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Interview: Islamkritiker Hamed Abdel-Samad: "Irgendetwas läuft schief in Deutschland"

Interview

Islamkritiker Hamed Abdel-Samad: "Irgendetwas läuft schief in Deutschland"

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    Hamed Abdel-Samad fordert gute Arbeitsbedingungen für Migranten und gleichzeitig die gleichen Pflichten, die für alle deutschen Bürgerinnen und Bürger gelten.
    Hamed Abdel-Samad fordert gute Arbeitsbedingungen für Migranten und gleichzeitig die gleichen Pflichten, die für alle deutschen Bürgerinnen und Bürger gelten. Foto: Siegfried Kerpf

    Herr Abdel-Samad, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder aus Gelsenkirchen gesehen haben, wo Hunderte Demonstranten – viele mit Migrationshintergrund – auf der Straße „Scheiß Juden“ riefen, um gegen Israels Vorgehen in Gaza zu protestieren?

    Hamed Abdel-Samad: Die erste Frage, die mir durch den Kopf ging, war: Was hat dieses Land falsch gemacht, so dass solche Menschen die Straßen besetzen und friedliche Juden sich verstecken müssen? Irgendetwas muss schiefgelaufen sein in Deutschland.

    Und auf den zweiten Blick?

    Abdel-Samad: Da habe ich an Frankreich gedacht. In den Vororten von Paris hat es auch mit Demonstrationen von wütenden jungen Migrantenkindern begonnen. Danach kamen Zerstörungen auf der Straße, Angriffe auf Synagogen, dann Terroranschläge auf Synagogen. Am Ende haben sich viele Juden entschieden, Frankreich zu verlassen und eine neue Heimat in Israel zu suchen. Wenn wir so weitermachen und weiterhin dieses Problem verharmlosen, dann wird es auch in Deutschland irgendwann dazu kommen, dass Juden diesem Land den Rücken kehren. Für Deutschland wäre das ein fataler Fehler, denn er würde bedeuten, dass es aus der Geschichte nichts gelernt hat. Die Täter müssen das Land verlassen, nicht die Opfer.

    Aber auch diese Form des Antisemitismus wird in Deutschland doch einhellig verurteilt. Judenhass werden wir nicht dulden, sagt der Bundespräsident. Macht das keinen Eindruck auf die Demonstranten?

    Abdel-Samad: Das sind Lippenbekenntnisse. Das alles geschieht ja nicht zum ersten Mal. Solche Bekundungen habe ich 2014 genauso gehört, als damals ebenfalls Demonstranten gegen Israel auf die Straße gingen und klar antisemitische Parolen riefen. Wurde ein einziger damals verhaftet und verurteilt? Nein, kein Mensch. Sie lachen über uns, weil wir viel zu lasch sind, und weil sie alles sagen und tun können und dabei genau wissen, dass es keine Konsequenzen für sie hat. Deshalb kaufe ich den Politikern diese Verurteilungen nicht ab.

    Warum, denken Sie, ist die Politik bei diesem Thema nicht konsequenter?

    Abdel-Samad: In Deutschland hat man das Problem schon damals unter den Teppich gekehrt. 2014 und 2015 begann der Aufstieg der AfD, und man hatte Angst, dass sie von diesem Thema profitiert. Wenn man aber wichtige gesellschaftliche Probleme verschweigt aus Angst, dass der rechte Rand wächst, dann wachsen am Ende der rechte Rand, der linke Rand und der islamistische Rand noch dazu. So lief es ja auch in Frankreich. Dort wollte man Migranten nicht diskriminieren und hat deshalb lange Extremismus, Kriminalität und Antisemitismus unter Migranten tabuisiert. Jetzt ist dort der Islamismus so stark wie noch nie, ebenso Marine Le Pen und ihre Partei. Schweigen ist immer der falsche Weg, um mit solchen Problemen umzugehen.

    Was müsste geschehen, damit die Israel- und Judenhasser den Eindruck bekommen, dass es Deutschland ernst meint mit dem Kampf gegen Antisemitismus? Helfen Abschiebungen?

    Abdel-Samad: Wer solche Parolen von sich gibt, muss bestraft werden. Das ist eine rechtsradikale Straftat und muss als solche geahndet werden, zum Beispiel mit Gefängnisstrafen. Dann überlegt man es sich vorher vielleicht etwas genauer. Zweitens: Kinder, die in der Schule antisemitische Parolen rufen oder jüdische Mitschüler angreifen, brauchen einen Schulverweis. Ihre Eltern müssen wissen, dass es gewisse Grenzen gibt. Tatsächlich wissen sie es nicht, sie verwechseln Glaubensfreiheit mit Narrenfreiheit. Wenn Migranten nach Deutschland kommen, sagt ihnen niemand an der Pforte, was hier richtig ist und was nicht, was man sagen kann und was nicht.

    Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Warum gibt es diese Scheu, solche Themen offen anzusprechen?

    Abdel-Samad: Wir haben in Deutschland eine vergiftete Streitkultur, so dass man immer aufpassen muss, was man sagt. Man ist sehr schnell mit dem Wort "Nazi", wenn es um einen weißen Deutschen geht. Dafür gibt es ja auch klare Indikatoren. Wenn jemand hässliche Parolen wie "Ausländer raus" ruft, sieht man gleich, das ist Rechtsradikalismus. Wenn aber die gleichen Äußerungen von Migrantenkindern kommen, sieht es anders aus. Man hat immer noch einen linksliberalen Blick auf Minderheiten. Der Migrant muss immer Opfer sein, auch wenn er Täter ist. Er schlägt seine Frau, weil er in unserer Gesellschaft selbst unterdrückt ist. Er verübt Terroranschläge, weil er marginalisiert und diskriminiert wird. So können wir miteinander nicht umgehen. Ich will gleiche Rechte für alle. Ich will, dass Migranten nicht diskriminiert werden. Ich will, dass sie eine gute Ausbildung und gute Arbeitsplätze bekommen. Aber ich verlange von ihnen auch die gleichen Pflichten. Wer antisemitisch auffällt, ist rechtsradikal, egal ob er Migrant ist oder nicht. Wir müssen alle nach den gleichen Kriterien beurteilen.

    Wie viel Antisemitismus bringen Zuwanderer denn mit nach Deutschland? Was hören junge Muslime in einem Land wie Syrien in der Schule über die deutsche Vergangenheit und den Holocaust?

    Abdel-Samad: Über die deutsche Vergangenheit habe ich in meiner Schulzeit in Ägypten nichts gelernt. Darüber redet man nicht. Der Geschichtsunterricht in der arabischen Welt ist damit beschäftigt, die Geschichte so darzustellen: Wir waren immer gut und wir waren immer Opfer. Alles, was in unserer Geschichte schlimm ist, kam von außen, zum Beispiel durch die Kreuzzüge oder den Kolonialismus. Die Gründung Israels wird deshalb nur aus einer Perspektive erzählt, nämlich: Die armen Palästinenser hatten ihr Land, bis die Invasoren aus dem Westen kamen und die palästinensischen Brüder und Schwestern vertrieben. Das Thema wird in der Schule völlig einseitig dargestellt.

    Warum wird der Konflikt um Israel auf alle Juden übertragen? Warum mischen sich in diese Erzählung so viele antisemitische Klischees?

    Abdel-Samad: In der arabischen Welt gibt es ein historisch belastetes Bild der Juden. Die islamische Geschichtsschreibung erzählt von den jüdischen Stämmen in Arabien, die Mohammed vertrieben oder massakriert hat. Ihnen werden Attribute wie "lügnerisch" oder "verräterisch" zugeschrieben. Es gibt eine Prophezeiung von Mohammed, die sagt: Der jüngste Tag wird nicht kommen, bevor die Muslime gegen die Juden kämpfen. Diese Prophezeiung macht aus einem Konflikt über Land, Abkommen und Menschenrechte einen religiösen Endkampf. Die Erlösung der Muslime tritt erst ein, wenn alle Juden vernichtet sind. Diese Prophezeiung Mohammeds findet sich nicht ohne Grund in der Charta der Hamas. Aus ihrer Sicht ist die Vernichtung Israels ein Bestandteil der Erlösung, ein Plan Gottes. Wenn man die Tischgespräche Hitlers nachliest, gab es dort ganz ähnliche Töne.

    Sind solche Vorstellungen nur in den Köpfen von wenigen Fanatikern? Oder gehören sie in der arabischen Welt zum Alltag?

    Abdel-Samad: Das ist leider gang und gäbe in den Moscheen. Hitlers "Mein Kampf" ist in der arabischen Welt ein Bestseller. Antisemitismus gehört zum Mainstream. Man kann ihm gar nicht entgehen. Der Begriff "Jude" gilt in der Bevölkerung als Schimpfwort, den Hass gegen Juden gab es schon vor der Gründung Israels. Er ist ein Bestandteil der Identitätspolitik und der Bildungspolitik. Man braucht Feinde, um sich von ihnen abzugrenzen. Man braucht Konflikte und Opferhaltungen, damit diese Identität immer aufrecht erhalten bleibt.

    Wie soll die deutsche Gesellschaft damit umgehen?

    Abdel-Samad: Man braucht Konzepte. Diese Menschen kommen mit einem ganzen Koffer voller Konflikte nach Deutschland. Da gibt es viel Fundamentalismus, Antisemitismus, Probleme im Umgang mit Frauen. Ich habe schon 2015 darauf hingewiesen und wurde dann als Rassist bezeichnet.

    Viele der antisemitischen Parolen-Rufer sind aber nicht zugewandert, sondern in Deutschland geboren und aufgewachsen. Was ist denn da schiefgelaufen? Das muss ja an unserem Bildungssystem liegen, nicht am arabischen.

    Abdel-Samad: Ja, da ist im Bildungssystem sicher etwas schiefgelaufen. Aber warum müssen wir diese Frage nicht in Bezug auf Vietnamesen oder Schüler aus Lateinamerika stellen? Auch wenn man marginalisiert wird, heißt das nicht automatisch, dass man sich radikalisiert. Das hat vielmehr mit Einfluss von außen zu tun. Viele türkisch- und arabischstämmige Menschen in Deutschland schauen Fernsehsendungen aus ihrer alten Heimat an, da gibt es reichlich Propaganda gegen Israel und den Westen. Erdogan hat mehr Einfluss auf türkischstämmige Deutsche als unser Bildungssystem. Er braucht sie als Druckmittel gegen den Westen.

    Das heißt, die Wut dieser jungen Menschen wird gezielt geschürt? Wer profitiert außer Erdogan alles davon?

    Abdel-Samad: Die Liste ist lang. Zunächst die Muslimbruderschaft, weltweit. Die Bewegung organisiert selber solche Aktionen, denn sie lebt vom Mythos des Kampfes gegen die Juden und des Befreiungskampfs für Palästina. Erdogan steht wirtschaftlich unter Druck und braucht ein Ventil für die Unzufriedenheit in der Türkei. Deshalb kanalisiert er den Unmut in Richtung Israel, aber auch in Richtung Westen, vor allem Österreich, weil die Regierung in Wien auf dem Kanzleramt als Zeichen der Solidarität die israelische Flagge gehisst hat. Niemand in Palästina profitiert von solchen Aktionen. Überhaupt nicht. Im Gegenteil, alle arabischen Länder lassen die Palästinenser im Stich. Sie missbrauchen die Palästinafrage für ihre Machtinteressen.

    Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat sich aber sofort von den antisemitischen Ausschreitungen distanziert. Halten Sie das für glaubwürdig?

    Abdel-Samad: Wie kann ich das für glaubwürdig halten? Im Zentralrat sitzen Vereine, die der Muslimbruderschaft nahestehen, und die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Wenn sich der Zentralrat distanziert, dann muss er diese Gruppen ausschließen. Das ist scheinheilig. Was den deutschen Medien erzählt wird, ist etwas anderes als das, was in den Moscheen erzählt wird.

    Zur Person: Hamed Abdel-Samad (49) ist Politikwissenschaftler und in Deutschland vor allem als Autor islamkritischer Werke bekannt. Abdel-Samad stammt aus Ägypten und emigrierte 1995 nach Deutschland. Wegen Todesdrohungen durch militante Islamisten lebt er unter ständigem Polizeischutz. Konkret: Geheimer Wohnsitz, 24 Stunden Rundumbewachung durch eine Spezialeinheit des Landeskriminalamtes Berlin. Abdel-Samad studierte Englisch, Französisch, Japanisch und Politik, unter anderem in Kairo und Augsburg, arbeitete für die Unesco in Genf, am Lehrstuhl für Islamwissenschaft der Universität Erfurt und am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur der Universität München. Er ist deutscher Staatsbürger und gehörte bis zu seinem Rücktritt 2020 der Deutschen Islamkonferenz an.

    Das aktuelle Buch von Abdel-Samad: „Schlacht der Identitäten. 20 Thesen zum Rassismus – und wie wir ihm die Macht nehmen.“ dtv, München 2021. 144 Seiten. 14 Euro.

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