreisen sehr unterschätzt wird. Wenn Besuchergruppen zu mir kommen, ist dieser Vorgang fast immer Thema. Was das angerichtet hat, ist vielen hier nicht klar. Da muss die EU selbstkritisch sein, so etwas darf sich nicht wiederholen. Der Rat hat eine Kommissionspräsidentin aus dem Hut gezogen, die nie zur Wahl stand. Dabei gab es sogar einen Beschluss des Parlaments, dass der Rat nur jemanden aus dem Kreis der Spitzenkandidaten benennen soll. Obwohl ich Ursula von der Leyen persönlich sehr schätze, habe ich deshalb gegen sie als Kommissionschefin gestimmt.

    Ist die EU zu undemokratisch, stattdessen zu bürokratisch?
    BARLEY: Die EU ist im Aufbau Deutschland nicht unähnlich. Wir haben ein direkt gewähltes Parlament, mit der Kommission so etwas Ähnliches wie die Bundesregierung und mit dem Rat etwas Ähnliches wie den Bundesrat. Natürlich ist die Legitimation von Rat und Kommission indirekt, so ist es in Deutschland aber auch. Auch hier wählen wir nicht direkt den Bundeskanzler oder den Bundesrat. Brüssel scheint den Menschen viel weiter weg. Das ist Politik aber meistens. Wahrscheinlich könnte auch in Deutschland nicht jeder die Zusammensetzung und Aufgaben des Bundesrats benennen.

    Was also tun gegen die gefühlte Entfremdung und zunehmende Euroskepsis?
    BARLEY: Für andere ist es leider leicht, den Mythos der Entfremdung zu verstärken. Deswegen ist es essenziell, dass wir in der Kommunikation besser werden. Keiner ist perfekt, auch wir nicht. Wir versuchen selbst, so präsent wie möglich zu sein. Und wir laden viele Menschen ein, hierherzukommen, besonders junge. Um ihnen zu zeigen, dass hier gearbeitet wird wie in anderen Parlamenten auch – nur mit mehr Sprachen.

    Apropos junge Menschen. Zur Europawahl 2024 dürfen erstmals 16-Jährige wählen. Können diese so langfristig vom Projekt Europa überzeugt werden? 
    BARLEY: Das Wahlalter ab 16 ist ein guter und wichtiger Schritt, um den weniger werdenden jungen Menschen ein angemessenes Gewicht zu geben. Als EU gehen wir auch viel in Schulen, sind präsent und laden viele Klassen nach Brüssel und Straßburg ein. Ferner gibt es Aktionen wie den Jugendkarlspreis in Aachen. Da können sich junge Menschen aus ganz Europa bewerben und wunderbare Demokratieprojekte vorstellen. Außerdem gibt es das Erasmus-Programm, mit dem junge Menschen ins Ausland gehen können. Wie sehr das den jungen Studierenden und Azubis den Horizont erweitert, ist wirklich faszinierend. 

    Machen Sie sich vor den Wahlen im nächsten Jahr trotzdem Sorgen?
    BARLEY: Für meine eigene Partei bin ich optimistisch. Aber es spricht viel dafür, dass auch der rechte Rand hinzugewinnen wird. Wir haben es in Italien, Schweden und Finnland gesehen, wo rechtspopulistische bis rechtsextreme Regierungen herausgekommen sind. Damit verbunden ist auch immer ein Sitz und eine Stimme im Europäischen Rat der Mitgliedsstaaten. Da die Mitgliedsstaaten die Kommissionsmitglieder benennen, hängt auch die Zusammensetzung der Kommission von den nationalen Regierungen ab. Das heißt, wir haben zwei Institutionen, die gerade nach rechtsaußen kippen. Das Parlament ist deshalb das einzige Organ, das diesen Rechtsruck ausgleichen kann. Wir brauchen mehr denn je eine progressive demokratische Mehrheit, die den Rechtspopulisten und Nationalisten die Stirn bietet. Denn die Konservativen tun das nicht, im Gegenteil, sie paktieren mit ihnen. Die Bedeutung dieser Wahl muss jedem bewusst sein.

    Zur Person

    Katarina Barley ist Deutsch-Britin, 1968 in Köln geboren und SPD-Politikerin. Bevor sie 2019 Vizepräsidentin des EU-Parlaments wurde, war Barley deutsche Familienministerin, Arbeitsministerin und Justizministerin. 

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