Herr Nida-Rümelin, viele Menschen sind verunsichert, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr alles sagen zu dürfen. Ist dieses Gefühl gerechtfertigt?
JULIAN NIDA-RÜMELIN: Allein die Tatsache, dass immer mehr Menschen dieses Gefühl haben, ist Grund zur Besorgnis. In den 1950er Jahren hatten die Menschen auch das Gefühl, aber es war der konservativen Adenauerzeit und der Dominanz der Kirchen im öffentlichen Diskurs geschuldet. Eine der großen Errungenschaften der 68er-Bewegung war die Liberalisierung der Gesellschaft. Die Bereitschaft, unterschiedliche Meinungen auszuhalten, wuchs. Heute leben wir in einer Kultur der zunehmenden Unduldsamkeit. Sie beruht nicht auf staatlicher Zensur, sondern kommt aus der Gesellschaft heraus und zeigt sich auch in Form der Cancel Culture.
Sie haben ein Buch über Cancel Culture geschrieben und beleuchten das Phänomen aus philosophischer Perspektive. Was verstehen Sie darunter?
NIDA-RÜMELIN: Ich verstehe unter Cancel Culture eine kulturelle Praxis, die in drei Eskalationsstufen auftritt. Erstens: Man sorgt dafür, dass bestimmte Meinungen nicht mehr geäußert werden. Zweitens: Personen mit bestimmten Meinungen werden marginalisiert. Drittens: Unliebsame Personen werden sozial isoliert, beruflich vernichtet oder gar ermordet, wie es in Diktaturen nicht selten der Fall ist.
Cancel Culture umfasst also mehr als Debatten über Winnetou und Gendersternchen. Sie wirkt wie ein moderner Kampfbegriff, aber ist die Praktik wirklich neu?
NIDA-RÜMELIN: Versuche, unerwünschte Meinungen zum Schweigen zu bringen, sind uralt. Schon in der Antike kann man ausgetüftelte Cancel-Culture-Praktiken verfolgen. Ägyptische Pharaonen haben gecancelt, Kaiser-Gattinnen wurden diffamiert, heidnische Bücher im Namen Gottes verbrannt, Frauen als vermeintliche Hexen verfolgt und ermordet. Cancel Culture ist Teil der Menschheitsgeschichte. Das, was wir allerdings begreifen müssen ist, dass sie mit dem Projekt der Aufklärung, das von der Urteilskraft eines jeden Menschen ausgeht, und damit auch mit der Demokratie unvereinbar ist.
Sie sehen in der Cancel Culture also eine Gefahr für die Demokratie?
NIDA-RÜMELIN: Ja, in der Tat. Wesentliche Voraussetzung der Demokratie ist es, dass wir unterschiedliche Meinungen nicht nur ertragen, sondern bereit sind, im öffentlichen Vernunftgebrauch Gründe für und wider bestimmte Auffassungen abzuwägen. Wenn wir Debatten zum Kampffeld machen und Gegner diffamieren, handeln wir entgegen demokratischen Werten. Wir haben über Jahrzehnte den Fehler gemacht, diese kulturellen Voraussetzungen zu vernachlässigen im Vertrauen darauf, dass alles gut wird, solange die Institutionen funktionieren und die Wirtschaft läuft. Wie schnell demokratische Grundwerte erodieren können, sieht man in den USA. Dort ist die Zivilkultur unterdessen schwer beschädigt.
In der öffentlichen Wahrnehmung betreiben vor allem Menschen aus dem vermeintlich linken oder woken Spektrum Cancel Culture. Sehen Sie das auch so?
NIDA-RÜMELIN: Nein, Cancel Culture gab es zu allen Zeiten im gesamten politischen Spektrum. Ein Beispiel aus den USA: Der republikanische Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis hat Florida zu einer woke-freien Zone erklärt. An Schulen werden Transgender-Themen nicht mehr erörtert, eine Schuldirektorin wurde entlassen, weil sie die nackte David-Statue zeigte. Das ist keine staatliche Zensur, sondern eine kulturelle Form der massiven Unterdrückung. Oft wird den Woken vorgeworfen, Cancel Culture zu praktizieren, aber um es platt zu sagen: Was die Linken machen, machen die Rechten meist viel brutaler. Linker Identitätspolitik stellen Rechte eine majoritäre Identitätspolitik entgegen, die deutlich demokratiefeindlicher ist.
Ist jede Form von Cancel Cultur, ob aus dem rechten oder linken Spektrum, gefährlich oder muss man da nicht differenzieren, weil die Ziele eine Rolle spielen?
NIDA-RÜMELIN: Das ist genau der Punkt: Man darf nicht nach Inhalten differenzieren, wenn man das Phänomen richtig einordnen will. Demokratie beruht auf inhaltlicher Neutralität, die in Deutschland nur im Hinblick auf den Nationalsozialismus ausgesetzt ist. Wer den Holocaust leugnet, begeht eine Straftat. Abgesehen von dieser inhaltlichen Vorfestlegung ist unser Grundgesetz neutral. Wir müssen bestimmte Regeln im Umgang miteinander beachten oder um es mit Kant zu sagen: „Handle nur nach einer Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz wird.“ Wer den Klimawandel bekämpft und Straßen blockiert, muss anderen das Recht einräumen, Straßen zu blockieren, um gegen Einwanderung zu demonstrieren. Alles, was ich bei der Verfolgung meiner Ziele in Anspruch nehme, muss ich anderen zubilligen. Das setzt Toleranz voraus, die oft schwer zu ertragen ist, aber fundamental für die Demokratie.
Sie plädieren im Sinne der Aufklärung für Toleranz und Offenheit. Aber müssen alle Meinungen gehört werden?
NIDA-RÜMELIN: Wir brauchen ein gewisses Maß an Übereinstimmung in den grundlegenden Normen und Werten, die die Demokratie tragen. Mit Neonazis kann man therapeutische Gespräche über Wut oder Angst führen, aber ich setze mich nicht inhaltlich mit jemandem auseinander, der nicht die Würde aller Menschen achtet.
Canceln kann also auch berechtigt sein?
NIDA-RÜMELIN: Das ist kein Canceln. Ich mache es mal am Beispiel Italien und dem „arco costituzionale“ deutlich. Der Verfassungsbogen war aus dem faschistischen Widerstand heraus entstanden und vereinte alle halbwegs vernünftigen Kräfte, von Eurokommunisten bis zu Rechtskonservativen. Ausgeschlossen waren Faschisten oder auch Maoisten. Der arco costituzionale hielt über Jahrzehnte, aber mit der Wahl von Giorgia Meloni zur Ministerpräsidentin ist er endgültig zusammengebrochen. So sympathisch der Ansatz ist, dass sich demokratische Parteien gegen Rechts zusammenschließen, er ist politisch riskant, weil er am Ende die Rechtspopulisten in der Wahrnehmung vieler als die einzige wirkliche Alternativen aufwertet.
Was bedeutet das für Deutschland und den Umgang mit der AfD?
NIDA-RÜMELIN: Die AfD ist gegenwärtig so aufgestellt ist, dass die Grenze mitten durch die Partei geht. Die Wählerschaft besteht zum kleineren Teil aus überzeugten Rechtsradikalen und zum größeren Teil aus Menschen, die unzufrieden sind mit anderen Parteien. Bei den Funktionären ist es anders, sie stehen insgesamt weiter rechts. Der thüringische Landesverband unter Leitung von Björn Höcke wird wegen seiner rechtsextremen Ausrichtung zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet. Da ist die Grenze eindeutig überschritten. Es ist falsch, aber auch gefährlich zu sagen, jeder AfD-Wähler sei ein Nazi, weil diese damit nur weiter in die Radikalität getrieben werden und die Chancen sinken, sie für die Demokratie zurückzugewinnen.
Inwieweit trägt Cancel Culture zur Polarisierung der Gesellschaft bei?
NIDA-RÜMELIN: In den USA ist die praktizierte Cancel Culture zum Futter für einen Kulturkampf von rechts geworden, der sehr erfolgreich geführt wird. Man muss wissen, was man mit solchen Diskursen auslöst. Je massiver eine Meinungshoheit in bestimmten akademischen oder kulturellen Milieus genutzt wird, desto mehr entsteht eine Gegenbewegung, die von rechts instrumentalisiert werden kann.
Welche Rolle spielen dabei die Medien?
NIDA-RÜMELIN: Eine wichtige, denn sie sollten die Vielfalt an Auffassungen aus Wissenschaft und Politik fair und distanziert präsentieren. Das Bubble-Phänomen, wie wir es aus dem Social-Media-Kontext kennen, gab es früher zwar auch schon. In der Weimarer Republik hatte jedes politische Lager eigene Medien, ein Sozialdemokrat las den Vorwärts und nicht das Bistumsblatt. Heute hat sich das Meinungsspektrum nach rechts geöffnet, das ist ein Warnsignal. Gleichzeitig haben viele den Eindruck, die seriösen Medien konvergieren in ihren Positionierungen. In der Corona-Krise waren sich fast alle einig, auch in der Ukraine-Krise zeigt sich das. Seit Monaten ist die Bevölkerung fast zweigeteilt über die Frage, wenn es um weitere Waffenlieferungen an die Ukraine geht, aber in den Medien bildet sich das nicht ab. Das ist riskant, denn diese Diskrepanz schafft Misstrauen. Die Menschen fühlen sich bevormundet und nicht mehr repräsentiert.
War die Flugblatt-Affäre um Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger eine versuchte Form des Cancelns?
NIDA-RÜMELIN: Das Flugblatt ist ungeheuerlich, es verhöhnt die Opfer des NS-Regimes und dokumentiert eine zutiefst menschenverachtende Haltung. Hätte die Süddeutsche Zeitung bewusst kurz vor der Wahl darüber berichtet, könnte man den Vorwurf gelten lassen, weil sie ihre Medienmacht für politische Zwecke instrumentalisiert hätte. Aber danach sieht es nicht aus. Die SZ hat aus meiner Sicht überzeugend argumentiert, dass sie erst nach der Erdinger Rede mit den Dokumenten konfrontiert wurde und der Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht bewusst gewählt war.
Hätte Söder Aiwanger entlassen müssen?
NIDA-RÜMELIN: Niemand muss wegen eines solchen alten Flugblatts aus der Politik entfernt werden, aber wer sich nicht glaubhaft mit seiner eigenen rechtsradikalen Vergangenheit auseinandersetzt und behauptet, sich nicht genau zu erinnern, obwohl es ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein muss, sich dann für etwas entschuldigt, was zugleich geleugnet wird, disqualifiziert sich. Ja, meiner Meinung nach hätte Söder Aiwanger als Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Minister entlassen müssen.
In Ihrem Buch vergleichen Sie die mediale Debattenkultur mit antiken Marktplätzen, auf denen Menschen diffamiert und Meinungen gecancelt wurden. Voraufklärerische Zeiten also. Haben wir dem vernunftorientierten Denken bereits ein Ende gesetzt?
NIDA-RÜMELIN: So weit sind wir noch nicht, aber wir sollten alle einen Gang runterschalten. Auch im Parlament verroht die Sprache zunehmend. Wir müssen öffentlich argumentieren, uns auf die sachlichen Fragen ernsthaft einlassen, die aktuellen politischen Herausforderungen sind ernst genug. Wir haben einen sehr sachlichen, wohl informierten, gelassenen Bundeskanzler, das ist gut in schwierigen Zeiten, aber er verstummt oft in wichtigen Fragen, legt sich nicht fest, wartet ab – die Methode Merkel. Das ist nicht zielführend, die Menschen wollen Orientierung.
Was stimmt Sie optimistisch, dass sich die Gesellschaft nicht weiter spaltet?
NIDA-RÜMELIN: Das Vertrauen in die demokratische Politik schwindet, das ist bitter, trotzdem steht Deutschland noch vergleichsweise stabil da. Der Rechtsstaat funktioniert, die Brandmauer gegen rechts hält hoffentlich auch weiterhin. Die weitverbreitete Unzufriedenheit in der Corona-Krise war ein gefundenes Fressen für die AfD, aber sie hat in dieser Zeit an Zustimmung verloren. Nicht weil die Regierungspolitik so wahnsinnig überzeugend war, sondern weil die Menschen den Ernst der Lage erkannten und merkten, dass tragfähige Lösungen im Krisenfall zielführender sind als billiger Populismus. Das stimmt mich optimistisch. Ich glaube unverändert an die politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger.
Zur Person
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin war bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als SPD-Mitglied war er Kulturstaatsminister unter Gerhard Schröder. Seit Mai 2020 ist er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Der 68-Jährige hat zahlreiche Bücher geschrieben, sein jüngstes Werk heißt „Cancel Culture - Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken".