Herr Heil, Sie sind der einzige Minister im neuen Kabinett, für den sich nichts verändert hat. Wie fühlen Sie sich?
Hubertus Heil: Es ist eine große Verantwortung, dieses Amt weiterführen zu dürfen. Ich freue mich, dass in dieser Fortschrittskoalition zwischen SPD, Grünen und FDP sehr viel mehr an Aufbruch für Deutschland möglich ist als in der letzten Koalition.
Wie ist die Zusammenarbeit mit den neuen Kabinettskollegen von Grünen und FDP angelaufen?
Heil: Das Klima ist außerordentlich gut. Das war schon während der Koalitionsverhandlungen so, und das setzt sich jetzt fort.
Ist das jetzt die Chance für einen Neuanfang, welche Dinge, die mit der Union nicht durchzusetzen waren, gehen Sie jetzt an?
Heil: Wir müssen jetzt Deutschland sicher durch diese schwierige Corona-Zeit führen. Gleichzeitig gilt es jetzt, die soziale, ökologische und wirtschaftliche Erneuerung dieses Landes voranzutreiben. Wir stehen vor einem erheblichen Wandel in Wirtschaft und Arbeitsgesellschaft. Ein Stichwort ist die Digitalisierung, ein anderes der Umbau der Industriegesellschaft zur Klimaneutralität.
Das zentrale Versprechen von Olaf Scholz und der SPD dazu ist die Erhöhung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro. Wann kommt die Lohnuntergrenze?
Heil: Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro wird noch in diesem Jahr kommen, das werden wir in der Gesetzgebung zügig angehen. Davon werden Millionen von Menschen in Deutschland profitieren, vor allem Menschen in Ostdeutschland und Frauen. Frauen, die häufig in systemrelevanten Berufen arbeiten und die mehr als warme Worte verdient haben. Bessere Löhne für diese Beschäftigten sind eine Frage des Respekts.
Viele Firmen klagen, dass die Erhöhung für sie eine gewaltige Belastung bedeutet. Wird der höhere Mindestlohn am Ende Arbeitsplätze kosten?
Heil: Bei der Einführung des Mindestlohns 2015 gab es auch Untergangsszenarien. Eine Prognose warnte davor, dass eine Million Arbeitsplätze vernichtet würden. Am Ende haben wir mehr Arbeitsplätze gehabt. Der Mindestlohn ist ökonomisch sinnvoll, denn er stärkt die Kaufkraft. Es profitieren Menschen, die wenig verdienen und ihr Geld nicht in Steuerparadiese schaffen, sondern in Deutschland ausgeben.
Wenn der Staat stark in den Markt eingreift, geht das nicht immer gut ...
Heil: Es geht um Leistungsgerechtigkeit und darum, dass Vollzeit arbeitende Menschen über die Runden kommen können. Tatsächlich ist der Lohnfindungsprozess eine Aufgabe der Tarifparteien, und das will ich in Zukunft stärken. Wir wollen mehr Tarifbindung, und zwar oberhalb des Mindestlohns. Deshalb werden wir als Koalition dafür sorgen, dass öffentliche Aufträge des Bundes künftig nur noch an solche Unternehmen gehen, die ihre Beschäftigte nach Tarif bezahlen. Dass der Staat Aufträge an Unternehmen vergibt, die Tarifflucht begehen, macht keinen Sinn.
Hartz-IV, eingeführt unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder, soll durch ein Bürgergeld ersetzt werden. Was ändert sich außer dem Etikett?
Heil: Es geht beim Bürgergeld um eine große Sozialreform, um eine Entbürokratisierung des Sozialstaats. Menschen, die in Not sind, sollen den Staat nicht vor der Nase haben, sondern an ihrer Seite wissen. Sie sollen sich für eine Zeit beispielsweise nicht um die Angemessenheit ihres Wohnraums sorgen müssen, sondern sich voll darauf konzentrieren, wieder aus der Arbeitslosigkeit herauszukommen. Es wird weiter Mitwirkungspflichten geben, aber keine unsinnigen oder unwürdigen Sanktionen mehr. Dieses System muss grundlegend bürgerfreundlicher werden, aber das wird etwas Zeit brauchen. Und wir setzen auf Qualifizierung, um arbeitslose Menschen langfristig in Arbeit zu bringen. Zu viele Langzeitarbeitslose haben keinen Berufsabschluss. Wer künftig einen Abschluss nachholen will, erhält einen Bonus. Weiterbildung wird in den Jobcentern den Vorrang vor der Vermittlung in perspektivlose Tätigkeiten bekommen. Zukünftig gilt Ausbildung vor Aushilfsjob.
Was hat es mit der Ausbildungsgarantie für jeden auf sich: Ab wann gilt sie? Und wie will die Bundesregierung das denn überhaupt gewährleisten?
Heil: Das ist kein einfacher Schalter, der da umgelegt wird. Es geht um ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Erstens müssen wir als Staat dafür sorgen, dass möglichst jeder junge Mensch ausbildungsfähig wird. Wir verlieren immer noch zu viele Menschen im Übergang von Schule und Beruf. Wir reden über Fachkräftemangel, haben aber jedes Jahr etwa 50.000 junge Menschen, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Viele sehen wir dann leider in der Statistik der Langzeitarbeitslosen wieder. Zweitens müssen wir dafür sorgen, dass auch Menschen eine Chance bekommen, die diesen Zugang schon verpasst haben. Wir haben 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erstausbildung. Das ist ein Riesenpotenzial, das ich lieber zu Fachkräften machen will, als es in der Grundsicherung zu haben. Das Dritte ist dann Aufgabe der Wirtschaft, die die entsprechenden Ausbildungsplätze auch zur Verfügung stellen muss. Das Handwerk ist da vorbildlich. Gleichzeitig haben sich leider manche Großkonzerne aus der Ausbildung zurückgezogen.
Tatsächlich gibt es gerade viele Stellenangebote für Paketbotinnen oder Lieferdienstfahrer, die inzwischen auch mit dem Fahrrad Lebensmittel nach Hause bringen. Aus dieser Branche wird häufig von niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und anderen Missständen berichtet. Entsteht da ein Heer von Arbeitenden ohne echte Perspektive?
Heil: Es ist eben bequem, im Internet einzukaufen oder Essen zu bestellen. Das ist ja eigentlich sehr positiv, das bietet auch Chancen auf neue Jobs und Geschäftsmodelle. Was ich allerdings nicht zulassen werde, ist, dass Digitalisierung mit Ausbeutung verwechselt wird. Alle Beschäftigten haben Rechte! Und da geht es oft darum, bestehendes Recht effektiv umzusetzen. Die Beschäftigten von Lieferdiensten haben heute schon das Recht, Betriebsräte zu gründen. In der Realität aber sehen wir immer wieder, dass Menschen drangsaliert werden, die Betriebsräte gründen wollen. Deshalb werde ich dafür sorgen, dass diejenigen, die die Gründung von Betriebsräten behindern, es demnächst mit dem Staatsanwalt zu tun bekommen. Da werden wir die Rechtsdurchsetzung anschärfen.
Was bedeutet das?
Heil: In der Realität findet eine strafrechtliche Verfolgung kaum statt. Viele trauen sich aus Angst um den Job nicht, die Behinderung einer Betriebsratsgründung zur Anzeige zu bringen. Künftig wird es deshalb schon ausreichen, dass eine Strafverfolgungsbehörde Kenntnis von einem solchen Vorgang hat. Sie muss dann Ermittlungen aufnehmen. Das Gesetz werden wir entsprechend ändern.
Niedrige Löhne und Schwarzarbeit gibt es häufig auch im häuslichen Bereich. Familien mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sollen nun Gutscheine für Putzdienste oder ähnliche Dienstleistungen bekommen. Was bezwecken Sie damit?
Heil: Auch Normalverdiener sollen sich Alltagshelfer leisten können, und zwar legal. Heute können sich das in der Realität oft nur Menschen mit hohem Einkommen legal leisten. Daneben gibt es viel Schwarzarbeit, und die wollen wir beenden. Ab dem kommenden Jahr soll es einen Zuschuss geben, zunächst für Familien mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Für eine Haushaltshilfe können dann bis zu 40 Prozent der Kosten, höchstens 2000 Euro im Jahr, erstattet werden. Wir wollen damit Schwarzarbeit beenden und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schaffen.
Werden diesen Zuschuss auch sehr wohlhabende Menschen bekommen? Die können sich ja ohnehin eine Haushaltshilfe leisten.
Heil: Die bisher bestehenden steuerlichen Entlastungen für Haushaltshilfen, von denen wohlhabende Menschen mehr profitieren, sollen mit den Zuschüssen gegengerechnet werden.
Das Rentensystem bleibt durch die Alterung der Gesellschaft eine Dauerbaustelle. Welche neuen Ansätze hat die Ampel?
Heil: Wir werden die Weichen stellen, dass die Rente in den kommenden 20, 30 Jahren verlässlich bleibt. Deshalb sichern wir das Rentenniveau dauerhaft, was vor allem den Jüngeren und den jetzt Beschäftigten zugutekommt. Um die Rente dauerhaft zu stabilisieren, bauen wir einen Kapitalstock auf, dessen Erträge zukünftig in die Rentenfinanzierung fließen. Dafür nehmen wir zunächst zehn Milliarden in die Hand. Aber die wesentliche Aufgabe zur Stabilisierung liegt nicht im Rentenrecht, sondern im Arbeitsmarkt. Ein starker Arbeitsmarkt mit vielen Beschäftigten, die gut bezahlt werden, hält die Rente stabil.
Planen Sie dafür die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in die gesetzliche Rente?
Heil: Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, dass in dieser Legislatur eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige eingeführt wird, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen.
An die Beamtenschaft wollen Sie nicht ran?
Heil: Ich finde die Idee nachvollziehbar, das ist aber nicht im Koalitionsvertrag vereinbart.
Die Omikron-Variante des Coronavirus verursacht neue Herausforderungen. Sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute genügend vor einer Ansteckung an ihrem Arbeitsplatz geschützt?
Heil: Wir haben insbesondere im Bereich der Arbeitswelt viele Schutzmaßnahmen entwickelt. Mobiles Arbeiten und Homeoffice muss gerade jetzt angeboten und wahrgenommen werden, wo immer es geht. Das reduziert soziale Kontakte und damit das Ansteckungsrisiko. Für diejenigen, die im Betrieb arbeiten müssen, gibt es wirksame Hygieneregeln, die beachtet werden müssen. Und ich erwarte die Einhaltung der 3G-Regel am Arbeitsplatz.
Reicht das noch aus?
Heil: Wenn wir die Pandemie überwinden und uns auch vor weiteren Wellen schützen wollen, dann müssen wir impfen und boostern, wo es geht. Das ist die einzige Möglichkeit, damit wir als Gesellschaft durch diese Krise kommen. Deshalb bin ich auch für eine allgemeine Impfpflicht.
Viele Beschäftigte sorgen sich, dass die Kurzarbeitsregelung nur noch bis März läuft. Ist eine Verlängerung geplant?
Heil: Die Kurzarbeit hat sich in dieser Pandemie als tragfähige Brücke erwiesen, die befürchtete Massenarbeitslosigkeit ist ausgeblieben. Wir werden deshalb die Lage genau beobachten, sowohl was die Pandemie als auch die Wirtschaft betrifft, um dann entsprechend zu handeln.
Zur Person: Hubertus Heil, 49, stammt aus Hildesheim. Er studierte Politik und Soziologie in Potsdam und Hagen. Er trat mit 16 in die SPD ein, sitzt seit 1998 im Bundestag und übernahm im März 2018 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.