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Interview: Ivan Krastev: "Der Krieg verändert Europa mehr, als die Menschen wahrnehmen"

Interview

Ivan Krastev: "Der Krieg verändert Europa mehr, als die Menschen wahrnehmen"

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    Ivan Krastev, Politologe aus Bulgarien, sagt: Die Grenze zwischen Demokratien und autoritären Regimen verschiebt sich schleichend.
    Ivan Krastev, Politologe aus Bulgarien, sagt: Die Grenze zwischen Demokratien und autoritären Regimen verschiebt sich schleichend. Foto: Focke Strangmann, dpa

    Herr Krastev, von Europa bis in die USA, von Brasilien bis Indonesien finden in diesem Jahr wichtige Wahlen statt. Zeitungen in den
    IVAN KRASTEV: 2024 werden mehr als vier Milliarden Menschen zur Wahl gehen. Das ist in etwa die Hälfte Weltbevölkerung. Und ja, die Demokratie wird überleben, die Frage ist nur, wie sie jeweils aussieht. Denn die Grenze zwischen Demokratien und autoritären Regimen verschiebt sich schleichend. Was das Jahr 2024 so einzigartig macht, ist der enge Zusammenhang der anstehenden Wahlen mit den gegenwärtigen Konflikten und Kriegen. Das Ergebnis der Wahl in den USA entscheidet, wie es mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine weitergeht. Und darüber, wie die Zukunft in Israel und im Nahen Osten aussieht. Es gibt ja seit geraumer Zeit Bücher, die ein ganz spezielles Jahr beleuchten – „1989“ oder „1913“. Ich bin sicher: Es wird künftig Dutzende Bücher über 2024 geben. Das Problem ist nur, dass wir diese Bücher jetzt noch nicht lesen können. 

    In Deutschland wird 2024, aller Voraussicht nach, große Wahlerfolge für die AfD bringen – bei der Europawahl und auch bei den Landtagswahlen im Osten. Wird
    KRASTEV: Beides. Wir erleben das Ende des deutschen Sonderweges, auch deshalb ist 2024 für Deutschland und damit auch Europa ein so ein entscheidendes Jahr. Das trifft auf die Wirtschaft zu – und auf die Politik. Der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands hatte in den vergangenen Jahrzehnten damit zu tun, dass Deutschland seine Sicherheit von den USA mehr oder weniger umsonst bekam. Seit Trump Präsident war und es wieder werden könnte, ist das vorbei. Voraussetzung der Stärke der deutschen Industrie war zudem billiges Gas aus Russland. Ebenfalls Vergangenheit. Und dann ist da die Abhängigkeit vom chinesischen Markt. Dort droht nun Krieg um Taiwan – mit all den denkbaren Folgen für das deutsche Exportmodell. Daneben gab es den politischen Sonderweg. Wegen seiner Geschichte war Rechtsextremismus in Deutschland einfach nicht akzeptabel. Das gehört wie das Wirtschaftswunder zur deutschen Nachkriegsidentität. Nun ändert sich das wie überall in Europa.

    Die Deutschen haben ja schon den ein oder anderen Veränderungsschock hinter sich. Sie erwähnten die Entwöhnung von russischem Gas, und wir werden uns langsam klar, dass Verteidigung wieder etwas kosten wird. Gibt es eine Grenze dessen, was Menschen an Veränderungen verkraften?
    KRASTEV: Das Problem für Deutschland ist, dass es in den vergangenen Jahrzehnten zu den größten Gewinnern weltpolitischer Umstände zählte. Und die größten Gewinner der Vergangenheit drohen heute zu den Verlierern zu werden. Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg, dann 1989, die Wiedervereinigung – jahrzehntelang dachten die Deutschen, dass sie alles richtig gemacht hatten – und, dass ganz Europa nur deutsche Politik nachmachen müsste, und alles wäre gut. Bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch. Heute nicht mehr. Heute erteilen die Franzosen und andere den Deutschen Lektionen – vom Ausstieg aus der Atomkraft bis zum starren Festhalten an der Schuldenbremse. Vieles, was Deutschland früher stark machte, droht es heute zu schwächen. Nehmen Sie die Trennung der Gewalten und die starke Rolle des Bundesverfassungsgerichts. Gewaltenteilung ist richtig, aber wenn sie zu starr wird, wird sie unproduktiv. In der Krise kommt es auch darauf an, zu improvisieren. Darauf ist das deutsche System nicht ausgerichtet. 

    Haupttreiber des Aufstiegs der Rechten in Deutschland ist das Thema Migration. Wenn die Zahlen illegaler Zuwanderer sinken, dann schrumpfen auch die Chancen rechtsextremer Parteien. Stimmen Sie dieser einfachen Gleichung zu? 
    KRASTEV: Wir haben im Herbst in elf EU-Ländern gefragt, welche der vergangenen fünf großen Krisen sie in der Zukunft am meisten fürchten – Covid, die Wirtschaft, den Krieg, Klimawandel oder Migration? Deutschland ist das einzige Land, in dem die Migration ganz oben steht. Ein Drittel der Deutschen sagt das. In Italien und Portugal ist es die Wirtschaft. In Polen und Estland der Krieg. Es gibt keine dominante Krise für Europa insgesamt. 

    Ist das wirklich überraschend? Die meisten Migranten kommen nach Deutschland, und Russland ist Nachbarland von Polen und den baltischen Staaten. 
    KRASTEV: Interessant sind die Folgen. Wir sehen, wenn eine Rechtspartei an der Macht ist, wie nun in Italien oder lange Zeit in Polen, dann werden die Menschen auf einmal entspannt beim Thema Migration – und das, obwohl die Zahlen weiter steigen. Beim Klimawandel ist es genau andersrum: Wenn die Grünen in eine Regierung kommen, dann wachsen die Sorgen ums Klima eher noch. 

    Das bedeutet – starke Regierungsrhetorik gegen Migranten verringert die Sorge vor Migranten?
    KRASTEV: Ja. Das reicht offenbar erst mal, um Spannungen in der Gesellschaft zu reduzieren. Und es ist ein wichtiger Grund, warum Europas Regierungen, allen voran Emmanuel Macron in Frankreich, immer weiter nach rechts rücken. Bis gestern galten bestimmte Positionen als rechtsextrem, jetzt übernehmen gemäßigte Parteien diese Haltungen. Das sehen wir überall in Europa. 

    Migranten aus Mexiko gehen zu Fuß in Richtung US-Grenze.
    Migranten aus Mexiko gehen zu Fuß in Richtung US-Grenze. Foto: Edgar H. Clemente, dpa

    Protest gegen den Klimawandel geht heute offenbar nur noch, indem man sich auf die Straße klebt. Und wer gegen die hohe Zahl an Migranten ist, will gleich alle Grenzen komplett dichtmachen. Haben wir die Kunst des Kompromisses verloren? 
    KRASTEV: Es stimmt, es gibt überraschende Gemeinsamkeiten zwischen ansonsten sehr unterschiedlichen Aktivisten. Der Schlüssel, um das zu verstehen, ist der Begriff Zukunft. Die Zukunft hilft der Politik, zusammenzufinden. Wir einigen uns heute darauf, ein Problem zu lösen, das nächste lösen wir in der Zukunft, so entstehen Kompromisse. Was die Klimabewegung und die Anti-Migrations-Rechtsparteien eint, ist, dass beide der Meinung sind, dass wir heute quasi von geborgter Zeit leben. Beide meinen, wenn bestimmte Dinge nicht jetzt sofort anders geregelt werden, dann gibt es überhaupt keine Zukunft mehr. Dann wird der Kipppunkt für das Klima erreicht sein. Dann wird sich unsere Gesellschaft demografisch unwiderruflich verändert haben. Hier das Ende der Menschheit, dort das Ende der Nation. Wenn die Zukunft wegfällt, sinkt die Bereitschaft zum Kompromiss. Das macht diese Konfrontation so gnadenlos. 

    Früher stritt man darüber, die Zukunft zu gestalten, heute fürchtet man, gar keine mehr zu haben? 
    KRASTEV: Ja, denken Sie an die tiefe ideologische Konfrontation, die wir aus dem Kalten Krieg kennen. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion waren felsenfest davon überzeugt, die Zukunft auf ihrer Seite zu haben. Das erklärt zu einem großen Teil, warum es nie zum Krieg kam. Wenn Sie glauben, dass Ihnen die Zukunft gehört, dass Sie morgen also stärker sind als ihr Gegner, warum sollten Sie heute in den Krieg ziehen? Was gewinnen Sie dann im Hier und Jetzt? Heute ist dies anders. Klimabewegte und Migrationsgegner fürchten die Zukunft. Damit steigt der Drang, die Dinge jetzt zu regeln – womöglich sogar mit Gewalt. 

    Kann man die Debatte auf den Unterschied zwischen Stadt und Land bringen? Die Städter, die sich global untereinander bestens verstehen, und die Landbevölkerung, die sich abgehängt fühlt oder es tatsächlich ist?
    KRASTEV: Seit einigen Jahren leben mehr Menschen auf der Welt in Städten, als auf dem Land. Diese Veränderung kann man gar nicht überschätzen. Die Menschen in Budapest und Bratislava sind viel näher an denen in Berlin und Barcelona, als an der Landbevölkerung im eigenen Land. Dabei geht es gar nicht so sehr um den Unterschied von Arm und Reich. Entscheidend ist die Zahl der Einwohner pro Quadratkilometer. Menschen, die in weniger stark bevölkerten Regionen leben, in Gegenden, wo junge Menschen wegziehen, die haben ganz andere Sorgen als die Städter. Da ist das Gefühl, abgehängt zu sein. Und da sind ganz reale Probleme. Die neue Klimapolitik etwa, die E-Autos – wir leben in einer sehr mobilen Welt. Und in dieser Welt gibt es gleichzeitig Leute, die weniger mobil sind als zuvor, weil der Bus nicht mehr fährt. Das hat politische Folgen. Ein gutes Beispiel ist der Brexit. 

    Wer sich abgehängt fühlt, stimmte für den Austritt aus der EU
    KRASTEV: Ja, und zwar im wörtlichen Sinne. Sie können das Brexit-Votum mithilfe der Busverbindungen erklären. Da, wo die Transportverbindungen schlecht geworden waren, wo es keinen Bus mehr gab in die Stadt, da wohnten die, die beim Referendum für den Austritt aus der EU stimmten. Die, die nicht mehr in die Stadt kamen, wollten raus aus der EU. 

    Gerade im Osten Deutschlands gibt es viel Verständnis für Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Bei unseren Nachbarn etwa in Polen oder den baltischen Ländern ist das ganz anders, sie sehen Russland viel kritischer. Sind die direkte Nachbarschaft und Bedrohung der einzige Grund für diesen Unterschied?
    KRASTEV: Die Einschätzung von Putins Handlungen hat sich verändert. Am Beginn des Krieges, da hatte der Westen Europas Angst vor einem Atomkrieg, und der Osten fürchtete russische Besatzung. Heute sind die Unterschiede innerhalb Osteuropas gewachsen. Polen, die Balten, auch die Finnen, sie fürchten die Rückkehr – nicht etwa der Sowjetunion, sondern des Russischen Reiches. Früher waren sie ein Teil davon, so wie die Ukraine –, daher können sie sich gut mit der Ukraine identifizieren. In Ungarn oder Bulgarien ist das bis zu einem gewissen Grad anders. Für sie waren Habsburg und vor allem das Osmanische Reich die imperiale Macht. Russland wird hier geschichtlich eher als Befreier gesehen. Das wirkt zu einem gewissen Grad bis heute nach. 

    Der Ukraine-Krieg dauert nun bald zwei Jahre an. Haben wir die Zähigkeit der Russen unterschätzt? Wer gibt früher auf – der Westen oder Putin? 
    KRASTEV: Da sind wir wieder beim Jahr 2024. Es kommt sehr auf die Wahl in den USA an. Putin denkt, die Zeit ist auf seiner Seite. Sie kennen den Spruch, den die Taliban den Amerikanern entgegenhielten, als sie nach dem 11. September den Krieg in Afghanistan begannen: „Ihr habt die Uhren, aber wir haben die Zeit.“ So denkt Putin auch. Die Ukraine kann ihre Verteidigung ohne den Westen nicht aufrechterhalten. Daher ist 2024 so wichtig. Und deswegen ist Europa so entscheidend. Der Krieg verändert Europa mehr, als die Menschen wahrnehmen. 

    Wladimir Putin, Präsident von Russland, hofft, dass in der Ukraine die Zeit auf seiner Seite sei.
    Wladimir Putin, Präsident von Russland, hofft, dass in der Ukraine die Zeit auf seiner Seite sei. Foto: Gavriil Grigorov, dpa

    Weil wir sehen, dass Krieg nach Europa zurückkehrt. 
    KRASTEV: Ja, wir Europäer waren der Meinung, es würde nur noch die Wirtschaft zählen und Soft Power, nicht mehr das Militär. Das führt nun zu beunruhigenden Befunden, wie etwa dem, dass wir offenbar keinen Verteidigungssektor mehr haben, der industriell arbeiten kann. Russland dagegen hat seine Wirtschaft binnen sechs Monaten auf Kriegswirtschaft umgestellt. Der zweite Befund, der lieb gewonnene europäische Überzeugungen konterkariert: Der Nationalismus lebt. Das zeigt die Ukraine. Die Menschen sind bereit, ihr Leben zu opfern für die Freiheit ihrer Nation. Nationalismus kann eine Gesellschaft mobilisieren. Das hielten wir in der EU nicht mehr für möglich. 

    Wird die US-Wahl eine Art Endspiel um die Demokratie in den USA? 
    KRASTEV: Ich weiß nicht, wie diese Wahl ausgeht. Doch unabhängig davon, wie sie ausgeht – sie wird epochale Auswirkungen auf Europa haben, so wie das Jahr 1989. Die europäische Friedenszeit seitdem beruhte auf der Sicherheit, für die die USA sorgten. Damit ist es in jedem Fall vorbei. Das Kräfteverhältnis in der Welt ändert sich. Die Machtverhältnisse sortieren sich neu. Und wir, der Westen, die USA und Europa, wir sind nicht auf der Seite der Gewinner. Und wenn jemand den Westen austesten will, probiert er das dann mit den USA aus – oder lieber mit Europa?

    In Europa und Deutschland gibt es die Debatte, ob man über Frankreich und Großbritannien hinaus eigene Atomwaffen braucht. Wie sehen Sie das? 
    KRASTEV: Die Idee von Souveränität macht das womöglich nötig. Nuklearwaffen sind heute nicht so sehr zum Schutz da, sondern auch, um Selbstvertrauen einzuflößen. Gerade für die EU wäre das sinnvoll. Es wäre das Signal, dass wir bereit sind, dieses Projekt zu verteidigen und wir an dessen Zukunft glauben. 

    Zur Person

    Ivan Krastev führt das Center for Liberal Strategies in Sofia und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, wo er den Schwerpunkt "Die Zukunft der Demokratie" leitet. Der bulgarische Politikwissenschaftler veröffentlichte eine Reihe einflussreicher Bücher und schreibt regelmäßig für die New York Times

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