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Interview: Journalismus im Krieg: „Es sollte nur ein Lager geben, das der Wahrheit“

Interview

Journalismus im Krieg: „Es sollte nur ein Lager geben, das der Wahrheit“

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    Unabhängiger Journalismus als Antwort auf Propaganda: Christophe Deloire, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen.
    Unabhängiger Journalismus als Antwort auf Propaganda: Christophe Deloire, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen. Foto: Laurent Gillieron, dpa

    Herr Deloire, Reporter ohne Grenzen (RSF) setzen sich lautstark für Journalisten im Gazastreifen ein. Wie sehen deren Arbeitsbedingungen aus?

    Christophe Deloire: Auf einem Gebiet von rund 360 Quadratkilometern wurden seit dem israelischen Gegenschlag nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober mehr als 50 Journalisten getötet. Nach unseren Zählungen kamen mindestens 13 Journalisten während ihrer Arbeit oder aufgrund ihrer Funktion ums Leben – das sind fast so viele wie seit dem 24. Februar 2022 infolge des Kriegs, den Russland in der Ukraine führt. 

    Was steckt hinter der Klage, die RSF beim Internationalen Strafgerichtshof wegen möglicher Kriegsverbrechen gegen Journalisten im Gazastreifen eingereicht hat?

    Deloire: Das internationale Recht verpflichtet alle UNO-Mitgliedsländer zum Schutz von Journalisten. Wir sehen, dass sich Israel darum wenig sorgt. 

    Beide Seiten im Gazastreifen operieren mit erschütternden Bildern. Haben wir es mit einem Informations-Krieg zu tun?

    Deloire: Ich würde eher von einem Krieg der Bilder sprechen, einem Propaganda-Krieg. Von beiden Seiten werden mitunter auch Falschinformationen verbreitet. Es zirkulieren diverse Videos, von denen sich nicht feststellen lässt, woher sie kommen. Manchmal handelt es sich um die organisierte Verbreitung von Fake News in den sozialen Netzwerken mit gefälschten Profilen. Durch die vorherrschende Polarisierung geraten auch Gerüchte in Umlauf. Alle wählen ihr Lager. Dabei sollte es nur ein Lager geben, das der Wahrheit. Hinzu kommt, dass es heute fast unmöglich ist, als Journalist in Gaza zu arbeiten, sowohl für die Medienschaffenden vor Ort als auch für ausländische Reporter, die keinen Zugang erhalten.

    Ähnlich ist die Situation in Russland, wo unabhängiger Journalismus seit Jahren stark bedroht ist.

    Deloire: In Russland wissen die Journalisten nicht, wann und in welcher Form der Schlag kommt. Sie wissen nur, woher er kommt, nämlich vom Kreml oder aus dessen Umfeld. Angesichts der Serie von freiheitsbedrohenden Gesetzen, darunter der Status „ausländischer Agent“ für Journalisten, der Inhaftierungen und ihrer hohen Sterblichkeitsrate verließen die meisten das Land oder mussten ihren Beruf aufgeben. Dutzende Medien sind heute im Exil. Wir helfen ihnen unter anderem bei der Finanzierung, leisten administrativen und rechtlichen Beistand, wodurch rund 150 russische Journalisten nach Europa kommen konnten. Auch koordinierten wir die Evakuierung von Marina Owsjannikowa, die bei einer Live-Sendung im russischen Fernsehen ein Anti-Kriegs-Plakat hochhielt.

    Haben Sie Marina Owsjannikowa damals angeboten, sie nach Frankreich zu holen?

    Deloire: Ich habe sie unmittelbar nach ihrem Protest kontaktiert. Im September 2022, zehn Tage vor ihrem Prozess, bat sie mich dann über Mittelsleute um Hilfe bei der Flucht. Sie befand sich in Hausarrest und trug eine elektronische Fußfessel. Ihre Mutter, die pro Putin ist, wohnte gegenüber und überwachte sie. Die Aktion war filmreif. Sie verließ ihre Wohnung an einem Freitagabend, wenn viele Polizisten in den Feierabend gehen und anfangen zu trinken, schnitt ihre Fußfessel ab und warf sie weg. Siebenmal wechselte sie das Auto, das letzte hatte eine Panne und sie musste mit ihrer Tochter und ihren Koffern über Felder laufen, bis sie es über die Grenze schafften. 

    Owsjannikowa veröffentlichte seitdem ihre Innensicht aus dem russischen Propaganda-System. Ist man gegen dieses nicht chancenlos?

    Deloire: Es gibt Möglichkeiten, um den Menschen unabhängige Informationen zukommen zu lassen. Mit unserer Operation „Collateral Freedom“ können wir die Zensur gegen bestimmte Internetseiten, darunter auch jene des weit verbreiteten Mediums Meduza, technologisch entblocken. Während Russland unsere Gesellschaften mit Propaganda zu destabilisieren versucht, drehen wir diese Logik um und schicken unabhängigen Journalismus dorthin. 

    Auch in Europa gibt es große Herausforderungen für unabhängigen Journalismus.

    Deloire: Heute stehen die Journalisten in direkter Konkurrenz mit den Verbreitern von Fake News oder Gerüchten. In unserer deregulierten Welt brauchen wir die Vertrauenswürdigkeit von Informationen als Kriterium. Dank der journalistischen Kultur und Ethik hat die Selbstregulierung der Medien lange funktioniert. Die technologische Explosion veränderte das gesamte Ökosystem.

    Zugleich werden Medien mehr und mehr als Lügenpresse verunglimpft. Verlässt Sie da nicht manchmal der Mut?

    Deloire: Dem Pessimismus der Gedanken ist der Optimismus des Handelns entgegenzusetzen. Wir verbuchen nicht immer große Siege, aber auf dem Weg dorthin geben wir uns mit kleineren zufrieden. Wenn es gelingt, einen Journalisten aus den Händen der Taliban zu befreien, wenn Medien in vielen Ländern zertifiziert werden und sich dadurch verbessern, dann ist schon viel erreicht.

    Zur Person: Christophe Deloire (52) ist seit 2012 Generalsekretär der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen mit Sitz in Paris, die sich weltweit für die Freiheit, Unabhängigkeit und den Pluralismus des Journalismus einsetzt. 

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