Joachim Gauck,1940 in Rostock geboren, war evangelischer Pfarrer, eines der Gesichter der friedlichen Revolution in der DDR und Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Von 2012 bis 2017 war er Bundespräsident. Auch als Präsident a.D. wird er protokollarisch korrekt noch mit „Herr Bundespräsident“ angesprochen.
Herr Bundespräsident. Ihr Lebensthema ist die Freiheit. Wie sehr ist sie durch die Pandemie bedroht?
Joachim Gauck: Wenn man älter wird, lernt man, dass es nicht nur eine Freiheit von Zwang, von Unterdrückung und von Einschränkungen aller Art gibt, sondern auch eine Freiheit zu etwas. Das ist die Freiheit der Erwachsenen. Sie entsteht, wenn man aus einer Phase des jugendlichen Überschwangs, in der das Ich noch im Zentrum steht, übergeht in eine Phase, in der man andere Menschen liebt und schätzt und sie mindestens so wichtig nimmt wie sich selbst. Diese Form frei zu sein, für jemand anderen, für einen Beruf oder die Kunst, schafft Verbindlichkeit und Vertrauen. Diese Form der Freiheit kann uns sogar glücklicher machen als die andere, auf sich selbst bezogene Freiheit.
Heißt das, übertragen auf die Pandemie: Solidarität ist nichts Verpflichtendes, sondern gelebte Freiheit?
Gauck: Ja. Und wir haben es in den vergangenen Monaten immer wieder gesehen: Die große Mehrheit schränkt sich ein, um andere zu schützen und der Gesellschaft eine baldige Rückkehr in einen unbeschwerten Alltag zu ermöglichen. Die eigene und unserer aller Freiheit wird nicht mit kruden Parolen auf der Straße, sondern in Arztpraxen und Impfzentren verteidigt. Selbst wenn nun im Parlament über die Impfpflicht debattiert wird und die Regierung dafür wirbt, geschieht dies gestützt auf wissenschaftlichen Expertisen und nicht aus dem regulatorischem Übermut einer Regierung heraus. Wir leben ja nicht in Russland, in der Türkei oder in China, wo die Menschen den Mächtigen immer misstrauen müssen.
Wie sind Sie denn mit dem Krisenmanagement der alten Bundesregierung zufrieden?
Gauck: Wenn wir auf den gesamten Pandemieverlauf und auch auf viele unserer europäischen Nachbarländer schauen, dann sind wir, was etwa die Todesfälle im Verhältnis zur Einwohnerzahl oder die wirtschaftlichen Folgen anbelangt, bisher ganz gut durch diese Krise gekommen. Dies können wir der Vorgängerregierung positiv anrechnen. Ich kann aber nachvollziehen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger in den letzten Monaten mehr Entschlossenheit im Bund und in den Ländern gewünscht hätten. Tatsächlich hat die Politik angesichts der anstehenden Wahlen im Spätsommer einen Gang zurückgeschaltet und härtere Entscheidungen gescheut. Nun sehen wir glücklicherweise, dass die – wenn auch recht spät– beschlossenen Maßnahmen Wirkung zeigen und sich die Lage etwas beruhigt. Und vielleicht vergönnt uns, wenn wir uns besonnen verhalten, die heraufziehende Omikron-Welle noch ein entspanntes Weihnachten.
Ist das schleppende Krisenmanagement eine Frage des politischen Willens - oder ein strukturelles Problem?
Gauck: Es gab und gibt sicherlich Schwachpunkte, vor allem bei der Ausstattung und Besetzung der Gesundheitsämter. Und dann diskutieren wir ja schon seit Jahren, wie es gelingt, mehr Menschen für die Pflege zu gewinnen. Die chronische Unterbesetzung hat sich im Laufe der Pandemie ja noch verschlimmert. Hinzu kam dann eine Phase des politischen Machtvakuums, in der sich eine neue Regierung erst noch finden musste und die dazu führte, dass Entscheidungen umständlicher und langsamer wurden. Und zusätzlich ist zu bedenken, dass in Deutschland nicht nur der Bund, sondern auch die Länder Verantwortung und Gesetzgebungskompetenz haben, da fallen die Entscheidungen mit einer gewissen Verzögerung.
In dem Durcheinander von sich ständig ändernden Regeln, Inzidenzen und Hospitalisierungsraten ist es schwer, den Überblick zu behalten. Hat die Politik die Menschen so nicht eher verschreckt als sie mitzunehmen?
Gauck: Eine pandemische Lage stellt die politische Kommunikation natürlich vor enorme Herausforderungen. In dieser Situation eine politische Entscheidung zu treffen, ist das eine. Sie auch den Menschen, die eher unpolitisch sind, zu erklären und zu vermitteln ist das andere. Und der zweite Teil wird zuweilen vernachlässigt. Gleichzeitig wissen diejenigen, die unserer Demokratie schaden oder sie gar beseitigen wollen, die Unsicherheit, die Ängste für ihre Zwecke zu nutzen. Dies gelingt ihnen auch, weil sie sich nicht um Fakten kümmern müssen.
Die scharfen Töne, die einen Mann wie Markus Söder bundesweit populär gemacht haben, die Logik der immer härteren Maßnahmen: Hat die Pandemie in Politik und Gesellschaft eine neue Lust am Autoritären geweckt?
Gauck: Das glaube ich nicht. Es gibt im Osten teilweise bis heute keine wirklich gefestigte Tradition der Zivilgesellschaft. Dort existiert ähnlich wie in den Ländern Mittel- und Osteuropas noch immer eine etwas andere politische Kultur. Dort gab es über lange Jahrzehnte keine freien Gewerkschaften, keine freien Medien, keinen demokratischen Meinungsaustausch, keine freien Wahlen: Da entwickelt sich ein anderes Naturell in einer Gesellschaft. Eine Minderheit ist daher noch geprägt von den Verhaltensmustern der durchherrschten Gesellschaft. Aber dadurch wird unsere Gesellschaft insgesamt nicht autoritärer.
Wenn es sich nur um eine Minderheit handelt: Ist die Sorge vor einer zunehmenden Spaltung dann übertrieben?
Gauck: Ich bin froh, dass Sie das so vorsichtig formulieren. Mir wird mit dem Begriff der Spaltung etwas zu leichtfertig hantiert. Er kommt uns rasch über die Lippen, weil wir Deutschen sehr harmoniebedürftig sind und uns schnell aufregen über die harschen Debatten der beiden Lager in der Pandemie. Natürlich artikuliert sich unter den Geimpften viel Unmut über die Ungeimpften und die Impfgegner – eine Form der Spaltung die automatisch entstanden ist und die gegenüber jenen sogar erforderlich ist, die unsere Demokratie hassen und sich aktiv gegen unseren Staat wenden. Mit der Einführung einer Impfpflicht hätten wir zwar auch eine Spaltung. Aber diese hätte einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft.
Wenige Bereiche des Lebens schützt unser Rechtsstaat so wie unsere Wohnung, unsere Daten und unsere Körper. Wie passt eine Impfpflicht in die Tradition des liberalen Rechtsstaats?
Gauck: Auch als liberaler Demokrat kann ich eine solche Maßnahme akzeptieren, weil die Impfpflicht meine persönliche Freiheit in einem insgesamt nur sehr kleinen Sektor begrenzt. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist im Verhältnis zu seinem Nutzen eher gering. Wenn die Appelle zum Impfen nicht ausreichen, ist die Impfpflicht die nahe liegende Lösung. Es ist auch kein Novum, dass in einer liberalen Demokratie verschiedene Grundrechte gegeneinander abgewogen und punktuell eingeschränkt werden müssen. Und so schützt selbst eine verpflichtende Impfung die Gesellschaft der Freiheit, jedenfalls dann, wenn die Verhältnismäßigkeit beachtet wird.
Verschärft das die Fronten nicht noch? Heute ist jemand, der sich nicht impfen lässt, ein Egoist oder ein Querdenker. Künftig wäre er ein Gesetzesbrecher.
Gauck: Ich glaube, dass viele Menschen die Impfpflicht akzeptieren würden - manche zähneknirschend, aber nach dem Motto, wenn es schon eine Pflicht ist, dann kommen wir der auch nach. Sportliche Autofahrer wollen auch überall möglichst schnell fahren, aber auch sie halten sich in ihrer großen Mehrheit an die geltenden Regeln. Jede Gesellschaft braucht Normierungen, und die sollte man im aktuellen Fall nicht als Bedrohung ansehen, sondern als Hilfe, meinetwegen auch als Nachhilfe für einige, die bisher vielleicht zu wenig den Zustand der gesamten Gesellschaft im Auge haben. Für die Akzeptanz der Impfpflicht gibt es gute moralische, sachliche, politische, ja sogar juristische Gründe. Deswegen stürzt unsere Rechtsordnung nicht ein.
Trotzdem: Nicht jeder Ungeimpfte ist ein Querdenker, manche Menschen haben gute Gründe, sich nicht impfen zu lassen. Sollte der Staat da nicht etwas behutsamer vorgehen?
Gauck: Ich bin mir sicher, dass eine gesetzlich geregelte Impflicht alle, insbesondere medizinische Gründe, sich nicht impfen zu lassen, ausreichend berücksichtigen wird. Und natürlich müssen wir in einer freiheitlichen Gesellschaft die Rechte, für die die Menschen lange kämpfen mussten und die unser Grundgesetz garantiert, ernst nehmen. Freiheit aber bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst – und anderen gegenüber. Die Freiheit des Einzelnen stößt an eine Grenze, wo sie die Freiheit oder die Rechte anderer gefährdet.
Wir leben jetzt seit fast zwei Jahren in der Pandemie, mit ihr und auch mit den vielen politischen Versäumnissen. Manifestiert sich da gerade ein Grundmisstrauen der Politik gegenüber?
Gauck: Daran arbeiten viele. Wir haben eine alte linke Tradition der Verächtlichmachung unseres demokratischen Regelwerks, jetzt erleben wir ein ähnliches Phänomen von Rechtsaußen – und das liegt auch daran, dass die traditionellen konservativen Parteien einem Teil der Bevölkerung nicht mehr konservativ genug sind. Für Nationalisten ist das eine große Versuchung. Es macht einen Unterschied, ob ein sehr konservativ denkender Mensch mit der Regierung hadert, weil sie seine traditionellen Werte nicht verkörpert, ob ein Hardcore-Liberaler die Eingriffe in seine Freiheitsrechte für zu gravierend hält – oder ob Menschen gezielt Hass gegen das politische System schüren, wie wir es schätzen. Aber bei aller Sorge: Wir sollten nicht übersehen, dass die Mehrheit der Deutschen treu zu unserem demokratisch verfassten Rechtsstaat steht.
Ist es dann nicht kontraproduktiv, wenn der neue Kanzler sagt, er kenne im Kampf gegen Corona keine roten Linien? Wir dachten immer, die zieht das Grundgesetz.
Gauck: Wie alle zuvor wird auch dieser Bundeskanzler zweifelsohne das Grundgesetz wahren und verteidigen. Seine Äußerung würde ich unter der Rubrik „ich bin ein Regierungschef, der einen starken Führungswillen hat“ verbuchen. Den darf sich auch ein liberaler Demokrat wünschen, weil das Abwarten und Nichtentscheiden keine politischen Tugenden sind.
Wie groß ist eigentlich Ihr Vertrauen in die neue Bundesregierung?
Gauck: Mein Vertrauen ist angemessen groß, schließlich lassen sich alle Parteien der demokratischen Mitte zurechnen. Natürlich hat die Koalition auf Bundesebene noch experimentelle Züge, andererseits haben Liberale, Grüne und Sozialdemokraten große Flexibilität und Verantwortungsbewusstsein gezeigt, um sie zu ermöglichen. In allen drei Parteien haben sich die Realisten durchgesetzt, deshalb kann die Ampel auch funktionieren.
Droht der Union dann das gleiche Schicksal wie zuvor der SPD: Demoskopisch auf Talfahrt, mit sich selbst beschäftigt...?
Gauck: Ich bin ja parteilos und Wechselwähler, aber ich habe den zwischenzeitlichen Abwärtstrend der Sozialdemokraten mit einer gewissen Sorge verfolgt. Auf den Gedanken, dass ich mir einmal ähnliche Sorgen um die Christdemokraten machen muss, wäre ich dabei nicht gekommen. Die Union hat jetzt aber die Chance, sich personell neu aufzustellen und thematisch Schwerpunkte zu setzen. Wir sehen in ganz Europa eine Wählerwanderung nach Rechtsaußen. Doch längst nicht alle dieser Wähler wollen deshalb gleich einen Führerstaat a la Hitler oder Mussolini. Etwa ein Drittel der Menschen sieht im gesellschaftlichen Wandel mehr Probleme als Vorteile für sich. Diese Menschen wählen jetzt teilweise Nationalpopulisten. Sie können aber mit authentischen konservativen Angeboten zurückgewonnen werden, denn viele suchen eine politische Heimat, ein authentisches Angebot: auch wertkonservativ, aber frei von Nationalismus und reaktionärem Geist.
Im Februar wird der Bundespräsident neu gewählt. Was halten Sie von der Forderung aus der CDU, das nächste Staatsoberhaupt müsse eine Frau sein?
Gauck: Bisher hat man leider immer nur dann Frauen nominiert, wenn die Erfolgsaussichten gering waren. Ich habe daher begründete Zweifel, ob die aktuelle Überlegung politisch wirkmächtig werden kann.